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VORWÄRTS/759: NoBorder-Camp in Bulgarien


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.33/34 vom 23. September 2011

NoBorder-Camp in Bulgarien

Von Marc Speer


Bulgarien steht vor dem Schengenbeitritt und rüstet auf. High tech und hübsche Knäste sollen bei der Bekämpfung von MigrantInnen eingesetzt werden. Dem steht das NoBorder-Camp der Antira-Bewegung entgegen.


Vom 25. bis 29. August traf sich die europäische Antira-Bewegung in der Nähe des kleinen Dorfs Siva Reka in Bulgarien zum NoBorder-Camp. Etwa 300 AktivistInnen aus verschiedensten Ländern richteten ihren Fokus damit auf eine Region, die durch ihre geographische Lage im Dreiländereck Bulgarien, Türkei und Griechenland und dem geplanten Schengenbeitritt Bulgariens auch für die europäischen MigrationsstrategInnen von zunehmendem Interesse ist.


Das "Risiko" Schengen

Zwar wurde der eigentlich für März diesen Jahres vorgesehene Schengenbeitritt Bulgariens und Rumäniens, insbesondere auf Druck Deutschlands und Frankreichs, zunächst verschoben. Die Planungen zur Sicherung der auf absehbare Zeit neu entstehenden Schengenaussengrenze laufen dennoch auf Hochtouren und zogen bereits erste Resultate nach sich: So etwa die Aufrüstung von Teilen der Grenze zur Türkei mit Infrarot-Kameras sowie die Ausstattung der Grenzübergänge mit CO2- beziehungsweise Herzschlag-Detektoren, um in LKWs versteckte MigrantInnen aufspüren zu können. Nicht ohne Stolz verkündete Emil Gochev, ein leitender bulgarischer Grenzoffizier, in einem Interview: "Wir sind bereit für Schengen. Wir haben mehr technische Ausrüstung als unsere griechischen Kollegen" (globalpost vom 16. Juli 2011). Allerdings beschränkt sich Europas Grenzsicherungsstrategie keineswegs nur auf die Ausstattung mit technischem Equipment. Vielmehr beinhaltet das sogenannte "border management" noch eine Reihe weiterer Massnahmen. Zu nennen sind hier vor allem die Errichtung von "detention centres" für aufgegriffene MigrantInnen - offiziell euphemistisch als "accomodation centres" bezeichnet - sowie Evaluationsprojekte, die dem Zweck dienen, kommende Entwicklungen bezüglich migrantischer Transitrouten vorhersagen zu können. Dass dies eine höchst spekulative Angelegenheit ist, wird dabei offen zugegeben. So äusserte sich Michal Parzyszek, Pressesprecher von Frontex, folgendermassen: "Das ist ein wenig wie der Blick in die Kristallkugel, aber natürlich sehen unsere Experten jede Erweiterung des Schengenraums als ein Risiko" (www.thebulgariannews.com vom 27. Mai 2011). Frontex hat gegenwärtig ExpertInnen aus Belgien, Holland, Rumänien, Österreich und Deutschland nach Bulgarien entsandt, um die zukünftigen Entwicklungen im Auge zu behalten und Kontakte zu den lokalen "borderguards" zu knüpfen. Man möchte wohl zumindest einigermassen vorbereitet sein auf das, was vielleicht kommen könnte.


Eingesperrt ohne Verurteilung

Die Aktivitäten der EU beschränken sich allerdings nicht nur auf die Entsendung von ExpertInnen und die Bereitstellung technischer Mittel, sondern finden auch in architektonischer Hinsicht bereits ihren Ausdruck. Im März diesen Jahres wurde - weitestgehend finanziert durch EU-Mittel - ein "detention centre" in Lyubimets, einer Kleinstadt in direkter Grenznähe eröffnet, welches auch Ziel von Aktivitäten des NoBorder-Camps wurde: Mittels einer Kundgebung vor den Knastmauern wurde versucht, den inhaftierten MigrantInnen zumindest für einige Stunden ein Gefühl von Empathie zu vermitteln. Dies gelang nach anfänglicher Skepsis von Seiten der Inhaftieren auch, nachdem klar wurde, dass der bunte Haufen, der sich dort inmitten der bulgarischen Peripherie einfand, keineswegs in böser Absicht gekommen war und mittels mitgebrachter Transparente, gegenseitigem Winken und Rufen wie "Azadi" (Fasi für Freiheit) eine gemeinsame Kommunikationsebene gefunden werden konnte. Zuvor war bereits eine kleine Delegation des Camps in Lyubimets (darunter der Autor), die vom Direktor durch das Lager geführt wurde. Anzumerken ist hier, dass die ganze Führung den Charakter einer PR-Show hatte und dass bereits im Vorfeld untersagt wurde, das direkte Gespräch mit Inhaftierten zu suchen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass unser Eindruck des Lagers der einer frisch renovierten Jugendherberge war: So zeigte uns der Direktor stolz die beiden Fernsehräume (einer davon ausschliesslich für Kinder), die (spärlich bestückte) Bücherei, die beiden Sportplätze und so weiter und betonte wiederholt, dass es sich hier weniger um Inhaftierung als vielmehr um Unterbringung handle und zwar unter Standards, die weit über jenen der bulgarischen Nachbarschaft lägen. Eine Aussage, die sicherlich nicht ganz aus er Luft gegriffen ist, insbesondere im Vergleich mit dem direkt daneben gelegenen Roma-Slum. Problematisch sind also weniger die Haftbedingungen, sondern vielmehr der Akt der Freiheitsentziehung an sich, als Konsequenz von nicht mehr als einem informellen Grenzübertritt. Daran ändert auch das Vorbringen eines Asylgesuchs nichts. Nicht einmal richterliche Beschlüsse liegen der Haft zugrunde, was einen klaren Verstoss gegen internationales Recht - etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention - darstellt. Dies dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass der Direktor während der Führung vehement darauf hinwies, dass es sich hier um "Unterbringung" handele. Denn wo keine Inhaftierung vorliegt, kann diese in der Logik der bulgarischen Behörden natürlich auch nicht rechtswidrig sein. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs waren in dem Lager, das über eine Gesamtkapazität von knapp über 300 Leuten verfügt, lediglich 33 MigrantInnen inhaftiert, darunter vier Frauen. Im Regelfall beträgt die Haftdauer bis zu sechs Monaten, kann allerdings unter gewissen Umständen, die der Direktor nicht genauer benennen konnte oder wollte, auf bis zu 18 Monate erweitert werden. Danach werden die Inhaftierten entweder entlassen und, wenn sie Glück haben, einem der "open centres" für Asylsuchende (die bei weitem nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen) zugeteilt, reisen "freiwillig" aus oder werden direkt abgeschoben.


Behördliche Alarmstimmung

Neben der Aktion vor dem "detention centre" veranstaltete das NoBorder-Camp noch eine Demonstration in der kleinen Stadt Svilengrad, besuchte dort die örtliche Polizeistation und legte im Gedenken an die Toten, die bei dem Versuch nach Europa zu gelangen, im Grenzfluss Evros ertranken, mehrere Paar Schuhe nieder und entzündete einige Teelichter. Dass die Verhältnisse in Bulgarien, trotz EU-Mitgliedschaft, nicht mit jenen zu vergleichen sind, die die meisten der AktivistInnen aus ihren Heimatländern kennen, wurde spätestens bei der Zeitungsleküre am nächsten Morgen deutlich. So beschrieb eine grosse, bulgarien weite Zeitung diese absolut friedliche Aktion so, dass Anarchisten aus ganz Europa versucht hätten, Polizeiautos mit Teelichtern in Brand zu stecken und wusste zudem zu berichten, dass auf dem Camp hunderte Nackte herumlaufen, die den ganzen Tag Heroin und Marihuana konsumieren. Eine Beschreibung, die die Realität nicht nur verbog, sondern gänzlich neu erfand. Auch die bulgarischen Behörden waren wegen des Camps in grösster Alarmstimmung, und so schien es, als habe sich die halbe bulgarische Polizei versammelt. Selbst Wasserwerfer wurden in Bereitschaft gehalten. Eine Reaktion, die angesichts der von den bulgarischen AktivistInnen strikt eingeforderten nicht-konfrontativen Aktionsformen mehr als übertrieben erschien. Diese sorgten natürlich auch für andauernde Diskussionen auf den allabendlichen Camp-Plena. Dabei fanden sich die bulgarischen OrganisatorInnen des Camps in der unangenehmen Rolle wieder, eine Position vertreten zu müssen, die sie zwar persönlich als problematisch empfanden, sich allerdings dazu gezwungen sahen, diese wegen der absolut unkalkulierbaren Situation in Bulgarien vertreten zu müssen. Denn Derartiges hatte es so bisher in Bulgarien noch nicht gegeben und im Hinblick auf den anvisierten Schengenbeitritt sind die bulgarischen Behörden in größter Alarmstimmung bei allem, was ihre Kompetenzen bezüglich ihrer Fähigkeiten zur Grenzsicherung öffentlich in Frage stellen könnte.


Erfolg und Perspektiven

Trotz gewisser Differenzen, nicht nur bezüglich der Militanzfrage, muss dass NoBorder-Camp alles in allem als grosser Erfolg gewertet werden. Denn erstmals gelang es, nicht nur auf bereits existierende Situationen hinsichtlich massenhafter informeller bordercrossings zu reagieren, sondern bereits im Vorfeld wahrscheinlich Kommendes nicht nur diskursiv zu beschreiben und zu kritisieren, sondern auch physische Präsenz zu zeigen. Ob das Noßorder-Camp dazu beigetragen hat, die minimale bulgarische Antira-Szene dauerhaft zu stärken, bleibt abzuwarten. Der Grundstein ist sicherlich gelegt und sei es durch den Austausch hunderter E-Mail-Adressen während des Camps, die die zwingend nötige Transnationalisierung im Antira-Bereich zweifelsohne erheblich vorangebracht hat. Weiterhin stellt sich natürlich die Frage, wie mit der Entwicklung umzugehen ist, wenn dentention centres am Rande Europas keine Dreckslöcher mehr sind, was natürlich auch bedeutet, dass visuelle Skandalisierung weit schwieriger wird. Hier wird es zukünftig zunehmend nötig sein, neue Argumente und Strategien der Kritik zu finden.

Marc Speer ist Mitglied des Bordermonitoring.Eu-Vereins


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 33/34/2011 - 67. Jahrgang - 23. September 2011, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2011