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VORWÄRTS/760: "Die Ketten sprengen!"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 7. Oktober 2011

"Die Ketten sprengen!"

Von Johannes Supe


Am 28. und 29. September fand im Bundesstrafgericht Bellinzona der Prozess gegen Andrea Stauffacher statt. Der vorwärts war anwesend und hat die politische Verfolgung von Andi im Gerichtssaal miterlebt.


Diesmal sollte es Andi treffen. Wegen Waffenbesitzes, Sprengstoffanschlägen, Sachbeschädigung, wegen Brandstiftung und dem Verstecken von Sprengstoff wird Andrea Stauffacher am Bundesgericht angeklagt. Gleich fünf "Anschläge" wurden ihr zur Last gelegt. "Anschläge" auf das Staatssekretariat für Wirtschaft, auf das Spanische Konsulat, auf die Neue Börse in Zürich, gegen den Wagen eines Herrn Salzmann, Vertreter der Überwachung und Repression. Angriffe also, die erstens einen klar politischen Charakter tragen, die nicht irgendwelche wahllosen Ziele haben, sondern die sich klar gegen Staat und kapitalistische Ordnung richteten. Zweitens waren es Angriffe, die niemanden ernsthaft gefährden konnten, weil sie mit handelsüblichen Silvesterraketen durchgeführt wurden; die, ergo, mehr einen symbolischen, denn einen wirklich zerstörerischen Charakter haben. Was da in Bellinzona verhandelt wurde, waren politische Akte, Ausdrücke politischen Widerstands. Und sie wurden nicht neutral, nicht unter dem Diktum "reiner Objektivität" verhandelt, sondern von einer politisch motivierten Bundesstaatsanwaltschaft vorgebracht.


Ein politischer Prozess

"Das ist kein politischer Prozess", so zu hören vom Bundesstaatsanwalt Stadler. Zu glauben ist das nicht. Da steht der Anwaltschaft etwa das Material von Jahren, von dutzenden Abhörungen und Observationen zur Verfügung. Ein Material, über das sie beliebig waltet, von dem sie der Verteidigung nur das herausgibt, was ihr selbst nützlich erscheint. Der Rest, das möglicherweise Entlastende, wird nicht freigegeben. Interessant auch, wie die Staatsanwaltschaft illegal an DNA von Andi gekommen ist, die eigentlich längst hätte zerstört sein müssen und die nur durch Kooperation eines Gerichts, das sich früher mit Andi befasste, erhältlich war. Dieses Verschwimmen von Grenzen und die Aufweichung der Zuständigkeit (etwa auch, dass die Bundesanwaltschaft Fälle an sich zog, die in der Jurisdiktion des Kantons Zürich lagen) zeigen recht eindeutig, wie man nicht einfach gegen eine "Verdächtige" ermittelte, für die die Unschuldsvermutung gilt, sondern gegen eine politische Feindin.

Dann im Gerichtssaal. "Das ist kein politischer Prozess", danach ein viertelstündiges Referat über Motivation und Ziel des Aufbaus, die Bemerkung, dass die Frau Stauffacher sich doch als "moderne Marxistin" sähe. Dazu weite Auszüge aus Bekennerschreiben und das immer unterstellte Motiv der Solidarität und des Klassenkampfes als Auslöser für die Anschläge. Das spricht Bände, das spricht den einen Satz: "Das ist ein politischer Prozess".


Politische Beweise

Versucht wurde, jede Kleinigkeit in die "geschlossene Indizienkette" einzufügen. So wurde es zum Indiz für Andis Beteiligung an den Anschlägen, dass sie am Tag nach einem Anschlag (!) zur Haft in Zürich erscheinen musste - also sei sie offenbar zur Tatzeit in der Nacht zuvor (!!) in der Gegend um Zürich gewesen. Aus Mangel an wirklichen Beweisen - denn es gibt nur in einem Fall eine einigermassen haltbare DNA-Spur - bastelte Bundesanwalt Stadler kleine Kunstwerke.

Einige Notizen über Herrn Salzmann deuten so auf die "Racheabsichten" von Andi hin. Vergessen wird, dass sich im Aufbau-Archiv ihres Hauses mehrere Tausend solcher Zettel und Notizen befinden. Wer so bemüht sucht, der macht auch Fehler. So ist es dem Staatsanwalt etwa unterlaufen, Andi für den Besitz von Sprengstoff anzuklagen. Jedoch ist der "Sprengstoff" - eine Silvesterrakete - allein nach EU-Recht überhaupt als solcher klassifiziert. In der Schweiz ist die besagte Rakete für jede Person über 18 Jahren im Handel frei erhältlich.

Man kann diese "Beweisführung" nicht besser zusammenfassen, als Marcel Bosonnet es getan hat. Der Verteidiger von Andi führte aus, dass die "Indizienkette nur mit Einbeziehung der Gesinnung" geschlossen sei, und "dann sind wir da, wo doch die Staatsanwaltschaft auch nicht hin will: bei der Gesinnungsjustiz, beim politischen Prozess". Der Unterschied: Die Verteidigung fordert den Freispruch. Die Staatsanwaltschaft will Andi für viereinhalb Jahre ins Gefängnis stecken lassen.


Politische Ziele

Im Gerichtssaal gab es zweierlei politische Absichten. Die Absicht des Staatsanwaltes wurde von ihm selbst klar benannt. "Generalprävention". Herr Stadler hat es sich nicht nehmen lassen, einen Ausdruck der RJZ-Seite ins Gericht mitzubringen, um darauf hinzuweisen, dass der Aufbau offenbar ein Jugendplenum unterhalte. Deshalb sei Andi mit harter Strafe zu belegen, damit Anhänger des RJZ abgeschreckt würden. Deutlicher hätte Stadler seine politische Agenda, seine Zielsetzung für den ganzen Prozess, gar nicht ausdrücken können. Doch es gab auch die Solidarität. Die Solidarität von mehr als fünfzig Genossinnen und Genossen, die nach Bellinzona reisten, um für und mit Andi zu kämpfen. Eine Solidarität, die weder vor den Türen eines morschen Gerichts Halt macht, noch vor der "abschreckenden Wirkung" einer Klassenjustiz. Mit Fahnen und mit Anwesenheit, mit Reden und mit Rufen, mit dutzenden von Transpis wurde da gezeigt, auf wessen Seite man steht. Es ist schon bewundernswert, dass da jüngere und ältere Menschen, nicht nur aus RJZ und Aufbau, aus der ganzen Schweiz gekommen sind; bewundernswert, dass Leute um 9.00 Uhr morgens sich aufmachten, um ihre Solidarität zu bekunden. Bewundernswert, dass es Solidaritätserklärungen aus Belgien, Griechenland und Deutschland gab. Und es ist ein deutliches Zeichen, wenn das gesammelte Publikum dem Gericht die Ehrerweisung verweigert, sich aber freiwillig bei der Erklärung von Andi erhebt, applaudiert, skandiert.


Politische Antwort

Auf den politischen Prozess braucht es eine politische Antwort. Diese ist von Andi: "(...) Die Legitimität der Auseinandersetzungen mit dem kapitalistischen Staat, ob in Zürich, London oder Athen, steht für uns ausser Frage. Es geht um die Perspektive des revolutionären Prozesses - jetzt und morgen, konkret! Es geht darum, in einem konkreten Prozess das objektiv Notwendige mit dem subjektiv Möglichen zu verbinden; sich auf eine Widerspruchsfront raus zu wagen, auf der nicht alle Fragen eine Antwort finden, nicht immer Lösungen für sich stellende Probleme griffbereit sind, wo Fehler tatsächlich Teil des Aufbauprozesses sind; wo experimentiert und erkämpft wird. Hier, jetzt und konkret - zusammen mit anderen revolutionären Kräften weltweit. Und dieser langdauernde Kampf für einen revolutionären Prozess kann auch durch die bürgerlichen Gerichtssäle und Gefängnisse führen, die eben auch unausweichlich Passagen für Militante darstellen können, die sich entschlossen und bewusst in diesem weltweit stattfindenden Kampf entwickeln! (...) [Kämpfende AnarchistInnen und KommunistInnen sind vereint in der grundsätzlichen Haltung, dass kein bürgerliches Gericht die Legitimität zugesprochen bekommt, diesen Kampf zu beurteilen, geschweige denn zu verurteilen! (...) 'Diejenigen, die sich nicht bewegen, bemerken nicht ihre Ketten.' Und ich füge hinzu: Diejenigen, die ihre Ketten bemerkt haben, werden Wege finden, sie zu sprengen!"

Die vollständige Prozesserklärung von Andi findet sich auf www.vorwärts.ch.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36 2011 - 67. Jahrgang - 7. Oktober 2011, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2011