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VORWÄRTS/866: Soziale Kämpfe im autoritären Kasachstan


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40 vom 26. Oktober 2012

Soziale Kämpfe im autoritären Kasachstan

von David Hunziker



Kasachstan hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem wichtigen Öl-Imperium entwickelt. Doch vor knapp einem Jahr brachen die grössten Streiks und Proteste in seiner Geschichte aus. Sie sind möglicherweise ein Anzeichen dafür, dass das autoritär-kleptokratische System von der Bevölkerung zunehmend in Frage gestellt wird.


Kindergeschrei erfüllt den gläsernen Lift, der leise und zügig vom Boden in die Höhe schiesst. Die kleinen Passagiere können es kaum erwarten, die fast hundert Meter hohe Aussichtsplattform des Bajterek-Turms zu erreichen. Oben angekommen, werden sie eine letzte Wendeltreppe hinaufsteigen, ihre Händchen in den in Gold eingeprägten riesigen Handabdruck des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew legen, in die Kamera lächeln und sich im Stillen etwas wünschen. Sie sind im Herzen Kasachstans angelangt.

Das seltsame Wahrzeichen, das vom britischen Stararchitekten Norman Foster entworfen wurde, bildet den Mittelpunkt der 1997 zur Hauptstadt erkorenen Retortenstadt Astana. Der nach oben ausfransende Kranz weisser Stahlträger, in deren Mitte eine goldene Kugel platziert ist, symbolisiert den Gründungsmythos Kasachstans, wonach der Vogel Samruk ein Ei in einer Baumkrone gelegt hat, in dem die Wünsche und Glücksvorstellungen der KasachInnen lagern sollen. Ein passendes Wahrzeichen für eine Stadt, in der nach offizieller Staatsideologie alles möglich sein soll.


Astana - von der Wüste zum Öl-Imperium

Am Fusse des Turms erstreckt sich in einer mit symmetrischen Gärten verzierten Kreuzstruktur das neue Regierungsviertel von Astana. Ein Blick auf die riesigen Glasfassaden verrät sofort, warum diese Stadt auch "Dubai von Zentralasien" genannt wird. Wegen der unerträglichen Hitze und beissenden Winden sind die riesigen Boulevards tagsüber gespenstisch leer. Nur manchmal fährt ein Tanklastwagen vorbei, der Bäume und Wiesen mit Wasser bespritzt. Sie erinnern daran, dass hier Anfang der Neunzigerjahre noch eine Wüste war.

Nach kurzem Spaziergang gelangt man zum imposanten Hauptsitz des staatlichen Öl-Konzerns "KazMunayGas", der 2002 auf Geheiss des Präsidenten aus verschiedenen kleineren Öl- und Gasfirmen entstanden ist. Die riesigen Rohstoffbestände bescheren der kasachischen Wirtschaft nach der Weltwirtschaftskrise bereits wieder Wachstumsraten von über 7 Prozent. Vor der Krise betrug das Wachstum jeweils mehr als 9 Prozent. Kasachstan hat sich seit 2010 auf den ersten Platz bei der Uranförderung gehievt. Auch reichlich Edelmetalle und Gas sind vorhanden. Entscheidend für die kasachische Wirtschaft ist aber das Öl, das über die Hälfte des Exportvolumens ausmacht.

Die grossen kasachischen Ölreserven lagern im Kaspischen Meer. Eben wurde dort das "Kaschagan"-Ölfeld entdeckt, der weltweit grösste Ölfund seit den Siebzigerjahren. So ist es nicht erstaunlich, dass die Regierung auch auf politischem Weg versucht, den Anteil seines staatlichen Ölkonzerns gegenüber der ausländischen Konkurrenz auszubauen. Der italienische Ölkonzern "Eni" musste die Förderung wegen angeblicher Verstösse gegen Umweltauflagen einstellen. Erklärtes Ziel der Regierung ist, den eigenen Förderanteil von heute 8 auf 40 Prozent zu erhöhen.


Ein geschicktes kleptokratisches System

Gleichzeitig schafft die Regierung günstige Bedingungen für ausländische Investoren - die USA besetzen den grössten Anteil. Die Investitionen steigen weiter rasant an, der grösste Teil fliesst in die Öl- und Gasindustrie. Der Anstieg der Investitionen wird im von der Regierung veröffentlichten Papier "Kazakhstan 2030" ausdrücklich gefordert. Das Papier ist mit klugen Sprüchen von Vergil bis Shakespeare ausgeschmückt. Aber auch David Bowie kommt zu Wort: "Selbstvertrauen ist Macht" findet man auch in Kasachstan.

Hinter all der Komik, die der offizielle Auftritt der kasachischen Regierung ausstrahlt, steckt jedoch die knallharte Strategie eines geschickten kleptokratischen Systems. Laut einer Berechnung des russischen Magazins "The Times" haben sich Nasarbajew und sein Clan bereits ein Vermögen von sieben Milliarden Dollar erwirtschaftet. Die wichtigsten Posten in Wirtschaft und Politik vergibt der Präsident nur an Vertraute oder Verwandte. Seine Tochter Dariga Nasarbajewa etwa kontrolliert sämtliche Medien des Landes.

Nasarbajewas Ex-Mann Rakhat Aliyev, ehemaliger kasachischer Vizeaussenminister und ehemaliger Botschafter in Österreich, musste eindrücklich erfahren, was es heisst, aus dem Nasarbajew-Clan verstossen zu werden. Aus umstrittenen Gründen liess der Präsident Aliyevs Ehe mit seiner Tochter scheiden, ihn von seinem Amt suspendieren und unter anderem wegen Planung eines Staatsstreichs in Abwesenheit zu 20 Jahren Gefängnis verurteilen. Österreich verweigert aber die Auslieferung.


Polizei schiesst auf Protestierende

Nasarbajew hat bereits seit Ende der Sowjet-Zeit die Zügel in der Hand und seine Macht seither bewahrt und ausgebaut. Er und seine Familie geniessen mittlerweile juristische Immunität bis ans Lebensende. Für den "Führer der Nation", wie er seit zwei Jahren auf offiziellen Beschluss des Parlaments genannt wird, ist die vom Realsozialismus geprägte Ästhetik der ehemaligen Hauptstadt Almaty nicht mehr gut genug. Den realen Machtverhältnissen entsprechend ist der neue Präsidentenpalast grösser als die Gebäude der beiden Parlamentskammern zusammen. Stilistisch mischt er westlichen Klassizismus mit asiatisch-islamischen Elementen.

Der listige Bewohner des Bauwerks hat sich in den über zwanzig Jahren seiner Herrschaft trotz diktatorischer Kompetenzen stets um den Hauch einer demokratischen Aura bemüht. Zuletzt hatte auch der Arabische Frühling einen Einfluss auf das Regierungsverhalten: Statt dem Volk eine Amtszeitverlängerung bis 2020 vorzulegen, wurde dieses Vorhaben vom Verfassungsrat als undemokratisch abgelehnt. Stattdessen wurden im April 2011 vorgezogene Präsidentschaftswahlen durchgeführt, die Nasarbajew mit 95,5 Prozent gewann. Kein ganzes Jahr später, im Januar dieses Jahres, wurde schon wieder gewählt. Dieses mal hatte der Präsident auf die heftigsten Streiks und Proteste in der Geschichte des Landes zu reagieren. Bei den Wahlen gewährte er so genannten oppositionellen Parteien sogar 14 Sitze. Seine Partei "Nur Otan" (Licht des Vaterlandes) herrscht faktisch weiter als Einheitspartei.

Doch diese "Zugeständnisse" sind mehr als bloss routinierte Taktik. Die heftige Reaktion auf die Arbeitskämpfe der Öl-ArbeiterInnen in der westkasachischen Stadt Schangaösen, die bereits messbaren ökonomischen Schaden angerichtet haben, zeugen von der Nervosität des Regimes. Nach einem siebenmonatigen Protest, der trotz der willkürlichen Entlassung von 2500 ArbeiterInnen und enormem Druck der Behörden friedlich blieb, richtete die Polizei am 16. Dezember 2011, dem kasachischen Unabhängigkeitstag, ein Blutbad an: Laut der oppositionellen Plattform "Campaignkazakhstan" wurden bis zu 200 Menschen ermordet und hunderte weitere verletzt. Zahlreiche ExponentInnen der Proteste wurden verhaftet, es wird von Folterungen berichtet.


Soziale Ursachen der Proteste

Die Regierung nutzte den Nationalfeiertag als Vorwand, um auf dem besetzten Platz eine Feier zu veranstalten. Die Protestierenden wurden von der Regierung in der Folge als Hooligans bezeichnet, die die Feier gestört hätten. Interessanterweise hatten die Protestierenden laut der "New York Times" neben Lohnforderungen kurz zuvor begonnen, politische Forderungen zu stellen, unter anderem das Recht, unabhängige Parteien zu gründen.

In "Le Monde Diplomatique" wird der schwedische Ökonom Anders Aslund als Experte für die Region zitiert. Sein Statement zu den Streiks ist im Lichte seiner neoliberalen Einstellung umso interessanter: "Ich halte das für einen Klassenkonflikt. Obwohl Kasachstan ein reiches Land ist, sterben hier 29 von 1000 Kindern, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. Kasachstan bleibt damit auf dem Niveau seiner wesentlich ärmeren Nachbarländer Kirgistan und Usbekistan." Sogar in einer Befragung eines staatlichen Instituts im Jahr 2009 in der Region gaben fast die Hälfte der Befragten an, nicht genug Geld für Grundgüter zu haben.

Massenhafte Proteste aufgrund der Armut sind dagegen nicht zu erwarten, denn weiten Teilen der kasachischen Bevölkerung geht es, verglichen mit benachbarten Staaten, nicht schlecht. Die Löhne steigen konstant an, die Arbeitslosigkeit ist tief, und die Armut ging sogar leicht zurück. Auch sind Nachbarn wie Usbekistan und Turkmenistan deutlich totalitärer geführt und von der Aussenwelt völlig abgeschottet. Gegenüber den ländlichen Gebieten, wo deutlich mehr Armut herrscht, ist der Lebensstandard in den Städten gestiegen.


Mord an führendem Sozialisten

Werden die politischen oder sozialen Verhältnisse kritisiert, kennt das Regime jedoch keine Gnade. Der Fall von Takhir Narimanovich Mukhamedzyanov, dem Anführer der "Socialist Resistance of Kazakhstan", die auch die Plattform "Campaignkazakhstan" betreibt, ist besonders krass: Nach einem Anschlag auf sein Haus, dubiosen Verhaftungen und mehreren Drohungen wurde der Aktivist und Gewerkschaftsführer im vergangenen Juni ermordet.

Doch der Widerstand zeigt auch Erfolg. Auf internationalen Druck zahlreicher Organisationen wurden der Menschenrechtsaktivist Vadim Kuramshin und die an den Protesten in Schangaösen beteiligte Anwältin und Gewerkschafterin Natalia Sokolowa aus der Haft entlassen. Ausserdem sollen sich Arbeitskämpfe in letzter Zeit gehäuft haben, wie der britische "Telegraph" meldet. Erfolgreich war etwa ein Kampf von 300 ArbeiterInnen in den Minen von Annensky.

Ohne diese Proteste ändert sich in Kasachstan nichts, denn das Regime wird wegen der grossen Rohstoffvorkommen vom globalen Politestablishment bereitwillig unterstützt. Beste Beziehungen bestehen zu Russland und China, und auch in Europa ist Nasarbajew ein gern gesehener Staatsgast. Der ehemalige britische Premier Tony Blair schnappte sich gar einen Job als persönlichem Berater Nasarbajews, für den er bereits 13 Millionen Dollar kassiert hat. Seine Antwort auf einen Artikel in England, der dies offenlegte, bringt die Sache auf den Punkt: "Nasarbajew war immer ein guter Verbündeter des Westens und entscheidend für den Einsatz in Afghanistan. Wir arbeiten nun an einem Programm, das im Einklang steht mit den Forderungen der internationalen Gemeinschaft."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40/2012 - 68. Jahrgang - 26. Oktober 2012, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2012