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VORWÄRTS/945: Gespräch mit Ridvan Turan, Präsident der "Sosyalist Demokrasi Partisi" aus der Türkei


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.25/26 vom 5. Juli 2013

"Auf dem Taksim-Platz war die Hölle los!"
Gespräch mit Ridvan Turan

Von Siro Torresan



Im Rahmen einer Veranstaltung in Zürich sprach der vorwärts mit Ridvan Turan, dem Präsidenten der "Sosyalist Demokrasi Partisi" (SDP) aus der Türkei. Er und seine Partei waren bei den Aufständen der letzten Wochen an vorderster Front. Der Genosse erklärt, warum Erdoğan in die Enge getrieben wurde und warum eine Sendung über Pinguine zur politischen Bewusstseinsbildung der Masse beigetragen hat.


"Es sind historische Zeiten. Der Widerstand in der Türkei ist für uns sehr wichtig", beginnt der Genosse Ridvan Turan, Präsident der SDP seine Ausführungen über den Widerstand in seinem Land. Er unterstreicht, dass es die grössten Aufstände seit dem Militärputsch vom 12. September 1980 sind. Er verbindet die Proteste in der Türkei mit jenen, die in anderen Ländern wie Griechenland, Portugal und Brasilien stattfinden und kommt zum Schluss: "Es sind Volkskämpfe gegen den Neoliberalismus."

Die SDP war seit Beginn der Proteste mit vielen Genossinnen und Genossen an vorderster Front. Ihre Parteizentrale wurde von der Polizei gewaltsam gestürmt und 71 GenossInnen wurden dabei verhaftet. "Vor etwa sechs Monaten habe ich an einer Veranstaltung gesagt, dass wir uns die Strasse nehmen müssen, so wie in Griechenland. Wegen dieser Aussage versucht nun die Regierung mir und unserer Partei die Schuld für die Aufstände in die Schuhe zu schieben", erklärt der Genosse mit einem Lächeln im Gesicht und fügt hinzu: "Aber niemand, auch ich nicht, hätte gedacht, dass der Aufstand so schnell kommen würde. Man kann revolutionäre Prozesse eben nicht voraussehen."


vorwärts: Genosse Turan, was haben die Aufstände bisher gebracht?

Ridvan Turan: Die Menschen haben eine Revolution angestrebt. Wenn mich jemand vor den Ereignissen gefragt hätte, wie ich mir eine Revolution vorstelle, dann genau so, wie es in der Türkei geschehen ist. Niemand kann mehr diese Menschen aufhalten, weder die Armee noch eine stärker aufgerüstete Polizei. Die türkische Gesellschaft hat sich wieder gefunden. Sie hat gemerkt, dass wir stark sind, wenn wir solidarisch sind. Ein Beispiel: Während der ganzen Zeit der Proteste haben wir zwei Barrikaden vor unserem Parteigebäude errichtet. Menschen aus dem Quartier brachten uns zu Essen, der Apotheker Medikamente. Ich hatte die Möglichkeit mit einem Psychiater zu reden. Er bestätigte mir, dass diese Kämpfe für die Zukunft von grosser Bedeutung sind, da das Selbstwertgefühl der Menschen stark gestiegen ist. Die Menschen wollen jetzt mehr als nur alle fünf Jahre eine Partei wählen. Sie wollen mitdenken, mitgestalten, sie wollen verändern. Ich bin auch überzeugt, dass die Aufstände zu einer mentalen Revolution geführt haben. Das ist ein wichtiger Punkt.


vorwärts: Eine mentale Revolution? Was genau meinst du damit?

Ridvan Turan: Viele Menschen haben gemerkt, dass sie in der Kurden-Frage über Jahre angelogen wurden. Sie haben sich gefragt: Wenn die Regierung hier gegen uns so brutal vorgeht, was geschah und geschieht dann im Osten des Landes? Sie haben gemerkt, dass sie angelogen werden, dass die Presse im Dienst der AKP-Regierung steht. Als es zu den ersten brutalen Einsätzen der Polizei kam, hat das Staatsfernsehen eine Reportage über Pinguine gesendet und mit keinem Wort über die Vorfälle auf den Strassen berichtet. Das war für viele schockierend. Sie haben dadurch die Augen geöffnet und begriffen.


vorwärts: Du warst ständig vor Ort. Wie hast du unter andrem die Räumungsaktion erlebt?

Ridvan Turan: Auf dem Taksim-Platz war die Hölle los. Es gibt keine anderen Worte dafür. Die Polizei ist während der ganzen Proteste äusserst brutal vorgegangen, wie es auch leider die Zahlen beweisen: 6 Tote, über 7000 Verletzte davon viele Schwerverletzte wie etwa die Person, die wegen dem Tränengas erblindet ist.

Der Widerstand formierte sich praktisch durch alle gesellschaftlichen Schichten. Widerstand und Proteste, mit denen die Regierung niemals gerechnet hatte, da sie sich sehr stark fühlte. Erdoğan sah sich daher in die Ecke gedrängt. Dies hat mit der Breite der Bewegung zu tun. Ein Beispiel: Auf der einen Seite des Taksim-Platzes waren die antikapitalistischen Muslime, darunter viele Frauen mit Kopftuch, und alle haben regelmässig ihre Gebete durchgeführt. Auf der anderen Seite gab es Gruppen von lesbischen Frauen und homosexuellen Männern. Daneben standen linke, revolutionäre, marxistische Parteien, Organisationen und Gruppierungen. Eine bunt durchmischte Masse, vereint im Protest gegen die Regierung. Das machte Erdoğan Angst.

Die Regierung hat daher versucht, die Menschen zu diffamieren, die auf dem Taksim-Platz und in der ganzen Türkei protestierten. Erdoğan hat Lügen verbreitet, wie etwa jene, dass in den Moscheen Alkohol getrunken oder diese mit Schuhen betreten wurden. Dies und vor allem sein äusserst brutales Vorgehen beweist, wie stark er durch die Aufstände an die Wand gedrückt wurde. Es ist eine Bewegung, die von unten kommt. Und eine weitere Tatsache ist, dass viele Genossinnen und Genossen an vorderster Front dabei sind. Daher ist es auch falsch zu glauben, dass es eine nationalistische oder kemalistische Bewegung ist.


vorwärts: Was sind die Gründe des Aufstandes?

Ridvan Turan: Beim Widerstand ging es nicht um einige Bäume in einem Park; das war der Auslöser, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es ging um das Handeln der Regierung und das Verhalten gegenüber den Menschen.

Erdoğan und seine AKP-Partei setzten konsequent die neoliberale Politik um. Es sind Entscheide und Massnahmen, welche grosse Teile der Bevölkerung sehr hart treffen. Seit dem Machtantritt Erdoğans vor elf Jahren ist die Bevölkerung in der Türkei ärmer geworden. Zwar stimmt es, dass die Wirtschaft in der Türkei gewachsen ist. Doch wissen wir alle, dass dies nicht bedeutet, dass das Volk automatisch davon profitiert. Oft ist der so genannte wirtschaftliche Aufschwung ein Schein, der trügt, und so wurde in Sachen Armut und Arbeitslosigkeit in der Türkei wenig erreicht, seit Erdoğan an der Macht ist.

Aus gesellschaftlicher Sicht hat Erdoğan den Menschen sein Lebensbild aufgezwungen. Ein gutes Beispiel dafür ist seine Aussage über die türkischen Frauen: Vor einigen Jahren meinte er, dass eine gute, türkische Frau drei Kinder zu gebären hat. Kürzlich hat er die Zahl nach oben korrigiert: Gute türkische Frauen sollen fünf Kinder gebären. Auch das Alkoholverbot ab 22 Uhr zeigt, welche gesellschaftliche Umwandlung die AKP im Grunde anstrebt. Erdoğan hat für die demokratischen Grundrechte der Menschen nichts getan.

Ein anderer, wichtiger Punkt ist die Kurden-Frage im Osten des Landes. Die Regierung hat kleine Schritte gemacht. Grundlegende Veränderungen gab es jedoch nicht. Kürzlich hat Erdoğan wieder klar gestellt, dass ein Schulunterricht in kurdischer Sprache kein Thema ist. Aber vor allem geht er brutal gegen die Proteste der Bevölkerung vor: Vor wenigen Tagen hat er eine Demonstration in Diyarbakir gegen den Bau einer neuen Polizeikaserne gewaltsam aufgelöst. Die Armee wurde eingesetzt und es gab einen Toten und mehrere Schwerverletzte. Dies ist das wahre Gesicht der Regierung.


vorwärts: Wie soll die Revolution nun weiter gehen?

Ridvan Turan: Wir müssen die Fähigkeit haben, die Krise der Regierung für unsere Zwecke zu nutzen. Wichtig ist dabei, dass wir die revolutionären Kämpfe im Westen und Osten des Landes miteinander verbinden! Ich bin überzeugt, dass dabei der Arbeiterklasse eine wichtige Rolle zukommt.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26 - 69. Jahrgang - 5. Juli 2013, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2013