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VORWÄRTS/997: Illegale Sterilisationen in kalifornischen Frauengefängnissen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.7/8 vom 28. Februar 2014

Illegale Sterilisationen in kalifornischen Frauengefängnissen - der lange Atem der Eugenik im Golden State

Von Katja Schwaller



Mindestens 148 Frauen sind in kalifornischen Gefängnissen zwischen 2006 und 2010 ohne die erforderliche staatliche Bewilligung - und nach Aussagen von betroffenen Frauen auch ohne ihr Wissen oder explizites Einverständnis - sterilisiert worden. Diese Übergriffe, die im Sommer 2013 vom "Center for Investigative Reporting" aufgedeckt worden sind, erinnern an ein langes und düsteres Kapitel in der Geschichte Kaliforniens, das in Sachen Eugenik eine Eifrigkeit und Vorreiterrolle an den Tag legte, von der die Nationalsozialisten schwer beeindruckt waren, die in diesem Bereich eng mit den kalifornischen Kollegen zusammenarbeiteten.


"Was wir in diesen zehn Jahren für Sterilisationen ausgegeben haben, ist kein grosser Betrag im Vergleich zu den Sozialgeldern, die wir für diese ungewollten Kinder ausgeben müssten, wenn sich diese Frauen weiter fortpflanzen würden." Bei diesem Zitat handelt es sich nicht etwa um eine Stimme aus längst vergangenen Zeiten, sondern um eine Aussage des damaligen leitenden Gynäkologen des kalifornischen Frauenknastes Valley State Prison mit dem klingenden Namen Dr. Heinrich aus dem Jahr 2013. Er reagierte damit auf die Enthüllungen des "Center for Investigative Reporting" (CIR), dass zwischen 2006 und 2010 - unter anderem unter seiner Aufsicht - mindestens 148 Frauen in kalifornischen Knästen ohne die erforderliche staatliche Bewilligung - und gemäss den betroffenen Frauen auch ohne ihre explizite Einwilligung oder unter grossem psychologischen Druck - sterilisiert worden waren. Der Bericht des CIR legt ausserdem nahe, dass zwischen 1997 und 2006 weitere hundert Frauen in kalifornischen Gefängnissen unfruchtbar gemacht worden sein könnten.

Sterilisationen gegen den Willen der Betroffenen sind im Bundesstaat Kalifornien, der eine lange Geschichte an eugenisch motivierten Zwangssterilisationen vorweist, erst (!) seit 1979 verboten. Im Gefängnis durchgeführte Eingriffe dieser Art müssen von den zuständigen staatlichen Stellen einzeln bewilligt werden und sind nur aus gesundheitlichen Gründen erlaubt. Ausserdem müssen die Betroffenen eine Einverständniserklärung unterschreiben. Bezeichnenderweise sind aber gemäss dem Bericht des CIR bei der für die Genehmigungen zuständigen Stelle in der entsprechenden Zeitspanne keine Gesuche eingegangen, den staatlich angestellten Ärzten, die die Sterilisationen durchführten, wurden aber insgesamt 147.460 Dollar für diese Eingriffe ausbezahlt, was nahe legt, dass die verantwortlichen Stellen über die Vorgänge in den Knästen informiert waren.

Mittlerweile haben im kalifornischen Senat Anhörungen zu diesen Vorfällen stattgefunden, und gegen Dr. Heinrich, unter dessen Aufsicht die Anzahl der vorgenommenen Sterilisationen geradezu explodiert ist, wird ermittelt. Ob die Verantwortlichen aber mit Konsequenzen für ihr Handeln rechnen müssen, ist völlig offen. Die Ärzte und die Gefängnisleitungen haben zwar zugegeben, dass diese Eingriffe stattgefunden haben, bestreiten aber, dass sie unter Zwang ausgeführt wurden und stellen sich auf den Standpunkt, dass die betroffenen Frauen ihre Einwilligung zu den irreversiblen Eingriffen gegeben hätten. Doch was heisst "freiwillig" hinter Gitterstäben? Gibt es im Knast wirklich eine "freie Wahl", besonders, wenn frau auch noch schwanger ist und dort ihr Baby zur Welt bringen muss - und dabei den Gefängnisärzten völlig ausgeliefert ist?


"Im Knast musst du dich ihren Regeln unterwerfen"

Betroffene Frauen haben inzwischen ausgesagt, dass Druck auf sie ausgeübt worden war, damit sie diesem Eingriff zustimmten. Besonders Frauen, die schon mehrmals im Knast waren oder bei denen eine mögliche Rückfälligkeit vermutet wurde, sind laut Aussagen betroffener Frauen und anderer Insassen dazu gedrängt worden, einem solchen Eingriff zuzustimmen - in gewissen Fällen, als sie bereits für einen Kaiserschnitt auf dem Operationstisch lagen: "[Dr. Heinrich] sagte: 'Jetzt führen wir auch gleich noch eine Sterilisation durch, ja?'", erinnert sich Kimberly Jeffrey, die im Valley State Prison ihren Sohn zur Welt brachte - und im Vorfeld bereits zweimal ihre Einwilligung zu einem solchen Eingriff verweigert hatte. "Ich sagte: 'Sterilisation, was soll das? Ich will diesen Eingriff nicht, ich will nur mein Baby zur Welt bringen.' Ich bin sofort in Panik ausgebrochen." Auch die heute 28-jährige Crystal Nguyen, die im Valley State Prison einsass, als sie 19 Jahre alt und schwanger war, machte ihre Erfahrungen mit Dr. Heinrich, der damals der behandelnde Arzt war. Wenn sie Fragen zu ihrer Schwangerschaft stellte, sei sie von ihm nur ausgelacht und überhaupt nicht ernst genommen worden, erzählt sie in einem Video-Interview mit dem CIR. "Er ass die ganze Zeit Popcorn - Popcorn, Käse und Crackers. Und er untersuchte mich, während er ass. Es war total unhygienisch. Es war ekelerregend und machte mir Angst." Sie wurde später zum Dienst auf der Krankenabteilung eingeteilt und konnte dort oft mithören, wie das Gesundheitspersonal den weiblichen Insassen nahelegte, eine Sterilisation durchzuführen. "Das Erschreckendste ist, wenn du merkst, dass dein Leben in ihren Händen liegt und sie mit dir machen können, was sie wollen, ohne deine Einwilligung", erzählt sie weiter. "Und dass sie das machen können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Im Knast hat man keine Rechte, denn es kümmert niemanden, was mit dir geschieht. Schliesslich warst du ja im Gefängnis. Die denken, dass man deswegen weniger Wert ist. Dass man es nicht verdient, Kinder zu haben. Die meinen noch, sie würden der Gesellschaft einen Gefallen tun, wenn sie dich daran hindern, Kinder zu kriegen."

Neben dem CIR war es vor allem "Justice Now", eine Organisation aus Oakland, die schon seit Längerem Fälle von Sterilisationen in Gefängnissen dokumentiert, die an der Aufdeckung dieser Fälle beteiligt war. Misty Rojo, die sich bei "Justice Now" engagiert, weiss, wovon sie redet. Sie hat selber neun Jahre abgesessen und kennt die Zustände in den Gefängnissen aus eigener Erfahrung. Für das Argument der "Freiwilligkeit", das auch von liberalen Kreisen gerne ins Feld geführt wird, hat sie nicht einmal ein müdes Lächeln übrig. Denn im Gefängnis sieht alles anders aus: "Wenn du im Knast bist, dann tust du, was man dir sagt. Punkt. Also auch bei der Gesundheitsversorgung. Wenn der Arzt dir sagt, dass eine Sterilisation durchgeführt werden soll, dann denkst du automatisch, dass du das auch machen musst. Einfach aufgrund deiner Umgebung, aufgrund der spezifischen Machtverhältnisse. Und darum bist du vielleicht bereit dazu, irgendein Papier zu unterschreiben, ohne die lebenslangen Konsequenzen, die ein solcher Eingriff mit sich bringt, zu verstehen. Insbesondere, wenn sie dir einfach ein Papier in die Hand drücken und du es nur unterschreiben musst. Einige sind vielleicht glücklich mit dieser Entscheidung, aber es geht hier nicht um eine freie und informierte Wahl."


"Das Gefängnis ist eine Form von Gewalt gegen Frauen"

Sheri Dwight, die ihren richtigen Namen lieber nicht preisgeben möchte, wusste nicht einmal, dass sie sterilisiert worden war, als sie in einem kalifornischen Gefängnis eine Operation hatte. Erst fünf Jahre später fand die heute 35-Jährige, die gerne nochmals Mutter geworden wäre, heraus, dass sie bei diesem Eingriff unfruchtbar gemacht worden war. "Das ist eine Form von Missbrauch, die auch dann nicht aufhört, wenn man seine Zeit längst abgesessen hat. Das folgt dir bis ins Grab. Jeden Tag, jede Nacht, für den Rest deines Lebens", sagt sie in einem Video-Interview mit "Justice Now". Sie erinnert sich auch, wie ihr irgendwann auffiel, dass es vor allem schwarze Frauen zwischen 18 und 35 Jahren waren, bei denen auf einmal Operationen durchgeführt wurden. "Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich dachte 'Moment mal, was geht hier vor? Hier stimmt etwas nicht. Warum sollten all diese jungen Frauen plötzlich solche schweren und heiklen Operationen benötigen?'" Sheri arbeitet heute für verschiedene Projekte gegen Gewalt an Frauen und zur Prävention von häuslicher Gewalt. Über ihre Erfahrungen im Gefängnis und mit Gewalt gegen Frauen sagt sie heute: "Das Gefängnis ist eine Form von Gewalt gegen Frauen. Denn mir ist irgendwann aufgefallen, dass die Wärter im Knast die gleichen Herrschaftstechniken einsetzen und die gleichen Verhalten an den Tag legen, wie mein Mann es getan hatte, um Macht über mich zu erlangen. Beides führt zu einem schlechten Selbstbewusstsein, zu einem schlechten Selbstwertgefühl. Du bist eingeschüchtert und es wird dir mit Vergeltung gedroht, wenn du nicht tust, was sie von dir verlangen. Ja, der Knast ist eine weitere Form von Gewalt gegen Frauen."


Rassistisches und profitorientiertes Strafvollzugssystem

Die USA sind weltweit der absolute Spitzenreiter, wenn es darum geht, die eigene Bevölkerung einzusperren. Über zwei Millionen Menschen sind gegenwärtig inhaftiert - mehr als in irgendeinem anderen Land (in absoluten und relativen Zahlen). Auf jeweils 100.000 Einwohner kommen hier über 700 Häftlinge. Das ist etwa zehnmal mehr als im europäischen Durchschnitt. Allein in Kalifornien sitzen mehr Menschen im Gefängnis als in Frankreich, Grossbritannien, Deutschland, Japan und den Niederlanden zusammen. Die Gefangenenzahlen sind in den USA seit den Achtzigerjahren so rapide angestiegen, dass viele Haftanstalten hoffnungslos überbelegt sind. Und auch hier steht Kalifornien wieder an erster Stelle, mit einer Überbelegung von fast 150 Prozent. Bereits 2011 wurde der Bundesstaat vom Obersten Gerichtshof aufgefordert, Gegenmassnahmen gegen die massive Überbelegung und die Zustände in den kalifornischen Gefängnissen zu ergreifen. Und 2006 war bekannt geworden, dass bei der Gesundheitsversorgung in kalifornischen Haftanstalten derartige Missstände herrschen, dass die Menschenrechte der Insassen verletzt werden. Diese Zustände und die unmenschlichen Bedingungen in der Isolationshaft haben in den letzten Jahren zu mehreren Hungerstreiks geführt, zuletzt im Sommer 2013, als rund 30.000 Häftlinge in Kalifornien in einen Hungerstreik gegen die Isolationshaft traten.

Für die einen sind übervolle Gefängnisse jedoch ein lukratives Geschäft, denn mit Häftlingsarbeit und dem Betreiben von Gefängnissen lässt sich viel Geld verdienen. Offiziell ist die Häftlingsarbeit in vielen Bundesstaaten zwar freiwillig, de facto kann aber von Zwangsarbeit gesprochen werden, da Häftlinge, die die Arbeit verweigern, längere Strafen absitzen müssen und als renitente Gefangene in Einzelhaft genommen werden. Auch das Betreiben von Haftanstalten und die Bereitstellung der dafür nötigen Dienstleistungen sowie die völlig ausufernde Sicherheitsindustrie sind zu profitablen Unternehmungen geworden. So ist in den USA längst eine Art industrieller Gefängniskomplex entstanden, in dem Häftlinge in privatisierten und gewinnorientierten Haftanstalten, die am besten noch irgendwo ins Nirgendwo ausgelagert werden, bewacht von modernster Sicherheitstechnologie und privatem Wachpersonal, fast unbezahlte Arbeit für Grosskonzerne verrichten, die damit Profite machen und gleichzeitig die Löhne der nicht inhaftierten Arbeiterschaft drücken können.

Und natürlich ist es keineswegs ein Zufall, wer im Knast sitzt. Zwei Drittel der Häftlinge sind Schwarze oder Latinas und Latinos, was ihrem proportionalen Anteil an der Bevölkerung diametral entgegengesetzt ist. Die grösste Gruppe im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil stellen indigene Amerikanerinnen und Amerikaner. Die Häftlingspopulation ist zwar zu einem grossen Teil männlich, es zeichnet sich aber eine Tendenz ab, zunehmend mehr Frauen dem Gefängnisregime zu unterwerfen. So bilden schwarze Frauen die am schnellsten wachsende Gefangenengruppe. In den USA sind heute mehr Schwarze im Griff des Justizsystems - im Gefängnis, auf Bewährung oder bedingter Strafaussetzung - als während der Zeit der Sklaverei. Diese Masseneinkerkerung führt dazu, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch daran gehindert werden, beispielsweise eine Ausbildung zu absolvieren - oder eine Familie zu gründen. In diesem Licht gesehen erscheinen im Knast durchgeführte Sterilisationen durchaus als konsequente Weiterführung einer eugenisch injizierten sexistischen und rassistischen Logik, die in den USA - und besonders auch im Golden State - eine lange Tradition hat.


Kaliforniens Vorreiterrolle in der Eugenik

Die jüngsten Vorfälle rufen Erinnerungen an ein langes und düsteres Kapitel in der Geschichte Kaliforniens wach. An eine Zeit, als eugenisches Gedankengut in den höchsten Kreisen gepflegt und als Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft und der menschlichen Rasse gefeiert wurde und Zwangssterilisationen nicht trotz Verboten, sondern gerade mittels Gesetzen im grossem Rahmen durchgeführt wurden. Führende Persönlichkeiten wie Harry Chandler, der Herausgeber der "Los Angeles Times", oder William Starr Jordan, der Präsident der einflussreichen Stanford University, sowie zahlreiche Ärzte, Richter und Wissenschaftler waren glühende Befürworter der eugenischen Zwangsmassnahmen, die in Kalifornien in einem Ausmass durchgeführt wurden, die die Zahlen in anderen US-Staaten geradezu verblassen lässt und insbesondere das Interesse der Nationalsozialisten in Deutschland weckte. 20.000 Zwangssterilisationen wurden in Kalifornien bereits ab 1909 und bis 1979 in Gefängnissen, Jugendanstalten, Waisen- und Armenheimen und Einrichtungen für geistig Behinderte durchgeführt. Das ist ein Drittel der insgesamt etwa 60.000 Eingriffe dieser Art, die in den 32 US-Bundesstaaten, die Zwangssterilisationen gesetzlich erlaubten, vorgenommen wurden. Menschen, die als "geisteskrank", "schwachsinnig" oder "arbeitsscheu" abgestempelt wurden, Frauen, denen ein "liederlicher Lebenswandel" oder sexuelle Promiskuität vorgeworfen wurde oder die uneheliche Kinder hatten sowie Menschen, die einfach arm waren oder im Gefängnis sassen, waren die Opfer des "Säuberungswahns" der White-Supremacy-Fanatiker. Die Mehrheit der Betroffenen waren Frauen, es wurden aber auch Männer zwangssterilisiert. Menschen mit spanischem Vornamen, häufig mit mexikanischem Background, waren in Kalifornien besonders betroffen. Was bereits zur Zeit der Sklaverei ihren Anfang genommen hatte, wurde so in einem institutionellen Rahmen und "wissenschaftlich" legitimiert fortgesetzt.


"Die Deutschen haben uns in unserer eigenen Disziplin übertroffen"

Die Nationalsozialisten waren dermassen beeindruckt vom perfekten Funktionieren des kalifornischen Zwangssterilisierungsapparats, dass sie die US-amerikanischen Gesetzestexte als Vorlage für ihre eigenen Sterilisationsgesetze verwendeten und einen regen Austausch mit den führenden Forschern auf diesem Gebiet pflegten, um von den kalifornischen Kollegen zu lernen. Die USA gaben aber nicht nur die Richtung vor und bereiteten mit ihrer Forschung den Weg, sondern sie finanzierten teilweise auch die Eugenik-Forschung der Deutschen. So spendete die Rockefeller-Stiftung mehrere Millionen Dollar an deutsche Forscher und unterstützte die Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie, dessen Chef der Schweizer Psychiater und führende Eugeniker Ernst Rüdin war. Sie finanzierte von 1932 bis 1935 die von Otmar Freiherr von Verschuer durchgeführte Zwillingsforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, das die wissenschaftliche Legitimation für die nationalsozialistische Rassenpolitik lieferte. Einer von Verschuers Doktoranden war Josef Mengele.

Eine wirkliche Aufarbeitung dieser Geschichte hat bis heute nicht stattgefunden. Und im Gegensatz zu North Carolina, das 10 Millionen Dollar für die letzten noch lebenden Opfer von Zwangssterilisationen zur Verfügung stellte, hat sich Kalifornien bisher hartnäckig geweigert, Entschädigungszahlungen zu leisten. Der Anwalt eines Betroffenen meinte daher gegenüber CNN, dass er sich des Eindrucks nicht erwehren könne, dass man einfach darauf warte, bis alle Betroffenen von damals gestorben seien und es niemanden mehr gäbe, der Entschädigungsforderungen stellen könne. Diese Aussage könnte übrigens auch fast für die Schweiz stehen, wo spätestens ab 1928 nach US-Vorbild ebenfalls Tausende in Heimen und Psychiatrien und unter der Aufsicht der Fürsorgebehörden zwangssterilisiert wurden. Bis heute wurden keinerlei Entschädigungszahlungen an die Opfer geleistet - allerdings sind Bemühungen im Gange, dies wenigstens für einen Teil der Betroffenen zu erreichen. Im Dezember 2013 wurde ein Gesetzesentwurf gutgeheissen, der die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen - Verdingkinder, administrativ Versorgte und Zwangsadoptierte, unter ihnen auch Zwangssterilisierte - rechtlich rehabilitiert und den Bund zu einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschehnisse verpflichtet. Eine finanzielle Entschädigung ist darin aber nicht vorgesehen. Laut Paul Rechsteiner, der den Gesetzesentwurf angestossen hatte, war das eine ausdrückliche Bedingung der bürgerlichen Parteien gewesen. Allerdings sind ab Herbst 2014 Zahlungen aus einem zeitlich befristeten Soforthilfefonds vorgesehen.


Überbevölkerung, reine Natur und 300 Dollar für eine Sterilisation

Auch wenn Zwangssterilisationen heute verboten sind und die "Freiwilligkeit" solcher Eingriffe betont wird, scheint die Vorstellung, dass gewissen Menschen aufgrund ihrer sozialen Stellung, ihrer Ethnie oder ihrer psychischen oder physischen Verfassung das Recht abgesprochen werden sollte, Kinder zu bekommen, nach wie vor wirksam zu sein. Und wie das Eingangszitat von Dr. Heinrich belegt, wird dies auch heute noch gerne (in bester eugenischer Tradition) mit einer angeblichen Kosten-Nutzen-Optimierung für die Gesellschaft - oder sogar für die Betroffenen selber - begründet. Der Zwang findet dabei oft einfach auf subtileren Ebenen statt. Etwa in den sogenannten Familienplanungsprogrammen der Entwicklungshilfe, die armen Menschen im globalen Süden Geld und Naturalien bieten, wenn sie sich sterilisieren lassen oder sich einer Langzeitverhütung (mit oft verheerenden Nebenwirkungen für die betroffenen Frauen) unterziehen.

Oftmals werden dabei auch die Gesundheitsangestellten leistungsabhängig bzw. quotenorientiert entschädigt, das heisst sie erhalten beispielsweise für jede durchgeführte Sterilisation eine Belohnung. So fordert etwa die Schweizer Ecopop-Initiative, dass 10 Prozent der vom Bund bereitgestellten Gelder für die Entwicklungshilfe in die "freiwillige" Familienplanung in den ärmsten Ländern fliessen sollen. Denn allem Anschein nach geht es bei der viel beschworenen Überbevölkerung vor allem um ein Zuviel an "anderen", nicht-weissen Menschen, die unseren eigenen Lebensstandard und Ressourcenverschleiss angeblich in Frage stellen. Als Argument für ihre Forderungen führt Ecopop ökologische Gründe ins Feld, sprich eine "Schweizer Natur", die es gegen das Fremde zu verteidigen gilt. Nebst einer Zuwanderungsbeschränkung propagieren sie, dass man dort ansetzt, wo auch schon radikale US-amerikanische Umweltschützer und Eugeniker zu Beginn des 20. Jahrhunderts ansetzen wollten: bei der Fruchtbarkeit von "unerwünschten" Bevölkerungsgruppen. Die Idee, Naturschutz und Bevölkerungspolitik zu verbinden, ist nämlich keineswegs neu, und die Verknüpfung der Vorstellung einer reinen Natur mit jener einer reinen Rasse scheint leider sowohl bei UmweltschützerInnen als auch bei Eugenikern immer wieder eine naheliegende logische Konsequenz zu sein.

Ohne die ökologische Komponente, aber ebenfalls mit der Gleichung Geld gegen Fruchtbarkeit, arbeiten auch Organisationen wie das US-amerikanische "Project Prevention", das Cracksüchtigen 300 Dollar anbietet, wenn sie sich sterilisieren lassen oder sich einer Langzeitverhütung unterziehen. Crack ist eine relativ billige Droge, die vor allem in den Schwarzen-Ghettos verbreitet ist. Die weisse Barbara Harris, die "Project Prevention" gründete, hat bereits vier schwarze Kinder von drogensüchtigen Müttern adoptiert. Diese können sich schliesslich mit den 300 Dollar den nächsten Drogenkick kaufen. Dafür sollte es wohl gerade etwa reichen.


MEHR ZUM THEMA
Quellen und weiterführende Informationen zu den jüngsten Vorfällen (auf Englisch):

www.cironline.org/reports/female-inmates-sterilized-california-prisons-without-approval-4917
(Center for Investigative Reporting)

www.jnow.org
(Justice Now)

www.theguardian.com/commentisfree/2013/nov/08/california-female-prisoner-sterilization
(The Guardian/CIR-Dokumentarfilm Sterilized Behind Bars)... und viele mehr.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 7/8 - 70. Jahrgang - 28. Februar 2014 , S. 6-7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2014