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VORWÄRTS/712: Warum waren es nicht 700.000?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12/2011 vom 25. März 2011

Warum waren es nicht 700.000?

Von Siro Torresan


Zerstörung, Tote und Elend: Bestürzt schaut die Welt nach Japan. Zur Fassungslosigkeit mischt sich Angst, kommt es zum Super-GAU? Wenn ja, was dann? Werden wir in der Schweiz auch verstrahlt? Bundesrätin Leuthard will nichts überstürzen und steht vor einem Problem: Im Kapitalismus ist keine nachhaltige Umweltpolitik möglich. Was nun?


"Es ist wichtig, aus diesem Unglück Folgerungen auch im Bereich der nuklearen Sicherheit zu ziehen. Dazu ist es aber verfrüht", erklärte Bundesrätin Doris Leuthard nach der Nuklearkatastrophe in Japan. Natürlich Frau Bundesrätin, nur die Ruhe nicht verlieren, sonst könnten die Freunde der Atomindustrie sauer werden. Dies ist selbstverständlich zu vermeiden, denn es geht um Milliarden von Franken, die noch mehr Milliarden garantieren. Kommt dieser Mechanismus ins Stocken, sind viele Arbeitsplätze und nicht etwa die Profite von Wenigen gefährdet. Stimmt doch so Frau Bundesrätin, oder nicht? Und die Sicherheit? Leuthard dazu: "Alle fünf Schweizer Kernkraftwerke müssen höchste Sicherheitsstandards erfüllen, wie sie gesetzlich vorgeschrieben sind." Super, herzlichen Dank! Da sind wir aber beruhigt und können die Jod-Tablette weiterhin sorglos in der Schublade lassen. Gestatten Sie es uns noch, einen kleinen Hinweis zu machen, Frau Leuthard: Ein kluger Mann, ein so genannter Atomexperte, sagte in einem TV-Interview zur Frage der Sicherheit: "Das Restrisiko ist immer das, was man sich gar nicht vorstellen kann!" Richtig liebe Doris, so wie in Japan, wo bis vor wenigen Tagen die sichersten Atomkraftwerke der Welt standen - unerschütterlich und unzerstörbar sicher. Jedoch nur solange, bis die Naturkatastrophe kam, die mit einer Zerstörungskraft wütete, die sich niemand auch nur im Entferntesten vorstellen konnte. Ja, Wissen und Technik des Homo Sapiens werden nie ausreichen, um der Naturgewalt überlegen zu sein, um sie völlig beherrschen zu können. Doch das Profitdenken der Menschen lässt diese einfache Einsicht nicht zu, denn Grössenwahn und Macht garantieren Reichtum. So bleibt ein weiteres Mal die bittere und traurige Erkenntnis, dass im Kapitalismus Zehntausende von Toten, und Hunderttausende von Menschen in Elend und Not nichts verändern. Selbst dann nicht, wenn gangbare Lösungen vorliegen. Ja, denn eines darf bei all den Diskussionen nicht vergessen werden: Es gibt die Alternative zum Atomstrom und somit auch die Möglichkeit, viele neue Arbeitsplätze zu schaffen. Mensch muss es nur wollen!


Es gibt keinen "grünen Kapitalismus"!

"Atomstrom ist nicht sauber und ökologisch, sondern bedroht Mensch und Umwelt beim Uranabbau, im Kernkraftwerk und mit radioaktivem Abfall. Deshalb fordern wir den Ausstieg aus dieser gefährlichen Technologie, die weltweit Ausbeutung und radioaktive Gefährdung verursacht, während sie der Atomwirtschaft dicke Profite beschert!", schreibt die "Gruppe Atom", die am 18. März zu einer Spontandemo in Zürich aufgerufen hat. Die Stellungnahme dieser bisher wenig bekannten Gruppe sticht hervor, da sie im Vergleich zum Blabla der Parteien und Umweltorganisationen das Kernproblem beim Namen nennt: "Die Umweltprobleme unserer Zeit sind durch den Zwang zu Wachstum und Profitmaximierung im Kapitalismus nicht lösbar." Die Gruppe hält daher fest: "Wir wollen darum nebst einer Umweltpolitik, die auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien setzt, auch eine bessere Gesellschaftsordnung erkämpfen, die nicht auf Konkurrenz und Eigentum basiert, sondern auf Solidarität und kollektivem Besitz der Produktionsmittel." Kernkraft wird von den VertreterInnen der Atomwirtschaft als sichere und C02-arme Form der Energiegewinnung angepriesen. Diese sei unumgänglich, um die so genannte "Stromlücke" zu verhindern. Die Wahrheit ist jedoch eine völlig andere. Zum Beispiel der französische Grosskonzern "AREVA", von dem auch die Schweizer Kernkraftwerke Uran beziehen. "AREVA" beutet in seinen Uranminen im Niger Menschen und Umwelt aus. Die Folgen sind verseuchtes Trinkwasser, hohe Krebsraten in der Bevölkerung und verstrahlte Böden.

Die Entsorgung von radioaktivem Material ist weltweit ungelöst. Bis vor kurzem wurde der Atommüll aus Schweizer Kernkraftwerken in die berüchtigte Wiederaufbereitungsanlage in Mayak, Russland befördert. Die aufbereiteten Brennstäbe wurden dann wieder in den hiesigen Anlagen verwendet. Das Gebiet in Mayak, welches noch immer bewohnt ist, gehört neben Tschernobyl zu den am meisten verseuchten der Welt. Doch all dies kümmert die Atomwirtschaft nicht, denn ihre Interessen richten sich, der Logik des Kapitalismus entsprechend, ausschliesslich nach ihrem unmittelbaren Profit.


Die Botschaft aus Japan

Somit werden die Interessen von privaten Unternehmen stets wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf Regierungen und öffentliche Meinung ausüben. Die Profite der Atomwirtschaft werden dabei über die Sicherheit der Bevölkerung und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gesetzt. Es gibt jedoch kein Recht auf Profit, sehr wohl aber ein Recht auf ein gutes Leben für alle! Der Kampf für eine nachhaltige Umweltpolitik muss zwingend auch ein Kampf für eine andere Gesellschaftsordnung sein. Für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung von Mensch und Natur, die das Gemeinwohl anstelle der Profitgeilheit fördert.

Wenn dies nicht die glasklare Botschaft aus Japan ist, welche sollte es dann sein? So bleibt eine weitere Frage offen: Warum kamen nicht 700 000 statt 700 Menschen an die Demo nach Zürich? In der Schweiz - diesem kleinen Flecken Land! - sind beim Lesen dieses Artikels fünf Atomkraftwerke in Betrieb. Vergessen?


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12/2011 - 67. Jahrgang - 25. März 2011, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2011