vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 24. April 2015
Kritische Thesen zum Antifaschismus
Von Thomas Schwendener
Im Folgenden meldet sich eine dissidente Stimme in der Schwerpunktnummer des vorwärts zu Wort. Einige kritische Überlegungen zu Ideologie und Geschichte des Antifaschismus.
1.
Die folgenden Überlegungen sind nicht gegen die antifaschistische
Selbstverteidigung als praktische Angelegenheit gerichtet, wie sie
etwa in einigen Regionen der Schweiz eine Notwendigkeit für
revolutionäre Gruppen und bedrohte Marginalisierte bedeutet. Es geht
auch nicht darum, in Abrede zu stellen, dass eine kommunistische
Bewegung sich dereinst gegen rechte Schlägertrupps militant zur Wehr
setzen wird müssen. Im Folgenden geht es um den Antifaschismus als
Ideologie und darum, wie er historisch wirkungsmächtig wurde: als
Volksfront.
2.
Der innere Zusammenhang von Faschismus und Demokratie besteht in ihrer
Funktionalität für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen
Gesellschaft. Etwas einfacher ausgedrückt: Sowohl die demokratische
als auch die faschistische Staatsgewalt sind zuerst einmal eine
bestimmte politische Form, um den kapitalistischen Inhalt zu
organisieren - auch wenn beide mit dieser Bestimmung natürlich nicht
hinreichend erfasst sind. Beide bedeuten eine ideologische Negierung
der Klassenspaltung und die Integration der Individuen in die
staatlich gestiftete Gemeinschaft. Ob eine Gesellschaft zum Faschismus
oder zur Demokratie tendiert, hängt von den historisch erforderlichen
Massnahmen zur Stiftung einer solchen Gemeinschaft und der
Aufrechterhaltung der kapitalistischen Akkumulation ab und ist nicht
etwa eine Wahl, die wir treffen könnten.
3.
Der Faschismus war in den durch die Krise geschwächten Ländern eine
Notwendigkeit, in denen es der Gewalt von Bürgerkriegsformationen
bedurfte, um eine solide staatliche Ordnung durchzusetzen. Die
faschistische Ideologie war die Klammer der verschiedenen sozialen
Interessen für eine neuerliche kapitalistische Offensive. Das
faschistische Kommando über die auseinandertreibenden
Kapitalinteressen - in Deutschland etwa die Harzburger Front und das
Brüning-Lager - war notwendig, um die Akkumulation wieder anzutreiben.
Das wurde auch bewerkstelligt durch die staatliche Nachfrage nach
Gütern, die nicht auf dem Markt realisiert werden mussten: etwa
Infrastruktur und insbesondere Kriegsmaterial. In diesem Sinne sind
die faschistische Wirtschaftspolitik und der Krieg unmittelbar
miteinander verbunden.
4.
Eine wesentliche Voraussetzung zur Durchsetzung des Faschismus, war
die vorgängige Niederschlagung der kämpfenden ArbeiterInnenklasse. In
Deutschland war es die Niederschlagung der sozialistischen Kräfte der
Novemberrevolution 1919, mit der es die Sozialdemokratie vermochte,
die kapitalistischen Verhältnisse erneut zu stabilisieren. In Italien
war 1920 die Welle von radikalisierten ArbeiterInnenkämpfen, Streiks
und Fabrikbesetzungen von den Gewerkschaften abgewürgt worden, worauf
die faschistischen Terrortrupps gegen die demoralisierten
ArbeiterInnen aufmarschieren konnten. Der Faschismus mit seiner vor
der Machtergreifung schwachen und heterogenen sozialen Basis kann eine
intakte ArbeiterInnenbewegung nicht besiegen.
5.
Sowohl in Italien wie auch in Deutschland ist der Faschismus nicht
gegen, sondern durch die Demokratie an die Macht gekommen. Die
faschistische Bewegung bekam Unterstützung gewichtiger
Kapitalfraktionen und genoss Wohlwollen durch den demokratischen
Staat. In Italien etwa forderte der rechtssozialistische
Regierungschef Bonomi 1921 rund 60.000 demobilisierte Offiziere auf,
in die Sturmtruppen Mussolinis einzutreten. In Deutschland und Italien
wurde den FaschistInnen die Macht durch die demokratischen
Institutionen übertragen: In Italien beauftragte König Viktor Emanuel
III. Mussolini im Oktober 1922, eine Regierung zu bilden. In
Deutschland ernannte Reichspräsident Hindenburg Hitler im Januar 1933
zum Reichskanzler.
6.
Der antifaschistische Kampf konnte den Sieg des Faschismus nicht
verhindern. Er konnte aber die ArbeiterInnen im Namen der Verhinderung
des "Schlimmsten" weitgehend mit der bürgerlichen Demokratie
aussöhnen, die ihrerseits der für das Kapital notwendigen
faschistischen Krisenlösung den Weg ebnete. Der innere Zusammenhang
von Kapitalakkumulation, staatlicher Gemeinschaft und faschistischer
Krisenlösung, der oben knapp skizziert wurde, widerspricht der
antifaschistischen Perspektive als Bündnis mit den "progressiven
Kräften", das gegen die FaschistInnen eine demokratische
Regierungsform erhalten will.
7.
Die antifaschistische Strategie ist widersprüchlich: Ist die
ArbeiterInnenklasse schwach und kann der Gesellschaft keine
Regierungsform aufzwingen, kann sie den Faschismus als notwendig
gewordene politische Form der kapitalistischen Gesellschaft nicht
verhindern. Die Klasse müsste dementsprechend auf ihrem eigenen
Terrain - dem Klassenkampf um bessere Lebensbedingungen - zu neuer
Stärke finden, statt sich in einen innerkapitalistischen Konflikt
ziehen zu lassen. Ist die ArbeiterInnenklasse aber stark, dann stellt
sich die Frage von Faschismus und Demokratie nicht mehr, stattdessen
wäre die Frage von sozialer Revolution auf die Tagesordnung zu setzen.
8.
Der Antifaschismus ist als politische Ideologie gegen die soziale
Revolution gerichtet. Das breite Bündnis der AntifaschistInnen
erfordert immer die Aufgabe des revolutionären Klassenkampfs, der auf
die Rücksichtnahme auf bürgerliche Kräfte pfeift. Im Bündnis mit
diesen "progressiven" Kräften soll das Kräfteverhältnis zu Gunsten der
Demokratie verschoben werden. Dies verkennt, dass der Faschismus
- oder allgemeiner: eine autoritäre Krisenlösung - in bestimmten
historischen Konstellationen zu einer Notwendigkeit für den
Kapitalismus wird und schlicht nicht eine von verschiedenen möglichen
Alternativen darstellt, die man mit geschicktem Taktieren verhindern
könnte.
9.
In der Schweiz ist das traditionelle Lager für antifaschistische
Bündnispolitik - das liberale Bürgertum - ohnehin praktisch
verschwunden. Gleichzeitig wäre es natürlich vermessen heute von einer
revolutionären ArbeiterInnenklasse auszugehen, während deren
institutioneller Ausdruck sich immer wieder auf dem Feld des
nationalen Sachverstands betätigt. Dennoch gilt es, so düster es auch
aussehen mag, an keiner anderen Perspektive festzuhalten, als an der
revolutionären Abschaffung des Kapitalismus und all seiner politischen
Formen. Dies ist die einzige Möglichkeit, die die ewige Wiederkehr von
Krise, gesellschaftlicher Desintegration und ihrer autoritären
Bewältigung - etwa in Form des Faschismus - verhindern könnte.
*
Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 71. Jahrgang - 24. April 2015, S. 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2015
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