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VORWÄRTS/1122: "Wir sind eine normale Partei geworden"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 17. Juli 2015

"Wir sind eine normale Partei geworden"

Von Siro Torresan


Erfolge verändern, ob man es will oder nicht. Und so steht auch die AL Zürich vor einem zukunftsweisenden Richtungsentscheid. Wohin sich die Partei entwickeln wird, ist noch offen. Sicher ist, dass es verschiedene Vorstellungen über die Zukunft gibt, die wohl kaum miteinander kompatibel sind.


Die Alternative Liste (AL) Zürich hat sich etabliert. In den letzten Jahren folgte ein Wahlerfolg dem anderem. Sowohl im städtischen wie im kantonalen Parlament hat die AL Fraktionsstärke, in der Stadt Zürich sitzt sie mit Richi Wolff gar in der Regierung. Hinzu kommen zwei Richterinnen und weitere drei Richterstellen, drei StaatsanwältInnen sind in Aussicht. Das ist der AL zu gönnen. Doch Erfolg verändert, und auch die AL bleibt davon nicht verschont. In der neusten Ausgabe des "AL-Info" ist im Frontartikel von Niggi Scherr, dem Übervater der AL, zu lesen: "Zugleich steht die AL Zürich auch vor grossen inneren Herausforderungen. Wie können wir nach dem grossen Wachstumsschub mehr Aktivistinnen und Aktivisten gewinnen? Wie unsere Andersartigkeit wahren und uns nicht von den Mechanismen der etablierten Machtausübung vereinnahmen lassen?"


Von flinken Fischen, die zu Booten wurden

Im Infoblatt finden sich drei Beiträge, die sich sozusagen mit der Frage der DNA der AL befassen. Zu Wort kommen Walter Angst, seit 2002 Zürcher Gemeinderat der AL, Richi Blättler, ehemaliger AL-Gemeinderat, und Rechtsanwältin Manuela Schiller, langjährige Politaktivistin in Zürich und AL-Mitglied der ersten Stunde. Ein Zeichen, dass es innerhalb der AL rumort, ist die unterschiedliche Wahrnehmung der gleichen Sache. Walter Angst schreibt: "Die Zeit der Gewissheiten, in der man vor einem AL-Treffen schon wusste, wer was sagt und was der Output einer Versammlung sein könnte, sind vorbei. Das mag anstrengend sein. Dafür verschwindet die Langeweile." Manuela Schiller hingegen: "Die Vollversammlungen sind schon fast wieder ein Altmännerverein mit braven Diskussionen. Diejenigen, die sich eine andere AL wünschen, bleiben öfters zuhause und werden kaum vermisst." Auch betreffend der Entwicklung der AL geht die Einschätzung schon fast diametral auseinander. Angst hält poetisch fest: "Die flinken Fische, die im Strom des politischen Alltags mal auf, mal ab und häufig quer schwimmen konnten, sind zu kleinen Bötchen geworden, die manövriert werden müssen." Schiller besorgt: "In der AL hat in erschreckender Geschwindigkeit ein Wandel in der Diskussionskultur und im Auftreten stattgefunden."


Die alte AL - ein Auslaufmodel

Es geht um die Zukunft der AL. Dabei stehen drei mögliche Wege zur Diskussion. Für Richi Blättler sind trotz des raschen Zuwachses auch an parlamentarischen Aufgaben und Arbeiten keine weiteren, neuen Strukturen nötig. Sie bergen sogar eine mögliche Gefahr. Blättler: "Wenn wir Gremien, Strukturen und Posten schaffen, die nicht leben, die nicht getragen werden vom Inhalt und vom Interesse der Aktivistinnen und Aktivisten, dann schaufeln wir der kreativen AL ein Grab." So lautet sein Rezept für die Zukunft: "Was wir brauchen, ist Leben mit einer Prise Chaos in den bestehenden Strukturen. Wer die AL in einem Parlament oder in einem andern Gremium (...) vertreten will, muss das Gespräch mit der Basis suchen. Wo und wer diese Basis genau ist, das ist je nach Amt oder Mandat unterschiedlich und darf nicht von einer zentralen Stelle bestimmt werden." Blättler plädiert unter dem Strich für die Stärkung des Bestehenden ohne tiefgreifende Veränderungen. Ob dies dem Wandel Rechnung trägt? Für Angst stehen Erneuerungen an. Wie diese aussehen könnten, lässt er offen: "Die alte AL war ein Auslaufmodell und wir haben das Glück, dass uns unsere Erfolge zur Erneuerung zwingen. Mit der Idee einer AL-DNA kann ich - im Gegensatz zu vielen - nur wenig anfangen." Manuela Schiller hingegen stellt eine klare und radikale Forderung für die Zukunft der AL: "Ich plädiere für eine Rückbesinnung auf unsere DNA (...).Verlassen wir den Weg der Exekutivbeteiligung und der Anpassung. Es braucht im rot-grünen Zürich keine weitere Regierungspartei."

Ob die AL vor einer Zerreissprobe steht, kann von aussen nicht beurteilt werden. Fest steht, dass die einzelnen Positionen, die im AL-Info veröffentlicht wurden, doch weit auseinandergehen. Tatsache ist auch, dass ein ziemlicher Wandel innerhalb der AL stattfindet und mit ihm auch eine Anpassung an die Spielregeln der etablierten Parteien im Parlament. Manuela Schiller bringt es so auf den Punkt: "Entgegen aller guten Vorsätze ist es eben nicht so, dass wir Richi Wolff seine Arbeit tun lassen und wir unserer Art, Politik zu betreiben, treu geblieben sind. Es wird taktiert, Rücksicht genommen, die Worte werden auf die Goldwaage gelegt, KritikerInnen werden subtil geschnitten. Wir sind eine normale Partei geworden."


Ein Mahnfinger

Wie und wohin wird sich die AL in naher Zukunft entwickeln? Die Frage lässt sich heute noch nicht beantworten, auch wenn gewisse Anzeichen der Marschrichtung unübersehbar sind. Bekanntlich lassen sich in solchen Fällen auch ganz schlecht irgendwelche Parallelen ziehen. Trotzdem ist ein Blick in die Geschichte und über den eigenen Tellerrand selten unnötig und da gibt es eben einen Mahnfinger, der winkt: Die Grünen. Sie waren mal alles andere als das, was sie heute sind - eine ganz normale Partei.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 71. Jahrgang - 17. Juli 2015, S. 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2015

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