Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1137: Parlament und Integration


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 23. Oktober 2015

Parlament und Integration

Von Thomas Schwendener


Soll man ganz realpolitisch eine grosse Partei wählen? Oder ist der linke Rand eine Alternative? Kann man heute überhaupt für den Parlamentarismus einstehen?


Die Wahlen sind vorbei. Die Schlachten geschlagen. Es ist geklärt, wer sich in den nächsten vier Jahren den Kopf für den nationalen Standort zerbrechen darf und dabei die notwendig anfallenden Kosten veranschlagt und durchsetzen lässt. Die ständige Belästigung hat zwar kein Ende, aber immerhin wechselt das Genre. Das politische Zahnpastalächeln wird bald durch das gewöhnliche werbeindustrielle ersetzt. Die Werbung beleidigt dann nur noch den kritischen Geist und nicht mehr zusätzlich den politökonomischen Verstand. Alles beim alten also. Vier weitere Jahre.


Der Kopf des Gesamtkapitals

Die grossen staatstragenden Parteien und ihre kleineren Nacheiferer sind in dieser Zeitung recht schnell abgehandelt. Wer sich für diese in die Parlamente wählen lässt, der hat seinen Frieden mit der bürgerlichen Demokratie längst gemacht. Er zerbricht sich letztlich den Kopf für das nationale Gesamtkapital. Das heisst: In einer kapitalistischen Gesellschaft ist alles auf den sprudelnden Profit angewiesen. Die weiteren Faktoren sind abhängige Variablen: Bruttoinlandprodukt, Steuersubstrat, Arbeitslosigkeit, Stabilität. Wer wiedergewählt werden will, muss dem Rechnung tragen. Das ständige Gerede vom Allgemeininteresse oder der Volkswirtschaft zeigt den Grad der Verinnerlichung dieses Umstandes.

Die einzelnen Parteien haben sich längst von der Vertretung von Partikularinteressen - etwa derjenigen der Proletarisierten - verabschiedet; sinnfällig stieg die Sozialdemokratie mit dem Slogan "Für alle statt für wenige" in den Wahlkampf. Dabei mögen die Parteien noch verschiedene Verwertungsperspektiven für das Kapital repräsentieren - man bedenke etwa den Konflikt zwischen Neoliberalen und KeynesianerInnen - aber grundsätzlich sind sie einander angeglichen als Parteien des nationalen Gesamtinteresses. In ihnen kann so etwas wie ein Klassenantagonismus deshalb nicht mehr zum Ausdruck kommen. Stattdessen wird, wo es denn überhaupt um materielle Interessen geht, die Sphäre der Verteilung pluralistisch bearbeitet.

Das ist nicht zu verwechseln mit einem ins Leere gehenden Vorwurf, dass etwa die Sozialdemokratie nicht für die Überwindung des Kapitalismus eintrete. Die Kritik ist eine andere: Da alle diese Parteien fest auf dem Boden des nationalen Standorts stehen, müssen sie auch dessen Logik Rechnung tragen. Es mag Spielräume geben, aber wo linke ExponentInnen in Regierungspositionen kommen, da tragen sie die Politik der Verwertungsbedingungen und der internationalen Konkurrenz ganz realitätsbewusst mit. Was das heisst? Man kann das seit den 90er-Jahren in ganz Europa beobachten: Der nationale Standort wird fit gemacht, indem man jene Faktoren reduziert, die den Profit schmälern und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit schaden.


Der linke Rand

Die Diskussion um eine Parlamentsbeteiligung von ganz links ist da vielleicht etwas komplizierter. Oder anders gesagt: Wenn sich die ExponentInnen jener Parteien von der Illusion lösen, dass sie realpolitisch etwas Fundamentales bewirken können, dann bliebt lediglich eine Diskussion über Taktik. Falls man aber dieser Illusion aufsitzt, dann gelten die oben entwickelten Argumente. Es sei denn die Partei würde von lauter RevolutionärInnen gewählt und deshalb erstarken. Dann stellte sich die Frage aber bereits auf einer anderen Ebene: Jener der revolutionären Umgestaltung dieser Gesellschaft.

Der Rätekommunist Herman Gorter wies bereits 1920 in einem Brief an Lenin darauf hin, dass die Ideologie des Parlamentarismus tief in den westeuropäischen ArbeiterInnen verwurzelt sei. Vor dem Hintergrund der Rätebewegung in Deutschland formulierte Gorter seine Taktik für die Arbeiterbewegung und kam zum Schluss, dass ein positiver Bezug zum Parlamentarismus die ProletarierInnen noch fester mit diesem und der bürgerlichen Gesellschaft vermähle, statt sie zur Selbsttätigkeit zu motivieren. Die historische Situation hat sich ganz leicht geändert: statt einer revolutionären Rätebewegung haben wir heute die umfängliche Integration der vereinzelten Einzelnen. Gorters Argument der Integration wird dadurch aber nur nochmals unterstrichen: Die Identifikation mit dem bürgerlichen Parlament ist als Integrationsmechanismus nicht zu unterschätzen und eine Beteiligung einer "linken Alternative" verfestigt die Illusionen des Parlaments.

Zudem berührt der parlamentarische Weg die betreffende Organisation in mehrfacher Hinsicht. Besonders, falls sie erfolgreich ist: Die Partei beginnt bürokratische Organe herauszubilden, die innerhalb und ausserhalb der Parlamente die Parteiinteressen vertreten, die von den Interessen der Proletarisierten abweichen können. Zudem wird die Aktivität der Organisation zusehends vom parlamentarischen Konkurrenzkampf dominiert, in welchem sich die gewählten VertreterInnen jede Legislaturperiode neu behaupten müssen. Schliesslich kann das soweit führen, dass aus der Eigenlogik des Parlamentarismus die ausserparlamentarische Betätigung ganz aus dem Blickfeld gerät und gewissermassen die Unterstützung der Selbsttätigkeit der Proletarier durch den politischen Kampf in den Parlamenten ersetzt wird. Nun gut, hier gibt es vielleicht eine wesentliche Differenz zu den ParteikommunistInnen: Eine kommunistische Bewegung ist für die linke Dissidenz nur denkbar "als selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl" (Marx/Engels).

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 71. Jahrgang - 23. Oktober 2015, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang