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VORWÄRTS/1150: Feministischer Herbstwind in Bern


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44 vom 4. Dezember 2015

Feministischer Herbstwind in Bern

Von Sabine Hunziker


Im November fanden in der Bundeshauptstadt gleich zwei Veranstaltungen im Zeichen des Feminismus statt: Zum einen die "Feministischen Diskussionstage Bern: Reclaim feminism!", organisiert von der Gewerkschaft Unia, zum anderen das Themenwochenende "Machen statt Mackern - Antisexismus DIY" in der Reitschule. Der "vorwärts" hat im Vorfeld ein Interview mit Silvio geführt, Rezensent von Sachbüchern (mit Spezialgebiet Feminismus) im "ensuite - Zeitschrift zu Kultur & Kunst".


vorwärts: Wie schätzt du die Lage des Feminismus momentan in der Schweiz ein?

Silvio: Ein einziger nationaler Feminismus? 7 Mio. und mehr Feminismen müsste es doch geben, auch indem alle diese Leute sich in diesem Moment - etwa über Medien und Kontakte - mehr oder weniger bewusst mit Feminismen und Sexismen aus aller Welt auseinandersetzen. Ideen und Kommunikation hielten sich schon vor dem Internet nicht völlig an Landesgrenzen. Frightwig aus San Francisco 1996 haben mich in meiner aargauischen Kleinstadt ebenso geprägt wie der erste nationale Frauenstreik. Momentan wird Feminismus in den Medien als vermeintliches Modethema behandelt und mehr oder weniger subtil darüber gelästert, auch von Frauen. Achselhaare sind für Frauen wieder "verboten"; Feminismus wird dort immer noch als Diskurs über die "Attraktivität" von Frauen geführt. Es findet eine sexualisierende eindimensionale Reduktion von Feminismus statt. International ist die Schweiz im Hintertreffen, beziehungsweise sie ist Vorreiterin einer Position, die von Feministinnen erkämpfte Grundrechte mit Leistungs- und Statusdenken verknüpft.

Der backlash sagt: wenn du "es" als Frau jetzt "nicht schaffst", bist du selber schuld. Du bist deine Karriere. Das ist ein neuer Druck auf Frauen, der genauso beschissen ist wie die Erwartung an einen Mann, dass er die Familie ernährt in einer ihn abschaffenden Arbeitswelt.

Es gibt in den Medien eine Tendenz, die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte runterzumachen, obwohl eine Mehrheit der Männer und Frauen diese wohl schätzen. Aber das sind Oberflächenreaktionen auf tiefgreifendere Veränderungen die stattfinden, und die nun auch plötzlich von westlichen Regierungen in ihr Demokratieverständnis integriert werden. Sie haben ja gar keine Wahl.

Tatsächlich hätte Feminismus zu allem möglichen etwas zu sagen: Feminismus ist heute vielleicht sogar die beste oder vielleicht letzte Möglichkeit, System-, Familien- und Kapitalismuskritik zu betreiben. Die Frage, die Feminismus stellt, lautet doch: Was hat das mit mir zu tun? Kann ich mich mit diesen Bildern, Sätzen, Begriffen identifizieren, und womit nicht? Wie fühle ich mich dabei? Was machen diese Diskurse mit mir? Dem setzen wir wohl alle eine Praxis entgegen, die nicht unbedingt als Theorie daherkommt. Die neue Miss Schweiz nennt sich Feministin. Was sie darunter versteht, wäre interessant zu hören. Das fragen die Medien aber nicht.

Feminismus ist mehr als ein Modethema, es ist eine Möglichkeit, Wissenschaft, also auch Biologie und insbesondere die Mythen der mächtigen Pseudowissenschaft Psychologie in den Köpfen auf ihre Gemachtheit herunterzubrechen. Feminismus kann nicht auf irgendetwas reduziert werden, und "er" kann nur beschränkt staatlich von oben verordnet werden. Feminismus ist doch ein Diskurs, der in der Praxis und in der Auseinandersetzung zwischen Menschen stattfindet. Es geht auch darum, sich zu fragen: wie kann ich mich wohl fühlen, wann werden Grenzen überschritten und wie kann ich damit umgehen?

Feminismus ist weder ein Accessoire noch etwas Starres: Vielleicht ist es so etwas wie die Haltung und die Erkenntnisse, die einzelne Personen und Gruppen aus ihren unterschiedlichen Erfahrungen mit der Geschlechtertrennung in den Köpfen und dem subtilen antrainierten Zwang zum Entweder-Oder formulieren.


vorwärts: In Bern finden diesen Monat die "Feministischen Diskussionstage Bern: Reclaim feminism!" der Gewerkschaft Unia und das Themenwochenende "Machen statt Mackern - Antisexismus DIY" in der Reitschule statt. Ist der Feminismus wieder präsenter in der Szene, und wenn ja, wie?

Silvio: Das kann ich nicht sagen. Ich komme ja kaum aus dem Haus. "Er" ist in allen Medien, aber das ist nur ein Symptom - hoffentlich wird "er" von denen aktualisiert, wiederangeeignet und gemacht, die davon betroffen sind. Wenn jemand Deutungshoheit über Feminismus beansprucht, dann ist etwas schiefgelaufen. Feministische Wissenschaftskritik lehrt das. Ein Sprechen und sich Besprechen, eine Wiederaneignung derjenigen, die betroffen sind, ist immer zu begrüssen. Es ist wohl kennzeichnend für unsere Herrschaftssysteme, dass sie "Randfiguren" auf Titelblätter hieven, während die Diskriminierung nicht verschwindet.

Schon nur die einfache Forderung, dass es keine Rolle spielen sollte und es uns nichts angeht, was jemand in der Hose hat, fordert heraus, weil der gesellschaftliche Imperativ überall lautet: Du musst dich entscheiden! Mach deine eigene Identität! Die Texte im Buch "dea ex machina", das von Armen Avanessian und Helen Hester herausgegeben wurde, unterstreichen, wie wichtig es sein kann, sich nicht festlegen zu müssen. Heutige Menschen möchten in ihrer Selbstwahrnehmung nicht von der Gesellschaft oder von anderen definiert werden, auch wenn es einen freien Willen nicht gibt. Feminismus bedeutet nicht, dass Frauen die besseren Menschen oder friedlicher sind als Männer. Feminismus schaut, soweit möglich, das ganze Bild an, im Grossen und im Kleinen. Feminismus hat so, über pc-Sprachpolitik hinaus, auch viel getan für die Anerkennung der Rechte von sogenannt psychisch kranken Menschen, hat Bestrafungsmechanismen wie Beschämung thematisiert, und wie damit Traumata und Drogenpolitik zusammenhängen. Alles das sind feministische Errungenschaften, die "liberale" Gesellschaften allmählich in ihre Systeme integrieren, wenn alles andere nicht mehr hilft. Aber Feminismus kann nicht vereinnahmt werden, weil und wenn "er" eine Praxis des ständigen Hinterfragens von Machtstrukturen war und ist.


vorwärts: Du hast eine Buchbesprechung im "ensuite" zum Buch "dea ex machina" (Armen Avanessian und Helen Hester Hg.) verfasst - einer Sammlung von Schlüsseltexten und Manifesten: Was versteht man unter technologiebewusstem Feminismus?

Silvio: Da sind u.a. Reproduktionstechnologien, die Frauen aus einer Rolle befreien können, und eben diese militärisch entwickelten Geräte und Kommunikationskanäle, die allen im Alltag eine schnellere und weitreichendere Kommunikation inklusive Krieg ermöglichen. Auf verschiedensten Ebenen zu verstehen beginnen, wie wir durch diese Technologien das Leben und Sterben von uns allen definieren, und herauszufinden, was mit diesen Technologien alles möglich ist. Die gleichen Geräte z.B., die potentiell mehr Austausch und Solidarität und eine bessere Ueberwachung der Polizei ermöglichen, beruhen auf der Prekärarbeit von Frauen anderswo. Wie also alle diese Sachen verbunden sind und es keine einfachen Antworten gibt auf diese Konflikte, und dass es keinen Rückzug in eine heile Welt gibt. Technologien nicht vorschnell abzulehnen oder sich davon fernzuhalten, weil sie für Krieg entwickelt wurden. Aufzuräumen mit dem Märchen, dass Technik und Krieg Männersache seien. Der Gewalt und den dort reproduzierten Geschlechterhierarchien etwas entgegensetzen. Erneuerte Sphärentrennung errichtet ein für alle schädliches binäres System in den Köpfen, das alles auf Entweder-Oder-Zuschreibungen reduzieren möchte. Welche Mechanismen und welche Programme, auch in den Köpfen, müssten heute sabotiert werden? Einmal erfunden, gehören sie nicht mehr denen, die sie erfunden haben, sie können auch gegen die Absichten derjenigen, die sie besitzen, eingesetzt werden. Das das Potential. Weil die Nerds zum Teil zu Bösen geworden sind, zu Trolls, müsste auch an den Schaltstellen der Netzwerke eine neue Selbstwahrnehmung ermöglicht werden. Nicht von oben. Vorbilder sind wichtig, aber entscheidend wird auch sein, was die und der "Einzelne" in Kommunikation mit der Welt mit den Freizeit-Kriegs-Geräten anstellt.


vorwärts: Ebenfalls im November wurde in der Reitschule der Film "Sexismus & Frauen*hass im Netz" gezeigt. Sexismus im Cyberspace - wie sieht der zukünftige Sexismus aus?

Silvio: Es wird weiter versucht werden, Frauen und anderen, systembedingt vermeintlich schwächeren Menschen, die Schuld dafür zu geben, dass es weniger Arbeitsplätze gibt und dass Männer eine Rolle verlieren, die es so über weite Strecken der Geschichte vielleicht "nur" in den Köpfen gab. Schon heute gelten rauffreudige Jugendliche als problematisch. Durch Entkörperlichung nimmt vielleicht verbale Einschüchterung und Belästigung im Internet zu, weil Männer und Frauen sich als körperliche Wesen überflüssig und austauschbar vorkommen. Von Palo Alto aus wird Frauen mehr als Männern gesagt und anerzogen, welche Köperteile wie präsentabel sind und welche nicht. Wenn aber verbal eingeschüchtert oder bedroht wird, dauert es relativ lange, bis die Firma reagiert. Es geht auch dort also weniger darum, Opfern den Rücken zu stärken, sondern nach wie vor darum, Frauen eine spezielle Rolle zuzuschreiben - eine passive Opferrolle eben. Es wäre gefährlich, das von dieser Firma anders zu erwarten. Nur die BenutzerInnen selber können dieses Reproduzieren von Rollen unterlaufen. Mobbing und verbale Gewalt wird unter erhöhtem Arbeitsmarktdruck für alle eine grosse Herausforderung. Sexismus fängt auch schon da an, wo eine Gesellschaft den Wert eines Menschen über seine wirtschaftliche Erfolgs-, Leistungs- oder Konsumfähigkeit definiert.


vorwärts: Feminismus in allen politischen Lagern - sichtbar unter anderem bei den letzten National- und Ständeratswahlen. Wie geht das? Rechte und Feminismus?

Silvio: BDP und Arbeitsbienen-"Frauenpower", der schädliche Mythos von der starken Frau oder Mutter, den zum Beispiel Laurie Penny beschreibt - diese Integration vermeintlicher oder tatsächlicher feministischer Anliegen von Seiten der "grossen" und rechten Politik, in einem momentan weltweit rasant ablaufenden Prozess, in den USA und Europa, zeigt, dass Feminismus nie ausdefiniert oder erledigt sein kann, sondern von den Lebenden verhandelt und auch wiederangeeignet werden muss. Nicht PolitikerInnen, nicht Gesetze können, sollen oder werden primär definieren, wer wir sind oder sein können, sondern wir, im Austausch und in Aktion.

Feminismus hatte aber auch in der Linken, die patriarchalische Muster oft kopiert hat, immer einen schweren Stand, erhält sich aber eben aus dieser Machtkritik heraus bis heute als kritische Instanz eine Glaubwürdigkeit, die die etablierte Linke zum Teil verloren hat.

Und nein, nicht weil Frauen angeblich "von Natur aus" sensibler sind auf Machtstrukturen. Sondern aus solchen kulturellen Erfahrungen innerhalb der Linken heraus waren linke Feministinnen früher als andere offen und wurden aktiv für andere unterdrückte Gruppen. Bei Stonewall waren Lesben "of color" federführend. Und Rosa Parks war nicht Einzeltäterin, sondern eine langjährige Aktivistin, auch im Zusammenhang mit Gewalt innerhalb der Black Community. Solche feministischen Aktivistinnen erhalten zum Teil erst jetzt wieder Sichtbarkeit.

Heute ist das vielleicht das letzte Potential der Linken: einen Feminismus zu praktizieren, der als Machtanalyseinstrument glaubwürdiger geworden ist als die etablierte, ihrer WählerInnen beraubte Linke. Die neoliberale Meritokratie versucht Hierarchien zum Schein aufzuheben, die nur ein wacher Feminismus, nicht aber mehr die parlamentarische Linke potentiell aufdecken kann.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44 - 71. Jahrgang - 4. Dezember 2015, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2015

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