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VORWÄRTS/1176: Das Sommermärchen ist vorbei


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 26. März 2016

Das Sommermärchen ist vorbei

Von Michi Stegmaier


Während tagtäglich in Piräus Hunderte von weiteren Flüchtlingen das europäische Festland erreichen, ist die Balkanroute seit dem 10. März dicht. Dieser Paradigmenwechsel zur alten Politik des Verdrängens und Wegschauens hat sich jedoch schon seit längerem angekündigt.


Seit Wochen wurde entlang der Balkanroute aufgerüstet. Neue Zäune installiert, eiligst Notstandsgesetze erlassen, die Rechtsprechung verschärft, Internierungslager aus dem Boden gestampft und ganze Armeen in Alarmbereitschaft versetzt. Während am griechisch-mazedonischen Grenzübergang Idomeni weiterhin tausende Verzweifelte die Hoffnung nicht aufgegeben haben und weiter ausharren, ist die Balkanroute unterdessen wie leergefegt. Ob im slowenischen Brežice, im kroatischen Slavonski Brod oder serbischen Šid: Bereits seit der Verhängung eines faktischen Einreiseverbots für AfghanInnen am 21. Februar durch Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien, sind die offiziellen Flüchtlingszahlen an der Balkanroute drastisch gesunken. Nun sind sie ganz zum Erliegen gekommen. Die Balkanroute ist dicht, das Sommermärchen vorbei.


Flüchtlinge als Spielball der Macht

Der Druck auf die "Festung Europa" wird in den nächsten Monaten ins Unermessliche steigen, nicht nur für Flüchtende aus Ländern wie Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Viele haben die Gunst der Stunde, dieses merkwürdige Zeitfenster, wo plötzlich alles Kopf stand, genutzt und es nach Europa geschafft. Weitaus mehr werden es nun erst recht versuchen. Sie werden wieder auf viel lebensbedrohlichere Reisewege ausweichen müssen. Schon jetzt spekulieren die globalen MigrationsverwalterInnen über potenzielle Alternativrouten. Bulgarien und Rumänien wappnen sich; der Seeweg von Albanien nach Italien mag verlockend sein, gilt aber schon heute als militärisch bestens gesichert.

Der programmierte Tod von hunderten Schutzsuchenden im Mittelmeer wird bei diesem Sündenbockspiel zynisch in Kauf genommen. Alleine im Januar 2016 sind mindestens 321 Menschen im Ägäischen Meer ertrunken. Gemäss verschiedenen Menschenrechtsorganisationen der "tödlichste Januar" überhaupt, noch nie seien mehr Menschen bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ums Leben gekommen. Eine der AktivistInnen von "Open Borders Caravan" stellte diese Zahl anlässlich des europäischen Aktionstag "Sichere Fluchtwege jetzt!" in Relation zu der ehemaligen innerdeutschen Grenze. "Das Grenzregime der DDR wird zu Recht scharf kritisiert. Doch was die Berliner Mauer in knapp 30 Jahren an Todesopfern produziert hat, geschieht an den EU-Aussengrenzen fast wöchentlich. Das Sterben muss endlich ein Ende haben. Wir fordern sichere Einreisemöglichkeiten für alle!"


Marsch der Hoffnung

Das Sommermärchen mag zwar vorbei sein, was aber bleibt, sind eindrückliche Bilder und starke Momente. Die "Days of Hope" etwa, als am 4. September 2015 rund zweitausend Flüchtlinge im "Marsch der Hoffnung" vom Budapester Bahnhof Keleti in Richtung österreichische Grenze aufbrachen und die europäische Migrationspolitik über den Haufen warfen. Einfach so. Was zuvor noch undenkbar gewesen war, wurde plötzlich zur unfassbaren Realität: Die "Festung Europa" begann zu wanken; die Parole "Refugees Welcome" wurde zur gelebten, politischen Praxis und Teile der Zivilgesellschaft begannen sich (endlich) zu bewegen. Menschen, die zuvor wenig bis nichts mit Politik am Hut hatten, packten plötzlich voller humanistischem Tatendrang und mit ehrlicher Empörung an. Boulevardzeitungen, die in der Vergangenheit nicht unbedingt für ihre ausländerfreundlichen Töne bekannt waren, wurden plötzlich zum Sprachrohr der Flüchtlingsbewegung und geisselten die europäische Abschottungspolitik in ungewohnt scharfen Worten. Und eine deutsche Bundeskanzlerin, vor der man sich, trotz allen Widersprüchen und ideologischen Gräben, zutiefst und respektvoll verneigen muss, ganz ohne nörglerische Zwischentöne. Welch Teufel auch Angela Merkel geritten haben mag, sie hat Eier und eine Vision. Das muss man ihr lassen.


Um Europa keine Mauer

Die Unfähigkeit der EU-Staaten, angesichts der dramatischen Situation und dem unbeschreiblichen Elend auch nur Ansätze von solidarischem Handeln an den Tag zu legen, zeigt, dass die Europäische Union eine leere Worthülse und ein Auslaufmodell ohne Zukunftsperspektiven ist. Und wenn die radikale Linke begreift, dass das alles andere als ein Spiel für Hobbyrevoluzzer ist und gewisse Erkenntnisse in die kommenden sozialen Kämpfe einfliessen lässt, dann ist die Bewegung ein beachtliches Stück weiter.

Letztlich hat eine Debatte und Analyse über Deutschlands Kehrtwende in der Asylpolitik innerhalb einer radikalen Linken verblüffenderweise nie stattgefunden. Die alten und neuen Realitäten der "Festung Europa" wären aus vielerlei Punkten eine Chance, revolutionäre Politik mit Realpolitik und politischem Pragmatismus zu verknüpfen, aus dem selbstgeschaffenen Szenekuchen auszubrechen, gesellschaftspolitisch wieder deutlichere Akzente zu setzen und neue Bündnisse für eine andere Welt zu schmieden. Wie etwa am 11. März in Spanien, als in dutzenden Städten Tausende mit "Schande, Schande!"-Sprechchören gegen den dreckigen EU-Asyldeal mit dem türkischen Sultan Erdogan protestierten. Zu den Protesten aufgerufen hatten sämtliche spanischen Parteien und Hunderte von Basisgruppen. Oder wie etwa am 19. März, als in ganz Europa, Australien und dem Libanon Zehntausende unter dem Motto "Flüchtlinge willkommen" auf die Strasse gingen.

Eines steht schon heute fest: Ob mit oder ohne uns, der grosse Sturm auf die "Festung Europa" wird erst noch kommen. Der aktuelle Deal mit der Türkei zeigt die Perspektivlosigkeit Europas. Die EU macht damit nicht nur den Bock zum Gärtner, sondern handelt äusserst kurzsichtig und panisch. Sollte sich der innertürkische Konflikt in den nächsten Wochen und Monaten weiter verschärfen, dann ist es letztlich nur eine Frage der Zeit, dass sich auch aus der Südosttürkei eine weitere Welle Kriegsvertriebener in Richtung Westen aufmachen wird. Aber soweit mag man derzeit in Brüssel offenbar gar nicht mehr denken.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12 - 72. Jahrgang - 26. März 2016, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2016

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