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VORWÄRTS/1204: Widerstand und Flucht im Fokus des Theaterspektakels


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 15. Juli 2016

Widerstand und Flucht im Fokus des Theaterspektakels

Von Michi Stegmaier


Bereits zum 37. Mal findet auf der Landiwiese das Zürcher Theaterspektakel statt. Auch in diesem Jahr glänzt das Programm durch hochpolitische Beiträge und bietet Raum für Reflexion und Auseinandersetzung.


Die Welt hat sich in den vergangenen Jahren rasant verändert und das zeitgenössische Theater erlaubt einen kritischen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus. Das spiegelt sich auch im Programm des diesjährigen Zürcher Theaterspektakels.

An vielen Orten sind die Hoffnungen auf Aufbruch, Solidarität und mehr individuelle Freiheiten geplatzt und wieder in weite Ferne gerückt. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Krieg, Armut, diktatorischen Regimes und religiösem Fundamentalismus. Umso wichtiger ist es den MacherInnen des Theaterspektakels, den Bühnenschaffenden und KünstlerInnen, die mutig gegen die zunehmend autokratischen und nationalistischen Tendenzen differenziert und selbstbewusst ihre Stimme erheben, eine Plattform zu geben.


Formen des Widerstands

Widerstand in ganz unterschiedlichen Formen ist denn auch einer der thematischen Schwerpunkte in diesem Jahr. So handelt das Stück "Nuit blanche à Ouagadougou" des Faso Danse Théâtre vom offenen Protest gegen ein überaltertes und korruptes Regime in Burkina Faso, das jahrzehntelang die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung ignoriert hat. Ein Aufschrei und eine Abrechnung gegen die Machenschaften von Kirche und Staat ist das Solostück "Acceso" des chilenischen Regisseurs Pablo Larrain. In seinem Beitrag verkörpert der bekannte Regisseur den Randständigen Sandokan, dessen Leben von Missbrauch und Vergewaltigung geprägt ist.

"Wir wollen essen! Wir wollen scheissen!" ist hingegen im Stück des jungen Autors Rogelio Orizondo Thema, das er mit dem Starregisseur Carlos Diaz und dem Teatro el publico auf die Bühne gebracht hat. Basierend auf Versen des kubanischen Nationaldichters José Marti, thematisiert das Schauspiel die aus Unterdrückung und Revolution gewachsene Lebensrealität der kubanischen Bevölkerung. In halsbrecherisch schnellen Szenenfolgen werden Heldenmythos und Heimatliebe gnadenlos zerlegt. Und gleich in mehreren widerständischen Stücken stehen Frauen im Mittelpunkt: Die Regisseurin Laila Soliman aus Kairo präsentiert etwa mit ihrem Frauenensemble die Theaterperformance "Zig Zig". Das neue Stück der jungen Ägypterin beruht auf Gerichtsprotokollen von 1919: Angeklagt waren britische Soldaten, die ein Bauerndorf in Oberägypten überfielen, die Frauen vergewaltigten und die Häuser niederbrannten. Zwölf Frauen, alle Opfer der Vergewaltigungen, hatten damals den Mut, vor Gericht als Zeuginnen aufzutreten. Im Lichte der aktuellen Situation von Frauen, nicht nur in Ägypten, erhält Solimans historische Aufarbeitung ungeahnte Brisanz. Angesichts dessen, dass Vergewaltigung und Missbrauch immer noch zu oft verschwiegen oder verharmlost werden, stellt sich unweigerlich die Fragen: Wie viel hat sich in diesen hundert Jahren verändert?

Ein weiterer Höhepunkt am diesjährigen Theaterspektakel dürfte der Auftritt der bekannten kurdischen Sängerin Aynur sein, die am 26. August auf der Seebühne spielen wird. Sie tritt inzwischen auf der ganzen Welt auf und ihre Videos werden millionenfach angeklickt. Das ist nicht selbstverständlich, den Aynur singt auf Kurdisch. Und das ist in der heutigen Türkei ein starkes Statement.


Aufbruch und Heimatverlust

Ein weiterer Schwerpunkt bilden in diesem Jahr Geschichten rund um Aufbruch, Flucht und Heimatverlust. Milo Rau zeigt mit "Empire" den Abschluss seiner Europa-Trilogie und widmet sich dabei den Biografien von Menschen, die als Flüchtlinge nach Europa kamen oder ihre Heimat an den Rändern der Festung Europa haben. Und während im Stück "Clean City" die rechtsextreme griechische Partei Goldene Morgenröte das Land von allem Migrantischen "säubern" will, fragen sich die beiden griechischen Regisseure Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris: "Wer putzt eigentlich das Land?" In ihrem Dok-Theater berichten fünf Migrantinnen, die in Athen als Putzfrauen arbeiten, was es heisst, in Griechenland sauber zu machen. Und der palästinensische Schauspieler Khalifa Natour eröffnet in seinem Monolog überraschende Blickwinkel auf die aktuelle Flüchtlingskrise. In "I Am Not Ashamed of My Communist Past" machen sich die Theatermacherin Sanja Mitrovic und der Schauspieler Vladimir Aleksic auf die Suche nach den Werten des sozialistischen Jugoslawiens und gehen der Frage nach, was von den damals hochgehalten sozialen Errungenschaften im heutigen Europa noch übriggeblieben ist.

Dies sind nur einige der Höhepunkte in diesem Jahr. Daneben gibt es Gefilde zu entdecken, die alle auf ihre Art atemberaubend sind: Die Choreografin Ingvartsen führt uns in das Reich der Lüste, die Marokkanerin Bouchera Ouziguen macht sich mit vier traditionellen Aïtas auf, den Wahnsinn zu entdecken und der Cirque Inextremiste zeigt, was passiert, wenn einer vom Rollstuhl auf den Bagger umsteigt.


Das 37. Zürcher Theaterspektakel findet vom 18. August bis 4. September statt.

Für Tickets und mehr Infos siehe:
www.theaterspektakel.ch

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 72. Jahrgang - 15. Juli 2016, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2016

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