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VORWÄRTS/1289: Leben, um zu arbeiten?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18 vom 27. Mai 2017

Leben, um zu arbeiten?

von Siro Torresan


Der Ständerat wird über zwei parlamentarische Initiativen befinden, die eine weitere Lockerung der Arbeitszeitregelung vorsehen. Das Ziel der ArbeitgeberInnenseite ist die komplette Liberalisierung der Arbeitszeiten. Dies liegt in der Natur der kapitalistischen Sache. Es müssen Grundsatzfragen, wie die Frage des Klassenkampfs, gestellt werden.


"Was die parlamentarischen Initiativen Graver und Keller-Suter vom März 2016 beabsichtigen, ist nichts weniger als ein Grossangriff auf das bewährte Arbeitsgesetz, wie ihn die Schweiz bis heute nicht gesehen hat", erklärt der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) Paul Rechsteiner an der Medienkonferenz vom 2. Mai. Teilgenommen haben neben Rechsteiner auch Adrian Wüthrich, Präsident Travail.Suisse; Brigitta Danuser, Delegierte Schweizerische Gesellschaft für Arbeitsmedizin; Vania Alleva, Präsidentin Gewerkschaft Unia; Arno Kerst, Präsident Gewerkschaft Syna; und Luca Cirigliano, Zentralsekretär SGB. Diese prominente Besetzung zeigt, dass die Gewerkschaften den Ernst der Lage früh erkannt haben, und sie künden in der gemeinsamen Medienmitteilung den Widerstand an: "Der Schweizerische Gewerkschaftsbund und Travail.Suisse sowie die ihnen angeschlossenen Gewerkschaften, insbesondere Unia und Syna, werden eine solch radikale und einseitige Flexibilisierung der Arbeitszeit in einem breiten Bündnis vehement bekämpfen."


500.000 Beschäftigte betroffen

Um was geht es genau? Die FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter aus dem Kanton St. Gallen fordert in ihrer parlamentarischen Initiative: "Die Arbeitszeiten von Arbeitnehmern mit leitender Tätigkeit sowie von Fachspezialisten in vergleichbarer Stellung, die bei der Organisation ihrer Arbeit und der Festlegung ihrer Arbeits- und Ruhezeiten über grosse Autonomie verfügen, müssen nicht erfasst werden." Keller-Sutter ist unter anderem Vorstandsmitglied des Arbeitgeberverbands. Konrad Graber, CVP-Ständerat aus dem Kanton Luzern und als aufrichtiger Innerschweizer Mitglied im Verwaltungsrat der Emmi-Gruppe, fordert in seiner Initiative unter anderem: "Bestimmte Wirtschaftszweige, Gruppen von Betrieben oder Arbeitnehmern können durch Verordnung von der Einhaltung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit befreit werden." Dieser Vorstoss bedeutet, dass für Kader und SpezialistInnen die arbeitsgesetzlichen Vorschriften für Nacht- und Sonntagsarbeit, zur Dauer der Arbeit und zu den Pausen schlicht gestrichen werden. Sie sollen rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, einsatzfähig und zur Arbeit bereit sein. Nach den Statistiken haben rund 34 Prozent der Beschäftigten eine Kaderfunktion und zwar von der Unternehmensleitung bis hin zu Vorgesetztenfunktionen in Betrieben. Wenn unter FachspezialistInnen Personen mit einem Tertiärabschluss verstanden werden, das heisst mit Hochschul- oder höherer Berufsbildung, beträgt der Anteil der Beschäftigten zwischen 25 und 64 Jahren rund 40 Prozent. So geht die "NZZ" gestützt auf Unterlagen der beiden InitiantInnen davon aus, dass mindestens 500.000 Lohnabhängige in der Schweiz keine geregelten Arbeitszeiten mehr kennen würden.


Auf den Kopf gestellt

Begründet werden beide Vorstösse damit, dass die geltende Arbeitszeitregelung ein alter Zopf sei, und man malt gleich auch den Teufel an die Wand. So ist im Vorstoss von Graber zu lesen: "Die Grundlagen des geltenden Arbeitsgesetzes gehen auf die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts zurück und waren ganz auf die Industrie ausgerichtet (...) und begünstigen die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland." Graber nennt auch ein konkretes Beispiel: "So wäre es nach dem heutigem Arbeitsgesetz unzulässig, um 17 Uhr die Kinder in der Krippe abzuholen, mit ihnen den Abend zu verbringen und um 22 Uhr noch die letzten E-Mails zu beantworten, um am andern Morgen um 8.30 Uhr wieder mit der Arbeit zu beginnen." Graber stellt hier Sinn und Zweck der gesetzlich geregelten Arbeitszeitregelung natürlich komplett auf den Kopf. So hält Adrian Wüthrich vom christlichen Travail.Suisse richtigerweise fest: "Die Bestimmungen im Arbeitsgesetz sowie deren Ausführungsverordnungen sind nicht - wie manche es glauben machen wollen - ungerechtfertigte Paragraphen, die eine aufgeblähte Bürokratie nach sich ziehen, sondern entscheidende Bestandteile beim Schutz der Gesundheit und des Wohlbefindens der Arbeitnehmenden." Aber eigentlich muss man sich bei Graber für dieses Beispiel bedanken, denn er sagt ohne Umschweife, um was es in den beiden Vorstösse wirklich geht: Die Menschen sollen leben, um zu arbeiten und nicht arbeiten, um zu leben!


Hart erkämpfte Regelungen

Die beiden parlamentarischen Vörstösse sind in einer Gesamtstrategie der ArbeitgeberInnen und ihre Verbände einzubetten. So wurde per 1. Januar 2016 die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in der Verordnung zum Arbeitsgesetz für gewisse MitarbeiterInnengruppen bereits gelockert. Aber das genügt der Arbeitgeberinnenseite noch lange nicht und so kommt 15 Monate später der nächste Angriff auf die Arbeitszeitregelung. Keller-Sutter hält in ihrem Vorstoss dazu fest: "Es konnte jedoch keine für alle Branchen und Unternehmen taugliche Lösung umgesetzt werden (...). Dies führt in der Praxis zu Ungleichbehandlungen, weil gewisse Branchen und Unternehmen faktisch von der Möglichkeit der Lockerung der Arbeitszeiterfassungspflicht ausgeschlossen werden."

Graber und Keller-Sutter betreiben Klassenkampf von oben in seiner reinsten Form. Das Ziel der ArbeitgeberInnen ist die komplette Liberalisierung und Flexibilisierung der Arbeitszeiten für alle Lohnabhängigen. Wer dies nicht begreift, ist mehr als nur politisch naiv. Denn dass dies ihr Ziel ist, liegt in der Natur der kapitalistischen Sache: Es ist ganz einfach, der Interessengegensatz zwischen Besitzenden und Lohnabhängigen, den Karl Marx vor 150 Jahren aufgezeigt hat und - wie man so schön am Beispiel von Graber und Keller-Sutter erkennen kann - weiterhin besteht und von grösster Bedeutung ist. Das Problem ist unter anderem, dass die Gewerkschaften diesen Interessenkonflikt nicht beim Namen nennen. Sie führen zwar richtige und wichtige Argumente wie die Gesundheit ins Feld, thematisieren den grundsätzlichen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit jedoch nicht und schon lange nicht mehr. Auch wird nicht daran erinnert, dass die gesetzlichen Regelungen der Arbeitszeiten weder ein Geschenk der Bosse noch Gott gewollt ist, sondern von der ArbeiterInnenbewegung hart erkämpft werden mussten. So war eine der Forderung des Generalstreiks von 1918 die Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden. Somit ist der Angriff auf die Regelungen der Arbeitszeiten auch ein direkter Angriff auf die Errungenschaften der ArbeiterInnen und ihre Gewerkschaften.


Weiterhin Interessengegensatz

Will man den Generalangriff - denn darum handelt es sich tatsächlich - der Arbeitgeberinnenseite abwehren, müssen die Gewerkschaften und die Linken den Klassenkampf aufnehmen und nicht so tun, als sei dies ein alter Zopf. Es ist im Zusammenhang mit der Frage der Arbeitszeitregelung sinnvoll und vor allem von zentraler Bedeutung, sich zu fragen und darüber zu diskutieren, wie heute der Klassenkampf am effizientesten zu führen ist. Dass dabei Initiativen und Referenden nicht genügen, braucht nicht unterstrichen zu werden. Von Vorteil ist die Tatsache, dass sich in den letzten 150 Jahren neben Karl Marx viele weitere grossartige sozialistische DenkerInnen kluge und aufschlussreiche Gedanken zum Interessengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat gemacht haben. Man nennt diese zwei Klassen heute kaum mehr so und die Unterscheidung und Einteilung ist auch um einiges komplizierter geworden. Doch am grundsätzlichen Interessengegensatz hat sich nichts geändert!

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18/2017 - 73. Jahrgang - 27. Mai 2017, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2017

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