Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1304: "Für ein Land, das die BaskInnen schützt"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22 vom 23. Juni 2017

"Für ein Land, das die BaskInnen schützt"

Interview mit Arnaldo Otegi von Rahel Locher


Arnaldo Otegi ist Vorsitzender der linken baskischen Unabhängigkeitspartei Sortu. Sein politisches Engagement brachte Otegi mehrfach ins Gefängnis. Der vorwärts hat den 58-Jährigen vor der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin zum Gespräch getroffen.


Dieses Mal erhielt Arnaldo Otegi kein Ausreiseverbot von den spanischen Behörden. Der Vorsitzende der linken baskischen Unabhängigkeitspartei Sortu sollte schon vor zehn Jahren an der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin einen Vortrag halten. Erst dieses Jahr klappte es - die Jahre zuvor sass Otegi in einem spanischen Gefängnis, von 2009 bis 2016. Und das, obwohl er wesentlich dazu beitrug, dass die baskische Unabhängigkeitsbewegung nunmehr eine friedliche Lösung des Konflikts mit dem spanischen Zentralstaat anstrebt.

Der bekannte baskische Politiker spricht in dem über tausend Personen fassenden Konferenzsaal mit ernsthafter und ruhiger Stimme. Als Erstes bedankt er sich auf Baskisch bei den Anwesenden und hängt bald schon eine kleine Fahne ans Rednerpult: Die herzförmigen Konturen des Baskenlands - teils auf spanischem, teils auf französischem Territorium - und darauf zulaufende rote Pfeile. Der Slogan "Preso eta iheslariak etxera" (Gefangene und Flüchtlinge nach Hause) verweist auf eine zentrale Forderung der baskischen Bewegung.

Otegi schwingt am Rednerpult keine grossen Parolen, benutzt keine ausladenden Gesten. Gleichwohl steht da ein Mann, dessen Durchhaltewillen die mehrjährige Gefangenschaft nicht erschüttern konnte. An die Wand hinter Otegi ist sein Bild an die Wand projiziert - die erhobene Faust und das verschmitzte Lächeln verleihen ihm etwas Kämpferisches und Jugendliches.


Rahel Locher: In den letzten Monaten habe ich mit verschiedenen Menschen über den Fall der baskischen politischen Gefangenen Nekane Txapartegi gesprochen, die in der Schweiz inhaftiert ist. Wenn ich darüber berichte, was ihr vonseiten der spanischen Behörden widerfahren ist, reagieren die Leute insbesondere auf ihre Foltererfahrungen häufig mit Erstaunen. Wie kommt es, dass ausserhalb des Baskenlands die verbreiteten Menschenrechtsverletzungen gegenüber den BaskInnen so wenig bekannt sind?

Arnaldo Otegi: In der internationalen Gemeinschaft wird der spanische Staat als demokratischer Staat angesehen, der die Zeit und damit auch die Methoden der Franco-Diktatur hinter sich gelassen hat. Nach Francos Tod gab es einige Reformen, die der neuen Regierung einen Anschein von Demokratisierung verliehen.


Rahel Locher: Sie ziehen den Demokratisierungsprozess in Zweifel?

Arnaldo Otegi: Es gab keinen klaren Bruch mit dem Franquismus. Als die Franco-Diktatur 1975 endete, wurden zwar eine neue Verfassung verabschiedet und Wahlen abgehalten. Aber die Apparate aus dem Franquismus bestanden fort. Und weder im Militär noch bei der Polizei oder im Justizwesen fand ein Austausch des Personals statt. Es gab also eine personelle und auch institutionelle Kontinuität zwischen der Diktatur und der nachfolgenden Demokratie.


Rahel Locher: Wie zeigt sich das konkret, etwa im zu Spanien gehörigen Teil des Baskenlands?

Arnaldo Otegi: Weiterhin werden die Existenz von Nationen wie der baskischen und unser Recht auf Selbstbestimmung negiert. Auch eine Dynamik der permanenten Repression besteht nach wie vor. Das zeigt sich beispielhaft an Nekane Txapartegis Fall, die schwere Folter erlitt. Ich hoffe, dass ihr Fall es erlauben wird, in der Schweizer Gesellschaft ein Bewusstsein zu schaffen für die permanente Missachtung grundlegender Menschenrechte, mit der wir konfrontiert sind.


Rahel Locher: Dauert diese Missachtung an, obwohl die baskische Untergrundorganisation Eta, die bewaffneten Aktivitäten vor sechs Jahren aufgegeben hat?

Arnaldo Otegi: Ja. Dies zeigt sich etwa bei den Haftbedingungen. Die politischen Gefangenen sind zusätzlich über das ganze Land verteilt. Diese Politik der Zerstreuung richtet sich in erster Linie gegen die Familienangehörigen der Gefangenen, die jedes Wochenende Hunderte von Kilometern zurücklegen müssen, um diese zu besuchen. Es gibt dafür keine juristischen oder politischen Gründe und widerspricht der Maxime, dass Gefangene nahe ihres Herkunftsorts untergebracht werden sollten, um die Resozialisierung nach Verbüssung der Strafe zu erleichtern.


Rahel Locher: Was ist das Kalkül Spaniens?

Arnaldo Otegi: Dem spanischen Staat geht es schlicht und einfach um Rache. Ich möchte noch etwas ansprechen, das für uns völlig unbegreiflich ist: Gegenwärtig sorgen sich viele Menschen in Europa um ihre Sicherheit angesichts der Terroranschläge. Zur gleichen Zeit möchte die Eta ihre Waffen versiegeln lassen und der spanische und französische Staat tun alles dafür, dass dies nicht passiert. Das ist frappierend.


Rahel Locher: Sie haben als Vertreter der baskischen Unabhängigkeitsbewegung an verschiedenen Verhandlungen mit dem spanischen Staat teilgenommen. Glauben Sie an eine Verhandlungslösung?

Arnaldo Otegi: Spanien ist ein Land, dessen Mentalität, Kultur und Politik es aus meiner Sicht verhindert, eine andere Nationalität als die eigene innerhalb der eigenen Grenzen wirklich zu akzeptieren. Die Anerkennung davon, dass Spanien ein Vielvölkerstaat ist, bedeutet für führende spanische PolitikerInnen das Ende Spaniens. Vielleicht erinnert es sie an die Tragödie von 1898, als das Land die meisten seiner verbliebenen Kolonien verlor. Die spanische Politik versucht, eine bestimmte Darstellung des Konflikts mit den BaskInnen durchzusetzen, in dem es klare SiegerInnen und Besiegte gibt.


Rahel Locher: Was geschieht, wenn diese Darstellung infrage gestellt wird?

Arnaldo Otegi: Wenn wir ihre Darstellung nicht akzeptieren, werden wir nach Gesetzen verurteilt, die extra dafür geschaffen wurden: "Apologie der Gewalt, des Hasses, des Terrorismus." Gleichzeitig verletzt Spanien weiterhin die Menschenrechte und betreibt eine Politik des Stillstands, was eine Verhandlungslösung angeht. Unter diesen Bedingungen ist es sehr schwierig, ein Einvernehmen zu finden. Falls sich dennoch eine Möglichkeit bieten sollte, ein gemeinsames Abkommen zu treffen, werden wir diese selbstverständlich nutzen.

Wir wollen einen Prozess voranbringen, der demjenigen Kataloniens gleicht. Wir versuchen, eine grosse demokratische Mehrheit zu organisieren. Dies ermöglicht es dem baskischen Regionalparlament, ein Referendum über die Unabhängigkeit abzuhalten.


Rahel Locher: Ihre Partei hält an der Idee eines unabhängigen Staates fest?

Arnaldo Otegi: Wir sind dafür, einen eigenständigen Staat zu gründen. Dies ist unter anderem eine Folge davon, dass es für uns BaskInnen bis anhin unmöglich war, eine Vereinbarung mit dem spanischen Staat zu treffen, in der die Selbstbestimmung garantiert ist. Wir wollen ein Land und einen Staat für die BaskInnen bilden, der sie schützt und gleichzeitig soziale und nationale Rechte garantiert.


Rahel Locher: Unabhängigkeitsbewegungen beziehen sich mit dem Nationalismus auf ein Konzept, das auf den ersten Blick reaktionär erscheint und dem Rassismus den Weg bereitet. Wie lässt sich dies mit linker, mit sozialistischer Politik vereinbaren?

Arnaldo Otegi: Wir sagen, dass wir keine NationalistInnen sind, sondern IndependentistInnen. Ursprünglich gab es tatsächlich rassistische Positionen im baskischen Nationalismus. Für uns macht es keinen Sinn, eine nationale Befreiungsbewegung aus Elementen zu konstruieren, die ideologisch nahe am Rassismus und an der Xenophobie stehen. Im Gegenteil. Der linke baskische Nationalismus prägte schon vor dreissig oder vierzig Jahren eine spezifische Vorstellung baskischer Nationalität.

Für uns sind alle BaskInnen, die im Baskenland leben und arbeiten und BaskInnen sein wollen. Baskisch sein ist für uns keine Frage von Blut oder Ethnie, sondern eine Frage des Willens. Ich glaube, eine offenere und fortschrittlichere Position ist sehr schwierig zu finden. Wir verfolgen auch eine konsequent antirassistische Politik.


Rahel Locher: Im Rest Europas erleben momentan vielerorts rechte Parteien und Positionen einen Aufschwung. Wie kommt es, dass in Katalonien und dem Baskenland diese rechte Hegemonie nicht so stark ist?

Arnaldo Otegi: Die Unabhängigkeitsbewegungen konnten grosse gewerkschaftliche Mehrheiten schaffen. Deswegen sind die Länder und die Politik fortschrittlicher und es ist schwieriger für die Rechten, die sozialen Rechte zu beschneiden, weil diese Mehrheit existiert. Wir bewegen uns gegen den Strom im Vergleich zum übrigen Europa.


Rahel Locher: Sind die BaskInnen in der Lage, einen Wandel in Europa zu initiieren?

Arnaldo Otegi: Das Baskenland ist ein sehr kleines Land. Wir haben uns die Frage gestellt: Kann sich die Europäische Union demokratisieren? Aus unserer Sicht hat die EU heute keine Mechanismen, um sich zu demokratisieren. Die EU ist ein Hegemonieprojekt einiger OligarchInnen. Aber wir sagen, es ist wichtig, von unten den Versuch der Demokratisierung zu wagen, ausgehend von den kleinen Nationen, Völkern, Staaten. So können wir eine andere EU entwerfen.


Rahel Locher: Sie verfolgen auch die Befreiungskämpfe ausserhalb Europas. Auf Twitter schrieben Sie: "Baskenland und Kurdistan - zwei Völker, ein Kampf!" Was verbindet die baskische mit der kurdischen Bewegung?

Arnaldo Otegi: Wir pflegen langjährige Beziehungen mit verschiedenen Befreiungsbewegungen auf der Welt. Dazu gehört auch die kurdische Bewegung. Im Moment ist es ausserordentlich wichtig, sich mit den KurdInnen solidarisch zu zeigen, weil sie sich in einer sehr schwierigen und auch schrecklichen Situation befinden.


Rahel Locher: Gibt es konkrete Beispiele der Zusammenarbeit?

Arnaldo Otegi: Als ich Parlamentarier war, luden wir das kurdische Exilparlament ein, seine Sessionen im baskischen Parlament abzuhalten. Das kam letztlich wegen des Drucks der Türkei nicht zustande. Noch diesen Monat wird eine Delegation der prokurdischen Partei HDP an einem Kongress von Sortu in Bilbao teilnehmen. Die Türkei und Spanien sind sich ziemlich ähnlich, und zwar in den schlimmsten Dingen: Im Niveau der Repression und der Intoleranz, in der Geringschätzung anderer Nationen und der Zurückweisung von Lösungen, die auf Dialog beruhen.


Rahel Locher: Zurück nach Spanien: In Bilbao wird eine grosse Demonstration stattfinden, die von der spanischen Linkspartei Podemos nicht unterstützt wird.

Arnaldo Otegi: Das ist enttäuschend. Wie jedes Jahr werden Zehntausende von Personen die Freiheit der baskischen politischen Gefangenen fordern. Dass sich Podemos fernhält, bedeutet, der spanischen Rechtspartei Partido Popular Handlungsspielraum zuzugestehen, um an ihrer Hinhalteposition festzuhalten.


Rahel Locher: Wie sind ansonsten die Beziehungen zwischen Sortu und Podemos?

Arnaldo Otegi: Die Entstehung einer spanischen Linken, die das Recht auf Selbstbestimmung respektiert, erfüllte uns mit Hoffnung. Wir gehen davon aus, dass es keine transformatorische Linke im spanischen Staat geben kann, solange sie dieses Recht zurückweist.


Rahel Locher: Die spanische Linke wendete sich gegen die Selbstbestimmung der Völker?

Arnaldo Otegi: Wenn sich nationale Befreiungsbewegungen weit weg befanden, stand ihnen die spanische Linke wohlwollend gegenüber. Sobald es um Unabhängigkeitsbestrebungen in der unmittelbaren Nähe ging, wurde es schwierig. Die spanische Linke unterstützte die Selbstbestimmung der Sahrauis, aber nicht diejenige der BaskInnen. Wir hofften, dass sich dies mit Podemos ändert.


Rahel Locher: Sie selbst waren bereits fünfmal im Gefängnis. Was braucht es unter solchen Bedingungen, um weiterzukämpfen?

Arnaldo Otegi: Es ist ein bisschen traurig, das zu sagen, aber als baskische UnabhängigkeitskämpferInnen sind wir uns immer bewusst, dass wir zu einem bestimmten Moment in unserem Leben gefoltert und inhaftiert werden können. Das ist der Fall bei Tausenden von Menschen, die sich für ein unabhängiges Baskenland einsetzen. Aber wenn sich jemand dazu verpflichtet, für sein Land und seine Leute zu kämpfen, ist diese Verpflichtung wichtiger als die persönlichen Risiken. Diese kann man aushalten.


ZUR PERSON
Arnaldo Otegi (58) ist Vorsitzender der linken baskischen Unabhängigkeitspartei Sortu, eine von vier Parteien im Wahlbündnis Euskal Herria Bildu (EH Bildu). Die Koalition erzielte bei den baskischen Regionalwahlen vom September 2016, hinter dem konservativen Partido Nacionalista Vasco (PNV), 21 Prozent der Stimmen. Weit abgeschlagen sind hingegen die spanischen Traditionsparteien PP und PSE, die jeweils knapp über 10 Prozent erzielten. Otegi war ebenso Vorsitzender der Partei Batasuna, Vorgängerpartei von Sortu, die 2003 verboten wurde. Sein politisches Engagement brachte Otegi mehrfach ins Gefängnis.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22 - 73. Jahrgang - 23. Juni 2017, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang