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VORWÄRTS/1340: Symbolik und Montagen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40 vom 23. November 2017

Symbolik und Montagen

von Sabine Hunziker


Der Film diente in der jungen Sowjetunion als Volksbildungsmittel von ungeheurer Wichtigkeit. Sergei Eisensteins "Oktober" zeigte aufwendig inszeniert und verdichtet die Ereignisse rund um die Oktoberrevolution. Mit der Wahrheit nahm er es darin nicht ganz genau.


Zwischen 1918 bis in die Mitte der 1930er Jahre wurden in der jungen Sowjetunion interessante Filmwerke zum Genre "Revolutionsfilm" geschaffen, die sich als Elemente der sich stetig aufbauenden Revolution etablierten. 1919 verstaatlichte Lenin die Filmindustrie und förderte FilmemacherInnen bei ihrer Arbeit, die mithilfe der Medien die Ideen der Revolution für die Masse begreifbar machen wollten. Einer der bedeutendsten Regisseure war Sergei Eisenstein, der mit Filmen wie "Streik", "Oktober" oder "Panzerkreuzer Potemkin" in Erinnerung geblieben ist. Ziel von Sergei Eisenstein war es, eine neue - zum bürgerlichen schöngeistigen Empfinden konträr - ästhetische Sinnlichkeit zu fördern und statt einzelnen ProtagonistInnen die gesamte proletarische Masse ins Zentrum zu stellen. Bei seinen Bildmontagen wurden mithilfe des Schnittes Effekte produziert, in denen mit Einschüben von Bildern in den Erzähllauf bei den BetrachterInnen bestimmte Assoziationen ausgelöst wurden, die beim Verständnis komplexer Inhalte helfen sollen. Die so entstehenden montierten Bilder fallen als Fremdkörper im Filmverlauf auf, "reizen emotional" durch ungewohnte Bildkombinationen, die "Sachverhalte" analysieren, darstellen, karikieren und zugleich klären.


Die Masse jubelt

Mit der bedeutendsten Szene beginnt der Film: ArbeiterInnen stürmen und zerstören das Denkmal von Alexander III. Dieser Vandalismus steht hier für das Ende der Zarenherrschaft von Nikolaus II., dem letzten Kaiser von Russland. Eine Leiter an den steinernen Thron gestellt, klettern Proletarier Sprosse für Sprosse bis zur Armlehne hoch und über die Schultern der steinernen Figur, um ein Seil um Kopf und Hals zu schlingen. Alle wieder unten, wird mit voller Kraft gezogen, so dass das Monument in Teile zerrissen wird. Eine Masse jubelt - sichtbar sind erst nur Gewehrkolben und Sensen, stellvertretend für die ProletarierInnen und BäuerInnen Russlands, und später erscheint die Schrift auf schwarzem Hintergrund: "Der erste Sieg des Proletariats auf dem Weg zum Sozialismus." "Oktober" von 1927/28 ist einer der bekanntesten Stummfilme des Regisseurs Sergei Eisenstein. Gezeigt wurde die Geschichte vor und während der Oktoberrevolution 1917 anlässlich des zehnten - Jahrestags der russischen Revolution.

Was mit der Februarrevolution und dem Sturz des Zaren beginnt, zieht sich wie in der geschichtlichen Wirklichkeit weiter hin zur eigentlichen Revolution. Doch vorerst tritt an die Stelle der alten Herrschaft ein Nebeneinander von Parlamenten und Arbeiter- und Soldatenräten. Eine provisorische Regierung unter Kerenski wurde bei der Oktoberrevolution abgesetzt. "Oktober" als Chronologie des wichtigsten Ereignisses in der sowjetischen Geschichte besticht nicht nur durch die Menge an Material und SchauspielerInnen, die zum Gelingen dieses Films beigetragen haben. Gerüchten zufolge soll das Budget um das Zwanzigfache höher gewesen sein als das eines Durchschnittfilms in der Sowjetunion. Für die Massenszenen arbeitete der Regisseur zeitweise mit über tausend StatistInnen und fügte auch Filmmaterial von wirklich passierten Demonstrationszügen in seine Erzählung ein. Drehorte waren oftmals Originalschauplätze, die sowjetische Flotte stellte einen Panzerkreuzer zur Verfügung und anderes Armeematerial wie Kanonen und auch Panzerfahrzeuge. Vieles wurde möglich bei den Dreharbeiten, so auch das Abschalten des gesamten Stromnetzes im Stadtgebiet, um wichtige Szenen in der Nacht filmen zu können. Teilweise spielten ProtagonistInnen des Aufstandes sich selbst: So setzte sich Nikolai Podwoiski, Leiter des Petrograder Revolutionsstabes, selbst in Szene.


Verständliche Eingriffe

Obwohl Eisenstein auch BeraterInnen an seiner Seite hatte, die ihn bei der Arbeit der Chronologie der historischen Geschehnisse begleiteten, nahm er sich Freiheiten heraus, um die Geschichte für seine Theorie der dialektischen Philosophie zu verändern. So stürmen die Kampfbrigaden schlussendlich nicht einen Seiteneingang des Winterpalastes, sondern das Haupttor, wo im filigranen Zierwerk eine eiserne Krone und ein Adler zu entdecken sind. Erst klettert ein Arbeiter hoch, um dann die Pforten für alle zu öffnen. Diese Eingriffe in die vergangene Realität der Geschichte sollten Eisenstein später neben weiteren Schwächen zum Verhängnis werden, so dass sowjetische KritikerInnen das Werk ablehnten. Nachträglich unverständlich, da es doch gerade die so eingefügte symbolträchtige Bildsprache ist, die Theoreme des Marxismus visualisieren und verständlich machen.

Schon hier in "Oktober" sind Ansätze sichtbar, nicht einfach Geschichte zu verfilmen, was unter den gegebenen grosszügigen Bedingungen mehr als realisierbar gewesen wäre, sondern das Warum der Revolution ins Zentrum zu stellen und so auch Einbussen beim objektiven "Wahrheitsgehalt" der Darstellung in Kauf zu nehmen. Es erscheinen bei den wenigen Texteinschüben immer wieder die Begriffe Frieden, Brot und Land, als zu erreichende Ziele der Arbeiterbrigaden. In einer Gefechtspause finden sich ProletarierInnen aus allen Winkeln des Landes zusammen, bewegen sich zu vielerlei Tänzen aus den verschiedenen Kulturen der Sowjetunion, trinken und essen und sind miteinander im Gespräch. Hier kommt zu den oben genannten drei Begriffen das Wort Bruderschaft hinzu.


Ein totes Pferd

Kleine gestellte, aber durchaus starke Momentaufnahmen sind es, welche die Verhältnisse charakterisieren und die es während des Films mit geübten Augen zu finden gilt: So ist es doch die russische Oberschicht, welche die Zeitung "Prawda", auf Deutsch Wahrheit, in die Newa wirft, wo die allmählich vollgesogenen Blätter langsam unter Wasser sinken. Die Brücke über genau diesem Fluss, welche die Stadtteile eigentlich verbinden sollte, wird nach einem gescheiterten Angriff der ProletarierInnen hochgezogen. Zurück bleibt ein erschossenes Pferd auf der Strasse, noch im Tode an den Wagen geschirrt. Unwirklich und gespenstisch bewegt sich die Wasserbrücke nach oben, deren Winkelweite immer grösser wird, bis der Mechanismus steht und das hochgezogene Strassenstück nach oben ins Nirgendwo zeigt. Der Leichnam des Pferdes, erst noch durch den hängenden Wagen auf der anderen Seite der hochgehenden Brücke gehalten, gleitet oben am Zenit angekommen langsam aus dem Ledergeschirr, um als geschundene Schindmähre in die Tiefe zu fallen. Hier wird klar, dass es Klassenkämpfe sind, die ausgefochten werden und nicht ein Bürgerkrieg. Über die Leinwand rattert ein Panzer, gestiftet von den BritInnen, und immer hat das Kapital gestützt von Kirche und Zar eine Vielzahl an Waffen aus Stahl, deren SoldatInnen zur Bedienung der Maschinen kaum zu sehen sind, umso mehr die Mündungen, die unaufhörlich schiessen. Schüsse auf die ArbeiterInnen, die bewaffnet mit einfachen Gewehren oder Sensen den Winterpalast stürmen oder auch nur mit Transparenten vor den Bäuchen sich als kolossale Masse in die Innenstadt wälzten. Das Signal für den Klassenkampf und Auftakt der Revolution ist die Signalpfeife des abfahrenden Zuges. Sie erinnert an den plombierten Zugwagen von Lenin und seiner Reise quer durch Europa nach Russland: Die Avantgarde der Revolution kommt!


Klassenunterschiede als Thema

Eisensteins Film hat sich zur Aufgabe gemacht, die Zeit rund um die Machtergreifung der Bolschewiki und den endgültigen Untergang des Zarenreichs verdichtet zu erzählen. In der Realität haben sich Ereignisse überschlagen und Geschehnisse konzentriert. So ist auch Eisensteins Film von einer sehr dichten Bildsprache, die trotzdem nicht an Klarheit verloren hat. "Anspruchsvoll" ist das Wort, das einem einfällt, wenn man den Film schaut. Nicht nur die Revolution ist Thema, sondern Klassenunterschiede, die zu diesem Kampf geführt haben. Zum Beispiel der Arbeiter, der gewaltsam in den Palast eindringt, mit Unkenntnis eine Toilettenanlage mustert und die Rodin-Statue auf dem Sockel anschaut. Eine Spur von Gewalt findet sich auch beim Bürgertum, das vor der zur Innenstadt führenden und jetzt hochgezogenen Brücke steht. Scheinbar automatisch geführte Kanonen feuern auf Frauen und Männer, die nur mit Sensen bewaffnet sind. Die SoldatInnen selber werden mittels Bildmontage mit einer Reihe Kristallgläser gleichgesetzt. "Oktober" ist Klassenkampf gegen wenige Mächtige, die sich breit gemacht haben auf Kosten der anderen. Mitten im Palast hängt das gerahmte Bild, das Jesus mit der Zarenfamilie zeigt - Öl auf Leinwand. Noch zu Beginn verbrennen Priester Weihrauch in Gefässen, verteilen den Rauch im Raum und vernebeln die Sicht um sich herum. Doch dann wird der Winterpalast endgültig eingenommen und der Kamerablick fällt auf eine Wand voller Uhren mit unterschiedlicher Zeitabgabe aus aller Welt: New York, Berlin, London, Paris - die Stunde der Veränderung ist gekommen.


Kerenski als Pfau

Herausragend sind die intellektuellen Montagespiele Eisensteins im Film. Bekanntes Beispiel ist die Darstellung rund um Kerenski, dessen Reitstiefel über den Anzug hoch in den Fokus genommen, gefilmt dann den Weg und der der gesamten provisorischen Regierung in den Sitzungsraum. In diese Betrachtungen hinein sind Bilder eines Pfaus montiert, das Rad offen aufgeschlagen. Auch eine Büste von Napoleon wird in den Filmablauf eingeschoben. Im Salon steht Kristallglas in Reih und Glied, wie auch die Soldaten zur Bewachung vor dem Palast. Gegenpol dazu sind Szenen wie die von Lenin und Trotzki, inmitten ihre GenossInnen an einem langen rechteckigen Tisch versammelt, jeder Entscheid wird per Abstimmung mit dem Heben der Hand entschieden - so auch der Entscheid in die Offensive zu gehen und den Winterpalast zu stürmen. Als die RevolutionärInnen das Gebäude stürmen, geht das Licht bei den Strassenlaternen an und die zuvor dunkle Welt wird wieder hell. Mit der Bildung der provisorischen Regierung wurde im Film symbolisch die zuvor umgerissene Statue von Alexander III. wieder aufgestellt, so erreicht erst jetzt das Proletariat das eigentliche Machtzentrum im Winterpalast. Die Regierung wird am 25. Oktober abgesetzt, Lenin spricht vor der jubelnden Masse und alle machen sich an die Arbeit einen proletarischen sozialistischen Staat in Russland aufzubauen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 - 73. Jahrgang - 23. November 2017, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2017

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