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VORWÄRTS/1361: Mut tut gut - 30 Jahre Wen-Do Zürich


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 07/08 vom 8. März 2018

Mut tut gut - 30 Jahre Wen-Do Zürich

von Wen-Do Zürich


1988 wurde Wen-Do Zürich gegründet. Die in der autonomen Frauenbewegung entwickelte feministische Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungspraxis Wen-Do hat - nicht nur in Zürich - viel bewirkt und entwickelt sich mit dem gesellschaftlichen Wandel kontinuierlich weiter. Immer wieder erhält Wen-Do neuen Aufschwung und befähigt Mädchen* und Frauen*, sich zu behaupten und zu wehren.


Ihren Anfang nahm die feministische Selbstverteidigung "Wen-Do" im Kanada der 1970er Jahre. Von dort aus verbreitete sie sich in der autonomen Frauenbewegung in den USA und Europa sowie in einigen Ländern Asiens und Südamerikas. Aus Diskussionen, Kampagnen, Demos und (militanten) Aktionen gegen Gewalt an Frauen entwickelte sich ein feministisches Verständnis von Selbstverteidigung. Die politische Perspektive war, dass die Frauenbewegung Frauen* - das Sternchen macht sichtbar, dass wir Frauen* und Mädchen* Personen verstehen, die sich weiblich identifizieren, ob cis oder trans - die Kraft verleiht, sich zu organisieren, selbst zu verteidigen und gemeinsam zu befreien. Feminismus wurde als lebendige Theorie und Praxis verstanden, um die Gesellschaft zu verändern und Frauen zu befreien. Zentral war, Männergewalt und Sexismus als Bestandteil patriarchaler Gesellschaften zu begreifen und die Gewalt der (sexistischen) Normalität zu benennen.

So rief die internationale Frauenbewegung 1976 zu einem ersten grossen Tribunal gegen Gewalt an Frauen auf. Über 2.000 Frauen aus 33 Staaten nahmen am viertägigen Treffen in Brüssel teil. Verschiedenste Formen von Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen wurden thematisiert und Simone de Beauvoir begrüsste das internationale Tribunal in ihrer Eröffnungsrede als "ersten Schritt zur radikalen De-Kolonialisierung der Frauen". Das Tribunal hatte eine nachhaltige Wirkung auf die Frauenbewegung in vielen Ländern.


Feministische Selbstorganisierung

Der Einsatz für Gesetzesänderungen war Teil des feministischen Kampfes. Gleichzeitig war den Frauen bewusst, dass Gesetze alleine die Gesellschaft nicht verändern. Deshalb bauten in den 1970ern autonome Feministinnen feministische Strukturen auf, unabhängig von Männern, Parteien und vom Staat. Frauen sollten sich gegenseitig solidarisch darin unterstützen, persönliche und kollektive Wege aus Gewaltverhältnissen zu gehen, sowie gemeinsam gegen sexistische Gewalt und Gewaltstrukturen kämpfen. Es wurden autonome Frauenorte aufgebaut, in denen Frauen Schutz suchen konnten, um sich aus gewalttätigen Beziehungen und Familien zu befreien.

Das erste Frauenhaus in Europa entstand 1971 in England, ab Mitte der 1970er gab es Frauenhäuser in der BRD, seit 1979 auch in der Schweiz. In diesem Kontext wurde die Entwicklung einer feministischen Selbstverteidigungspraxis als notwendig angesehen, da jede Frau ihre Befreiung und Veränderung selbst verwirklichen muss - alltäglich, kollektiv und organisiert. Ein Ziel der feministischen Selbstverteidigung war und ist, dass sich Frauen und Mädchen verteidigen lernen, sodass ein Eintritt in ein Frauenhaus im besten Fall gar nicht nötig wird.


Feministische Selbstverteidigung

"Wen" ist aus dem englischen "Women" abgeleitet und "Do" bedeutet auf Japanisch "Weg". Wen-Do heisst also "Frauen auf dem Weg". Eine Wen-Do-Trainerin beschrieb 1991 ihren Weg der Selbstbehauptung als eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rollen: "Fusstritte, Fauststösse, Befreiungstechniken und diverse Strategien zur verbalen Selbstbehauptung lassen sich bis zur Perfektion im Training erlernen. Aber was ich auf der einen Seite lerne, muss ich auf der anderen ver-lernen. Ich muss die typischen weiblichen Rollenmuster verlassen. (...) Je länger, je mehr stelle ich fest, wie vielschichtig ich doch mit den gängigen weiblichen Sozialisationsmustern verwoben bin. So musste ich dem Prozess des Lernens und Lehrens gleichgewichtig das bewusste Ver-Lernen hinzufügen."

Feministische Selbstverteidigung bedeutet, das Bewusstsein und die Praxis zu verbreiten, dass Frauen* die Kraft und das Recht haben, sich zu verteidigen und bestenfalls patriarchale Verhältnisse zu Fall bringen können. Dazu gehören auch Vorstellungen und Visionen, wie eine Gesellschaft ohne Sexismus aussehen kann.

Feministische Selbstverteidigung beginnt damit, sich selbst und andere Frauen* ernst zu nehmen und persönlich sowie kollektiv für einander einzustehen. Sie heisst, sich der eigenen Grenzen bewusst zu werden und ihre Einhaltung gegenüber anderen einzufordern. Sie bedeutet, Erfahrungen auszutauschen, Erfolgsgeschichten zu erzählen, voneinander zu lernen, gemeinsam Kraft zu entwickeln, Würde zu erkämpfen, sich im Alltag zu verteidigen - beim Zusammenleben, in Beziehungen, in den Nachbarschaften, am Arbeitsplatz, in der Schule, in sozialen und politischen Zusammenhängen. Dies zu vermitteln, ist Basisarbeit und hat zum Ziel, die Selbstorganisierung von Frauen* zu fördern.


Wen-Do in Zürich

Als Frauen der autonomen Bewegung im November 1988 Wen-Do Zürich gründeten, arbeitete eine Trainerin hauptberuflich und an die 80 Frauen trainierten regelmässig. Lesben waren massgeblich an der Entwicklung von Wen-Do beteiligt. In Zusammenarbeit mit dem Nottelefon fand 1989 ein Aktionstag mit Schnuppertraining statt, an dem über 250 Frauen teilnahmen. In der Folge war die Nachfrage so gross, dass monatelange Wartelisten geführt werden mussten. 1990 wurden schliesslich drei weitere Trainerinnen ausgebildet. Das Sozialamt, das zwecks Subventionierung kontaktiert wurde, hatte Interesse am Kurskonzept, aber nicht an einem autonomen Selbstverteidigungszentrum für Frauen und Mädchen. Zur Kooperation wäre Wen-Do bereit gewesen, wollte sich jedoch nicht vereinnahmen lassen, denn "ein uneingeschränkt frauenparteilich ausgerichtetes Zentrum darf nicht in die bestehenden Herrschaftsverhältnisse eingebunden sein" (Wen-Do Zürich, 1989). Die Idee eines Selbstverteidigungszentrums für Frauen und Mädchen verwirklichte Wen-Do im besetzten Kanzleischulhaus. Auf dem Frauenstock wurde ein Dojo eingerichtet. In diesen Jahren entstanden auch Wen-Do Bern, Basel, St. Gallen und Luzern. 1998 erhielt Wen-Do Zürich den Förderpreis der Stadt Zürich zur Gleichstellung von Frau und Mann. Wen-Do Zürich ist nach wie vor ein Kollektiv und führt regelmässige Kurse und Trainings für Frauen*, Jugendliche* und Mädchen* durch. Wen-Do ist in Schulen und verschiedenen Institutionen aktiv, jährlich finden Austausch- und Vernetzungstreffen statt.


Wen-Do im Wandel

Wie die Diskussionen innerhalb feministischer Zusammenhänge, hat sich auch Wen-Do gewandelt. Der Fokus der körperlichen Selbstverteidigung wurde zunehmend in Richtung verbaler Selbstbehauptung und Selbstermächtigung verschoben. Geblieben ist der Anspruch an eine Gesellschaft ohne Diskriminierung - d.h. ohne Sexismus, Rassismus, Homophobie, Antisemitismus, Trans*phobie, Behindertenfeindlichkeit, ohne Ausgrenzung von Alten und benachteiligten sozialen Schichten. Die Wen-Do-Kurse werden weiterhin von Frauen* für Frauen* und Mädchen* geleitet, weil weibliche Sozialisation und sexualisierte Gewalterfahrungen aufgrund des Geschlechtermachtverhältnisses Schwerpunkte der Arbeit sind. Das Konzept von Wen-Do, dass Frauen* nur zusammen solidarisch in einer patriarchalen Gesellschaft etwas erreichen können, zeigt sich auch in der #MeToo-Kampagne. Viele mutige Frauen* machen ihre Erfahrungen sexueller Übergriffe öffentlich und so wird sichtbar, wie oft und wo überall sexistische Belästigung geschieht. Zurzeit vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendwo in Europa und den USA ein einflussreicher Mann aus Politik, Kultur oder Sport seinen Posten räumen muss wegen sexistischer Belästigung und Gewalt. Im Dezember 2017 mussten sechs Abgeordnete in den USA zurücktreten. #MeToo zeigt aber auch, dass die Opfer von Übergriffen oft sehr lange schweigen, angefeindet werden, wenn sie diese öffentlich machen, und nach wie vor alleine dastehen. Die Erfahrungen in den Wen-Do-Kursen zeigen, wie wichtig es ist, sich über die Übergriffe auszutauschen sowie die eigene Handlungsperspektive bewusst zu machen und zu erweitern. In diesem Sinne ist #MeToo ein notwendiger und mutiger Schritt, der in ein kollektives Handeln übergehen sollte - auch ausserhalb der virtuellen Welt.


Selbstverteidigung in Rojava

Den Begriff der Selbstverteidigung ebenfalls mit Bedeutung gefüllt und weiterentwickelt haben kurdische Kämpferinnen. Die Frauenbewegung in Rojava, der demokratischen Föderation in Nordsyrien, beschreibt ihr Verständnis von Selbstverteidigung folgendermassen: "In einer Ära, in der alle Arten der Zerstörung der Frau als systematische Kriegsmittel benutzt werden (...), ist die Notwendigkeit eines neuen Verständnisses von Selbstverteidigung unumgänglich. Selbstverteidigung ist die einzige Form des Überlebens. In einem Zeitalter, in dem die direkte physische Gewalt ein ideologischer Angriff auf die Gesellschaft ist, ist es notwendig, Selbstverteidigung auf alle Dimensionen des Lebens zu erweitern. (...) Selbstverteidigung [muss] eine Neuinterpretation der Geschichte aus weiblicher Sicht umfassen (...) muss ein neues Paradigma der Frauenwissenschaft beinhalten (...) muss den Aufbau ökologischer Alternativen vorantreiben.

In einer Zeit, in der Gewalt und Angriffe auf die Gesellschaft und auf die Frau durch vorherrschende Auffassungen von Wissenschaft, Gesellschaft und Bildung gestärkt werden, muss die Selbstverteidigung die Gründung basisdemokratisch gestalteter sozialer Organisationen und Akademien beinhalten." (Dilar Dirik)


Gemeinsam sind wir stark

Ob in Form von #MeToo, beim alltäglichen Setzen von Grenzen gegen sexistische Übergriffe, als Selbstverteidigungseinheit in Rojava oder in einem Wen-Do-Kurs in Zürich, Apulien, El Salvador: Wirkliche Stärke erreichen wir, indem wir uns solidarisch zusammentun und über soziale, ideologische und geografische Grenzen hinweg für unser Recht auf Selbstverteidigung und Selbstbehauptung einstehen, voneinander lernen und uns gegenseitig unterstützen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 07/08 - 74. Jahrgang - 8. März 2018, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2018

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