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VORWÄRTS/1498: Realitätsfremd und diskriminierend


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 25/26 vom 23. August 2019

Realitätsfremd und diskriminierend

von Damian Bugmann


Asylsuchende LGBTIQ-Personen in der Schweiz und der EU sind oft mit Unwissen und mangelnder Sensibilität der Behörden konfrontiert: Sie werden mariginalisiert und stigmatisiert, ihre Verfolgung wegen sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität wird oft als Trick verstanden und deshalb das Asyl verweigert.

Menschen mit einer Sexualität oder Geschlechtsidentität, die nicht moralisch reaktionären Vorstellungen entspricht, werden in vielen Ländern diskriminiert oder verfolgt. Die schweizerische Praxis gegenüber asylsuchenden LGBTIQ-Personen ist laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH angesichts ihrer Verletzlichkeit ungenügend. LGBTIQ-Asylsuchende flüchten aus ihren Herkunftsländern, weil sie dort Verfolgung und Folter ausgesetzt sind.

Ausgestossen von der Gesellschaft und oft auch von der eigenen Familie, traumatisiert aufgrund früherer Verfolgungen, verspüren asylsuchende LGBTIQ-Personen während der Anhörungen möglicherweise auch Schamgefühle, eine fehlende Akzeptanz der eigenen Person und Misstrauen gegenüber den Behörden. Das kann sich direkt negativ auf ihr Asylgesuch auswirken. Dennoch trügen die Schweizer Behörden laut SFH der Furcht der asylsuchenden LGBTIQ-Personen, ernsthafte Nachteile in ihrem Herkunftsland zu erleiden, nur unzureichend Rechnung.


Unauffällig daheim

Die Flüchtlingshilfe bezeichnet die schweizerische Praxis als problematisch. Es ist in der Praxis immer noch vielen LGBTIQ-Personen nicht möglich, das Geschlecht der am Asylgespräch beteiligten Personen auszuwählen. Entgegen den UNHCR-Richtlinien erachtet es die Schweiz als ungenügend, wenn abweichende Verhaltensweisen im Herkunftsland gesetzlich kriminalisiert werden. Gesuchstellende aus diesen Staaten erhalten in der Schweiz nicht automatisch Schutz. Problematisch sei zudem die Annahme, LGBTIQ-Personen hätten in ihrem Heimatland nichts zu fürchten, solange sie sich "unauffällig" verhalten würden.


... tuntig in der BRD

In Deutschland haben laut einer Studie der Schweizer Anthropologin Dr. Mengia Tschalär von der Universität Bristol muslimische schwule, lesbische, trans oder inter Asylbewerber*innen dort die grössere Chance als Flüchtlinge anerkannt zu werden, wenn sie ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität klischeehaft darstellen, sich auffällig tuntig und deutlich entgegen dem vorgegebenen Geschlechtsklischee verhalten. Zu guten "Asylgeschichten" gehören also "regelmässige Besuche von queeren Discos und Partys, öffentliche Liebesbekundungen und das Tragen von Regenbogenkleidung und ähnliches", wie Mengia Tschalär in ihrer Studie beschreibt. Zudem würden viele Asylsuchende nach ihrem Sexleben befragt, obschon dies nach Vorgaben der EU verboten sei. "Ich stelle mir grad vor, wie ein Syrer, dem in seinem Heimatland wegen seiner sexuellen Orientierung die Steinigung droht, nach erfolgreicher Flucht grad sofort auf offener Strasse mit einem anderen Mann rumknutscht ... Wie realitätsfremd sind eigentlich Mitarbeitende von Migrationsbehörden?", fragt sich Daniel Frey, Kommunikationsverantwortlicher von HAB queer Bern, auf seiner privaten Website stinknormal.blog.


Homo- und Transphobie

Dies bestätigt auch die Studie: Menschen, denen es wegen der Verfolgung in ihrem Heimatland schwergefallen sei, über ihre Identität zu sprechen, hätten sich marginalisiert und stigmatisiert gefühlt. Ihre Asylgesuche "wurden gewöhnlich abgelehnt, ebenso wie solche, die in ihren Heimatländern verheiratet waren oder Kinder hatten", erklärt Mengia Tschalär. Hinzu komme auch, dass viele queere Asylbewerber*innen feststellen mussten, dass amtliche Übersetzer*innen homo- oder transphob sind oder viele Details nicht übersetzt hätten - da ihnen schlicht das Wissen über LGBTIQ-Menschen fehle. Mengia Tschalär fordert in ihrer Studie, dass alle geflüchteten LGBTIQ-Muslime dieselbe Chance auf Asyl haben sollten. Entscheidungsträger*innen, Richter*innen und Übersetzer*innen müssten besser sensibilisiert werden, "damit sie mehr über LGBTIQ-Identitäten wissen und nicht die islamophoben Tendenzen in der Einwanderungspraxis und den Debatten in Deutschland reproduzieren".


Kumulation von Ereignissen

Die Situation in der Schweiz ist ähnlich wie in Deutschland, wie die Informationsbroschüre "Fluchtgrund: Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität" von Queeramnesty zeigt. Diese weist darauf hin, dass die von LGBTIQ-Asylsuchenden geltend gemachten Asylgründe kaum je in ihrer Gesamtheit, sondern als einzelne Ereignisse betrachtet werden. Die Gründe liegen laut Argumentation der Behörden entweder zu weit zurück oder werden als zu wenig intensiv oder nicht glaubwürdig betrachtet. "Dass es die Menge, die Kumulation dieser einzelnen Ereignisse ist, die als Asylgrund ausschlaggebend. ist, wird zu wenig beachtet", schreibt Queeramnesty. So habe beispielsweise ein homosexueller Mann überzeugend geltend gemacht, dass er wegen seines Aussehens bereits als Elfjähriger als Mädchen verschrien wurde und bis zu seiner Ausreise aus dem Heimatland immer wieder Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung und der Polizei ausgesetzt war. Trotzdem wurde sein Asylgesuch abgelehnt: "Dass die Summe dieser Übergriffe über die Jahre hinweg zu einem unerträglichen Druck führte, wurde nicht berücksichtigt".

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26 - 75. Jahrgang - 23. August 2019, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2019

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