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VORWÄRTS/1533: Interview mit Esen Işik - "Ich will die Realität erzählen"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 15. November 2019

"Ich will die Realität erzählen"

von Siro Torresan


Die Schweizer Regisseurin Esen Işik erzählt in ihrem eindrücklichen Film "Al-Shafaq. Wenn der Himmel sich spaltet" die Geschichte von Burak, der als 16jähriger von Zürich aus in den Jihad zieht, von seinem Vater Abdullah, der sich die Schuldfrage stellt und vom Flüchtlingsjungen Malik, der sich fragt, wie es mit seinem Leben weitergehen soll. Im Gespräch mit dem vorwärts erklärt Esen Işik unter anderem, warum alle Opfer sind.


"Wie geht es ihm?", fragt der Abdullah, der Vater von Burak als erstes. Wenig später sieht er seinen 16-jährigen Sohn tot auf dem Bett eines Spitals an der türkisch-syrischen Grenze liegen, gefallen im "heiligen Krieg" für Allah. Aufgewachsen und sozialisiert (wie man so schön sagt) ist Burak in der Partystadt Zürich und gleichzeitig in einer anderen Welt, denn seine Eltern Abdullah und Emine sind strenggläubige Muslime: Das trinken eines Biers gilt bereits als Sünde.

Enden tut der Film an einer türkischen Zollstation. Der Bus, in dem auch Abdullah und Malik bis zur Grenze gefahren sind, fährt weiter. Ob mit ihnen oder ohne sie, bleibt offen. Malik ist ein 11-jähriges Kind, das aus Syrien vor dem Krieg floh. Sein Vater wird von der Terrormiliz IS erschossen, seine Mutter und Schwester verschleppt. Er schafft die Flucht mit seinem älteren Bruder in ein türkisches Flüchtlingscamp. Als sein Bruder durch einen Unfall stirbt, will Malik Selbstmord begehen. In letzter Sekunde wird er von Abdullah gerettet. Mit der Erzählung der drei Schicksale, stellt die Regisseurin Esen Işik viele Fragen und hat bewusst auf eine "Anleitung" mit Happyend verzichtet, wie sie im Gespräch mit dem vorwärts erklärt.


vorwärts: Esen, was waren deine Beweggründe einen Film zu drehen über einen Jugendlichen, der von Zürich aus nach Syrien in den 'heiligen Krieg' zieht?

Esen Işik: Es gibt einen konkreten Auslöser: 2014 informierte mich eine Freundin aus Deutschland, dass ihr Neffe in den Jihad gezogen sei. Er war bereits in der Türkei. Ein 16-jähriger Junge aus Deutschland, dort geboren, dort aufgewachsen, alevitischer Herkunft. Hinzu kommt, dass die Familie aus Dersim kommt, eine linke Hochburg in der Türkei. Ich war daher sehr erstaunt und gleichzeitig war es ein Schlag für mich. Ich fragte mich: Wie ist es möglich, dass ein alevitischer Jugendlicher aus Dersim nach Syrien will, um mit dem IS zu kämpfen? Wie ist das möglich? Ich konnte es wirklich nicht verstehen.

Sein Vater und sein Onkel haben einen politischen, linken Hintergrund. Sie reagieren sehr schnell, sind an die türkisch-syrische Grenze gefahren und haben ihn dort drei Wochen lang in jeder Grenzstadt gesucht. Sie fanden den Jungen, er wartete auf Schlepper. Sie brachten ihn zurück und haben ihn dann beim Onkel in einer anderen Stadt unter Hausarrest gestellt. Er wurde komplett abgeschottet, keine Kontakte zur Aussenwelt, kein Handy und kein Internet.

Ich besuchte den Jugendlichen zwei Mal, nachdem er etwa zwei Monate wieder zurück in Deutschland war. Es war sehr speziell. Ich stellte mir die Frage: Haben wir versagt? Er war ein ganz normaler junger Mann, ein Teenager, nicht dumm, nicht naiv, aber sehr überzeugt von seiner Sache. Am Schluss war ich wirklich wütend auf ihn. Ich war aber innerlich auch hin und her gerissen: Er war ja regelrecht eingesperrt und dies konnte ich auch nicht gutheissen. Ich wollte es der Polizei melden. Ich rief den Vater an, teilte ihm mit, dass ich mit seinem Vorgehen nicht einverstanden sei. Er stellte mir dann die Frage: 'Was hättest du gemacht?' Ja, was hätte ich gemacht? Ich wurde neugierig, traf auch eine andere Familie hier in der Schweiz, die in einem ähnlichen Dilemma sass.

Zu Beginn hatte ich die Vorstellung, dass es bei dieser ganzen Jihad-Geschichte um Jugendliche aus der salafistischen, radikalen Szene handele. Ich war wohl auch durch die Medien manipuliert. Ich begann, mich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen, wobei ich da noch nicht den Gedanken hatte, ein Drehbuch zu schreiben, einen Film zu machen. Mir wurde aber rasch klar: Es gibt kein typisches, klassischen Profilbild des Jugendlichen, der in den Jihad zieht.


vorwärts: Bleiben wir kurz bei diesem 16-jährigen Jugendlichen aus Deutschland. Hat er dir irgendwelche Beweggründe genannt?

Esen Işik: Ein fixer Punkt bei ihm war: Wir kommen in die Hölle, wenn wir nicht für den Islam kämpfen. Dieser Zettel im Film mit den Namen jener Menschen, die wirklich ins Paradis kommen werden, ist tatsächlich von ihm. Er war aber auch sehr am ganzen politischen Teil interessiert. Der Satz aus dem Film 'Die Muslime werden vernichtet, wir müssen uns wehren', ist auch von ihm. Er hat an diese ganze Paradisgeschichte wirklich geglaubt. Er war überzeugt, dass er durch seine Tat auch seine Familie von der Hölle retten würde. Burak sagt im Film einen weiteren Satz von diesem Jugendlichen aus Deutschland: 'Es kann ja nicht sein, dass so viele Menschen falsch liegen.' Damit meinte er alle IS-Kämpfer*innen. Es kann also nicht sein, dass alle jene, die für den Islam in den Krieg ziehen, falsch liegen.


vorwärts: Das ist aber eine Minderheit.

Esen Işik: Ja, natürlich. Im rechtsradikalen Milieu ist es gar nicht so anders, auch dort ist es eine Minderheit. Da muss man wirklich genau hinschauen, denn so eine Auslegung des Islams ist drin, man kann sich nicht trennen.


vorwärts: Was meinst du genau? Was ist im Islam drin?

Esen Işik: Dieses konservative, radikale Islamverständnis. Man kann nicht sagen, dass die fundamentalistische Auslegung des Islams kein Islam ist. Es ist ein Teil davon und dies von Beginn weg, seit Mohammeds Tod, wenn man so will. Es ist im Islam verankert. Natürlich ist ein fundamentalistischer Teil in jeder Religion vorhanden, es ist daher nicht ein islamspezifisches Thema. Die Kreuzritter zogen ja auch im Namen Gottes in den Krieg und heute ist es nichts anderes mit dem IS.


vorwärts: Ist also Burak im Film dieser Jugendliche aus Deutschland?

Esen Işik: Dieser Junge aus Deutschland könnt Burak sein auch wenn die Familienverhältnisse völlig andere sind. Der Junge aus Deutschland ist in einem sehr liberalen Familienumfeld aufgewachsen.


vorwärts: Im Film hingegen ist die Familie von Burak streng religiös.

Esen Işik: Nein, nicht die gesamte Familie, nur der Vater. Die Mutter trägt ein Kopftuch und geht in die Moschee, ja, aber das heisst noch lange nicht, dass sie streng gläubig ist. Der Vater symbolisiert diesen patriarchalisch geprägten Teil des Islams. Das ist eine Realität, der Islam ist durch das Patriarchat geprägt. Es ist daher kein Klischee. Die Mutter verkörpert eigentlich die Frauen, die in diesem patriarchalen System versuchen, zurecht zu kommen. Sie wird natürlich unterdrückt. Es sind sehr viele Frauen davon betroffen, nicht nur muslimische Frauen. Die Tochter Elif rebelliert sogar. Sie ist die einzige in der Familie, die dazwischen geht, als der Vater Burak schlägt, weil er Alkohol getrunken hat. Der grössere Bruder und die Mutter bleiben still und machen nichts. Elif widerspricht auch dem ältesten Bruder. Und es kommt auch ans Tageslicht, dass sie ausserhalb des Hauses ihr Kopftuch abzieht.

Doch zurück zum Vater, er hätte auch ein liberaler sein können. Doch mich hat auch folgender Aspekt interessiert: Wer erzählt die Religion wie weiter? Religion ist auch Kultur, wie wird diese weitergegeben? Im Film überreicht Abdullah seine Gebetskappe an Burak und sagt dabei stolz: 'Ich habe sie von meinem Vater bekommen und jetzt gebe ich sie meinem Sohn weiter'. Am Schluss, das heisst bevor Burak nach Syrien geht, nimmt er die patriarchale Rolle des Vaters in der Familie ein. Es ist Burak, der seine jüngere Schwester verrät, dass sie ausserhalb des Hauses ihr Kopftuch abzieht. Es ist Burak, der sich beim Abendessen beklagt, dass sie etwas später zum Essen erscheint. Hinzu kommt bei Abdullah auch Folgendes - und das ist nicht nur bei Muslimen so: Wenn du Kinder hast, möchtest du als Eltern immer, dass sie deine Werte und Prinzipien übernehmen. Ich zum Beispiel hätte sehr gerne, dass meine Tochter sich politisch engagiert, eine Aktivistin wäre und an Demos geht. Ich habe sie früher auch immer am 1. Mai, am Frauentag am 8. März und an all den vielen Demos mitgenommen. Dies auch in der Hoffnung, dass sie sich dafür interessieren würde. Heute ist sie eine junge Frau und geht lieber in den Ausgang als an politische Manifestationen. Ich gebe zu, dass ich dann sauer bin. Abdulla möchte seine religiösen und auch seine ideologischen Werte weitergeben. Er sagt ja auch im Film, dass von 'einem religiösen Menschen nichts Schlechtes kommen kann'. Und er sagt dies, als er erfährt, dass sein Sohn Burak den Koran auf der Strasse verteilt. Und Abdullah weiss ja, oder ahnt zumindest, welche Kreise hinter der Verteilaktion stecken. Das Ganze ist sehr komplex und betrifft auch mehrere Themen. Es ist nicht möglich, in einem Film von 90 Minuten alle Faktoren zu erzählen, auf sie einzugehen. Wir können daher keine Erklärung liefern, warum diese Jugendliche in den so genannten 'Heiligen Krieg' ziehen. Es gibt sozialpolitische Umstände, aber auch individuelle. Das Wort Zusammengehörigkeitsgefühl hört man in diesem Kontext immer wieder Aber was heisst es wirklich? Was bedeutet das?


vorwärts: Was ist die Botschaft in deinem Film?

Esen Işik: Buh... es ist ganz schwierig, diese Frage zu beantworten. Ich war und bin von meiner Haltung her als Mensch, als Filmemacherin immer sehr weit weg vom ganzen Jihad und dessen Organisationen. Durch meine Recherchen, durch die Gespräche mit den betroffenen Menschen, merkte ich, dass es mehrere Opfer gibt. Burak ist auch ein Opfer. Oder dieser Junge aus Deutschland, der auf einem Zettel schreibt, wen er ins Paradies mitnimmt... Echt, ich habe da gedacht: Das kann doch nicht wahr sein, das kann es doch nicht sein! Ich merkte und begriff, dass man sich mit den Strukturen und Organisationsformen dieser radikalen Szenen befassen muss: Wie sind sie organisiert? Wie funktionieren sie? Wie und vom wem werden sie finanziert? Was sind ihre Ziele? Wie arbeiten sie, wie wollen sie sich verbreiten? Dieser Prozess war für mich ein wichtiger Auslöser, den Film zu machen. Viele Menschen haben das Gefühl, dass diese Jugendlichen, die in den Jihad ziehen, von Geburt an 'böse' sind, so quasi durch eine genetische Vererbung. Dem ist aber bei weitem nicht so. Aber zurück zu deiner Frage: Ich gebe keine Anleitung im Film. Es ist kein Film mit einer klassischen Heldengeschichte, im Sinne von: Ich habe einen Helden, der ein Ziel hat und um dieses zu erreichen, muss er verschiedene Hindernisse überwinden. Dies sind Filme, die man im Kino eigentlich sehr gerne hat. Aber ich wollte das nicht. Die Zuschauer*innen sollen aktiv sein, sie sollen mitdenken, sich selbst Gedanken machen und nachdenken, das ist die Botschaft in meinem Film. Man kann eine Geschichte erzählen und sagen: Da sind all die verschiedenen Puzzleteile, ihr könnt euch mal hinsetzen und das Bild vervollständigen.


vorwärts: Du stellst in deinem Film viele Fragen. Die Hauptfrage lautet: Wer ist schuld? Hast du die Antwort?

Esen Işik: Jein. Man kann nicht durch diese Familiengeschichte eine Antwort finden. Das ist nur ein Teil des Problems, man muss zum Beispiel auch die ganze Geschichte des Nahen Ostens anschauen, auch was auf der politischen Ebene geschah und heute geschieht. In den Gesprächen, die ich mit den Familien führte, tauchte immer wieder eine Frage auf: Die ganze Welt kämpft gegen den IS, wie ist es möglich, dass er nicht besiegt wird?


vorwärts: Fragen über Fragen. Hast du nach Antworten gesucht, aber dabei nur Fragen gefunden?

Esen Işik: Ich versuche auch Antworten zu geben. Wenn man die Figur des Leichenwagenfahrers nimmt, er erzählt, dass auch aus seinem Dorf drei Jugendliche in den Jihad gezogen sind. Er fragt sich, was sie da verloren haben. Er beklagt sich darüber, dass der Krieg von 'fremden Kräften' geführt wird. Er stellt dem Vater vom Burak viele Fragen: 'Warum hast du nicht besser auf deinen Sohn aufgepasst?', 'Warum hast du es nicht verhindert?', 'Wie konntest du es nicht sehen?'...


vorwärts: Entschuldige bitte, dass ich dich unterbreche: Aber das sind auch wieder Fragen und keine Antworten.

Esen Işik: Ja, aber man kann durch die Fragen, durch die Fragestellung auch die Antworten geben. Es gibt mehrere Ebenen im Film, bei denen ich versucht habe, meine Haltung zu verknüpfen. Die Szene mit dem Leichenwagen und den zwei Särgen hinten drauf, ist so eine.


vorwärts: Warum Burak sich derart radikalisiert, das heisst der Auslöser, bleibt unklar. Es gibt keine Schlüsselszene dazu.

Esen Işik: Ja richtig. Das wäre dann so eine Art Stempel gewesen, den ich Burak, aber auch dem Film aufgesetzt hätte. Dies wäre zu vereinfacht dargestellt, denn die Gründe der Radikalisierung sind sehr individuell, sehr unterschiedlich. Ich hätte den Zuschauer*innen eine Anleitung gegeben, ihnen den Grund der Radikalisierung genannt und so müssten sie sich keine grossen Gedanken mehr dazu machen. Es wäre so ein Film nur zur Radikalisierung selbst geworden. Ich habe bewusst auf eine Schlüsselszene verzichtet, um auch hier wieder das Publikum zum Nachdenken anzuregen. Wobei ich im Drehbuch einige Szenen mehr hatte, die auf die Radikalisierung von Burak eingingen, zum Beispiel in der Moschee oder von den Gruppenaktivitäten der jungen Männer, die sich am radikalisieren waren. Beim Schneiden des Films im Studio merkte ich dann aber: Nein, das ist klischeehaft.


vorwärts: Burak informiert seine Eltern, dass er in den Jihad zieht mit einer Sprachnachricht per Handy. Er spricht dabei auf Schweizerdeutsch. Ist die Tatsache, dass er diese Sprache wählt, eine Schlüsselszene im Film?

Esen Işik: Ja, das ist es, ganz klar. Auch hier ist ein globaler Blick nötig. Jugendliche aus Syrien, Irak, Iran oder Afghanistan sind wegen den Kriegen mit Gewalt aufgewachsen. Aber wenn wir von Jugendlichen aus Westeuropa sprechen, ist dies anders. Sie sind zum Teil bereits die dritte Generation. Sie sprechen die Sprache, haben eine Lehre oder einen Job, die Integration in diesem Sinne ist daher kein Thema mehr. Sie sind ein Teil unserer Gesellschaft oder besser gesagt: sie sind unsere Gesellschaft. Die Sprache beschreibt auch die Identität, es ist die Sprache ihrer Gefühle. Daher war für mich klar und wichtig, dass Burak diese Botschaft auf Schweizerdeutsch sagt. Das habe ich ganz bewusst so gewollt.


vorwärts: Du gibst dem Vater, also Abdullah, eine zweite Chance durch die Begegnung mit dem syrischen Flüchtlingsjungen Malik. Warum?

Esen Işik: Damit er sich mit dem Schuldgefühl
auseinandersetzt.


vorwärts: Und wie tut er das?

Esen Işik: Abdullah ist ein Mann, der sehr religiös und sehr verbunden mit seiner Religion ist. Muslime glauben, dass alles von Allah kommt, also alles gottgewollt ist, dass er alles entscheidet. Und bereits in einer der ersten Szenen im Film, am Sterbebett seines Sohnes, fragt Abdullah seinen Gott: 'Was habe ich dir angetan? Ist das deine Gerechtigkeit?' Im Islam ist dies eine grosse Sünde, denn man darf die Entscheidungen Allahs nicht infrage stellen. Abdullah beginnt sich somit die Frage zu stellen: Wer ist schuld? Er sucht bei sich selbst aber auch darüber hinaus, er versucht, das Ganze anzuschauen. Für mich war es wichtig, die folgende Frage zu thematisieren: Kann sich ein Mensch ändern und sich mit sich selbst und mit Gott, also seiner Religion, auseinandersetzen? Ich bin nicht religiös, wurde auch nicht so erzogen. Meine Eltern haben eine alevitischen Herkunft, aber mein Vater war ein überzeugter Atheist. Ich begann an der Uni in Istanbul Psychologie zu studieren und im Parallelfach Islamwissenschaft, um das islamische Recht besser zu verstehen. Viele Sachen sind da sehr schwierig zu begreifen, wenn man dazu eine andere Haltung im Leben hat. Aber es ist sehr wichtig zu verstehen, warum im Islam gewisse Sachen so funktionieren, wie sie eben funktionieren. Es gab Momente in den Gesprächen mit den Menschen, da begriff ich: Es ist für sie logisch, dass sie so denken und so handeln. Es ist ihr Halt. Dies zu verstehen, ist, wie gesagt, nicht immer ganz einfach.


vorwärts: Der Film hat kein Ende, er lässt die Geschichte offen: Man erfährt nicht, was mit Abdullah und Malik geschieht. Warum nicht?

Esen Işik: Was passiert mit Abdullah, bekommt er eine Busse? Oder bleibt er in der Türkei, um Malik zu helfen. Kommt Malik in die Schweiz oder muss er zurück ins Flüchtlingscamp? Wenn du den Schluss des Films unter diesen Aspekten anschaust, dann ja, dann kannst du dir viele Gedanken machen aber auch deinen Wünschen freien Lauf lassen.

Im Drehbuch hatte ich kein offenes Ende. Vorgesehen war, dass Abdullah mit Malik in die Schweiz kommt, und zwar mit einem Auto, das Abdullah in der Türkei gekauft hatte. Die letzte Szene im Drehbuch spielte auf jener Raststätte, auf der Burak seinen Eltern mitteilt, dass er in den Jihad zieht. Abdullah und Malik kommen dort an, so stand es ursprünglich im Drehbuch. Doch, zwei Wochen vor den Drehaufnahmen, hatten wir keine Drehbewilligung von der Türkei erhalten. Das war sehr schwierig, ich musste einige Szenen rausnehmen, andere umschreiben. Auch gab es Probleme mit der Reisebewilligung für Malik. Er war in Istanbul angemeldet und bekam keine Erlaubnis, die Stadt zu verlassen - das heisst, es war alles sehr kompliziert. Wir wollten von der türkischen Behörde eine Ausreisebewilligung für ihn bekommen, damit er in die Schweiz kann. Die Türkei weigerte sich jedoch, eine auszustellen - und die Schweiz stellte keine Einreisebewilligung aus ohne eine Ausreisebewilligung. Es hat wahrscheinlich auch mit dem Film zu tun, aber die genauen Gründe kenne ich nicht. Filmtechnisch wäre es natürlich trotzdem möglich gewesen, eine Szene zu drehen, bei der Malik in der Schweiz ist, er eine Zukunft hat und so weiter. Das wollen viele sehen. Aber ich habe mir dann gesagt: Nein, die Grenzen sind zu, das ist die Realität. Mein Darsteller Malik hat ja nicht mal die Stadt verlassen können und auch sonst ist es eine Realität, dass für viele Menschen auf der Flucht die Grenzen geschlossen sind. Ich will daher nicht was anderes erzählen. Ich will die Realität erzählen. Deswegen habe ich während dem Drehen den Schluss umgeschrieben.


vorwärts: Und diese Realität soll zum Nachdenken anregen?

Esen Işik: Ja, warum auch nicht? Warum sollte die Realität nicht zum Nachdenken anregen?

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 75. Jahrgang - 15. November 2019, S. 8-9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2019

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