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VORWÄRTS/1556: Meer als Synonym für Flüchtlingstragödie


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 01/02 vom 17. Januar 2020

Meer als Synonym der Flüchtlingstragödie

von Sabine Hunziker


Gerade Flüchtlinge zeigten uns auf, indem sie die Grenzen niederrissen, dass die europäischen Grenzen niemals fielen. Bostjan Videmsek skizziert in seinem Buch "Auf der Flucht" die Geschichte von Flucht und Migration ab 2005 bis heute skizziert.


In Videmseks Buch sind Reportagen über Fluchtursachen, Tragödien in den Flüchtlingslagern oder dem Sterben auf dem Mittelmeer gesammelt: "Die Geschichte der Flüchtlinge wird eine Geschichte von morgen sein", schreibt der Autor, wie auch von heute und gestern. Doch sein Buch "Auf der Flucht - Moderner Exodus ins gelobte Land" beinhaltet nicht nur Reportagen von den Geflüchteten, sondern auch "von uns". So erzählt er von Rassismus und Populismus in Europa, aber auch vom Engagement der ehrenamtlichen Helfer*innen, die menschliche Werte verteidigen.


Schiffstragödien

Lampedusa ist nur eine der Stationen, die mit einem Beitrag ab 2006 beschrieben wird. Die der afrikanischen Küste nahegelegene Mittelmeerinsel war schon immer Ziel von Flüchtlingen und Migrant*innen. Auf alten Fischkuttern, Gummibooten und Segelbooten schlugen sich Menschen von der Küste in Richtung Europa durch. Trotz der kurzen Distanz hiess dies: mehrere Tage auf dem Meer verbringen. Schiffsmotoren gingen kaputt und Menschen starben vor Hunger und Durst. Und nirgends Hilfe. Videmseks Protagonist*innen waren auf einem Fischkutter, auf welchem normalerweise höchstens vierzig Leute Platz gehabt hätten - nun fuhren 120 Menschen nach Italien.

Bei einer anderen Geschichte ging der Motor knapp nach einem halben Tag auf See kaputt. Das alte überlastete Motorboot trieb verloren auf dem offenen Meer. Telefone funktionierten nicht. Flüchtlinge waren ohne Wasser und Nahrung. Nachts kalt und windig - tagsüber brannte die Sonne heiss. Die maltesische Küstenwache kam nach Tagen zu Hilfe und lieferte die Reisenden einem libyschen Schiff aus, das auf dem Rückweg war. Damals hatten es solche Geschichten noch nicht oft auf die Titelseiten der Magazine geschafft.


"Flüchtlingsmanagement"

Andere hatten weniger "Glück": Bostjan Videmsek berichtet von einem Unglück, bei dem vor der libyschen Küste etwa 800 Flüchtlinge ertranken, weil auch hier der Motor ausgefallen war. Hubschrauber der Nato flogen über sie hinweg und auf allen Radaren der Küstenwache war die missliche Lage zu sehen - doch niemand kam zu Hilfe. Geflüchtet vor Krieg und Elend auf dem afrikanischen Kontinent, starben die Menschen nun im Meer - vor den Ufern Europas.

Ein Zeitsprung im Buch ins Jahr 2010 zeigt, dass sich nichts geändert hat. Im Gegenteil: von der nordafrikanischen Küste kamen immer mehr "neue und neue" Migrant*innen nach Lampedusa. Im unzugänglichsten Teil der Insel war ein Lager errichtet worden und das "Flüchtlingsmanagement" gehörte zur Inselroutine. Klar war, dass die Krise schlimmer werden würde und noch grössere Tragödien nicht mehr lange auf sich warten liessen. "Wir wollen niemandem etwas tun. Wir wollen nur leben", sagte einer der Geflüchteten zu Videmsek.

Im Frühling 2015 erreichte die Tragödie im Mittelmeer einen Höhepunkt. Libyen war dabei wichtiger Punkt, denn hier begann für Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten die Flucht nach Europa. Alleine in der ersten Aprilhälfte ertranken auf dem Weg von Libyen nach Lampedusa und Sizilien mehr als tausend Menschen. An einem einzigen Wochenende, an dem Videmsek in Sizilien weilte, rettete die italienische Küstenwache fast 8500 Menschen vor dem Ertrinken. Es gibt viele Arten zu sterben im Meer: Am 24. April versank ein Schiff mit 550 Flüchtlingen. Männer*, Frauen* und Kinder erstickten zuerst in den Räumen, um dann ganz in den Wasserfluten zu verschwinden.


Sie haben überlebt!

Das Mittelmeer verwandelte sich langsam in ein Massengrab. Mindestens Zehntausend Menschen sollen seit Beginn Winter 2011 bis Ende 2015 umgekommen sein. Zu diesem Zeitpunkt warteten nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) an der Küste Nordafrikas etwa eine halbe Million Menschen, um nach Europa zu gehen. Ein Teil davon wählte später die sogenannte Balkanroute, die der Mittelmeerroute zu dieser Zeit schon "Konkurrenz" machte. Eine Anwältin meinte zu Videmsek: "es gibt zwei Strategien in der Flüchtlingsfrage. Die eine ist politischer Natur. Die funktioniert nicht. Die Institutionen arbeiten langsam, schwerfällig und reagieren nicht auf die Probleme ...

Die andere Strategie ist eine zivile, staatsunabhängige. Hier gibt es viele Initiativen, in die wir unsere Hoffnung für die Zukunft setzen". Eine davon ist die Privatinitiative MOAS (Migrant Offshore Aid Station). Das Ehepaar Catrambone hatte ein Schiff gekauft, um Menschen zu retten. Bereits in den ersten Wochen im Mai 2014 gelang es den Aktivist*innen unter Mithilfe von Ärzte ohne Grenzen (MSF) 1500 Menschenleben zu retten. Die Aktion basierte auf einer unmittelbaren, sofortigen Rettung. Menschen sterben vor den Toren Europas: "Es ist unsere ethische und moralische Pflicht, etwas dagegen zu unternehmen."


"Auf der Flucht - Moderner Exodus ins gelobte Land":

Bostjan Videmsek
(KLAK Verlag) ISBN: 9783943767704

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02 - 76. Jahrgang - 17. Januar 2020, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts,
PdAS und ihre Deutschschweizer Sektionen
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2020

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