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VORWÄRTS/1567: Ni una menos - eine weltweite Bewegung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 07/08 vom 28. Februar 2020

Ni una menos - eine weltweite Bewegung

Von Frauenstruktur des Revolutionären Aufbau


Aus Südamerika schwappt eine Bewegung über den Globus, welche das Schweigen zu Femiziden bricht, Täter und patriarchale Machtverhältnisse benennt und den Betroffenen eine Stimme gibt: Ni una menos - weil Femizide mehr sind als "Beziehungsdelikte"!

Gewalt an Frauen hat viele Gesichter: Sei es Genitalverstümmelung, Ehrenmorde, Säureangriffe, sexualisierte Übergriffe, psychischer oder physischer Missbrauch, Folter, Zwangsprostitution, Zwangsheirat, häusliche Gewalt oder die gezielte Tötung weiblicher Föten. Weltweit haben viele Gesellschaften lange genug zu geschlechterspezifischer Gewalt geschwiegen. Deren Endform, die Tötung von Frauen und Mädchen, wurde vertuscht, verschwiegen, verharmlost und der strukturelle Charakter nicht anerkannt.

Ni una menos, nicht eine weniger, lautet der Slogan einer Bewegung, welche sich nun Gehör verschafft und sich lautstark, militant und unablässig gegen Frauenmorde, sexualisierte und häusliche Gewalt sowie deren Verharmlosung in Medien, Gesellschaft und Politik zur Wehr setzt. Die Aktionsformen sind dabei sehr divers und reichen von Flashmobs zu Blockaden, Massendemonstrationen oder Performances.


"Nicht eine Tote mehr"

"Ni una menos" leitet sich aus einem Gedicht der mexikanischen Dichterin und Aktivistin Susana Chavez ab. Sie prägte im Protest gegen die steigende Zahl an Femiziden in Ciudad Juárez den Satz "Ni una muerta mas", was so viel bedeutet wie "nicht eine Tote mehr". Die Dichterin selbst wurde 2011 ermordet und der Satz letztendlich auch dadurch zum Symbol des Widerstandes.

Ihren Ursprung als politische Bewegung hat Ni una menos in Argentinien. Von dort verbreitete sich die Bewegung, die sich selbst als "kollektiver Aufschrei gegen machistoide Gewalt" bezeichnet, quer durch Lateinamerika aus. 2015 organisierte die Gruppierung den ersten Massenprotest, um auf die Vergewaltigung und den brutalen Mord an der 16-jährigen Lucia Perez in Mar del Plata aufmerksam zu machen. Der genannte Fall ist an Grausamkeit kaum zu überbieten - sie wurde gepfählt -, gehört jedoch in der Region zur traurigen Normalität. Die Proteste dagegen führten zu weiteren Demonstrationen in Peru, Bolivien, Chile und weiteren Ländern Süd- und Zentralamerikas.

Als Ni una menos als Bewegung am International Women's Strike vom 8. März 2017 in Washington teilnahm, wurde die Bewegung auch in der westlichen Welt bekannt und zum Symbol eines dringend nötigen, unnachgiebigen Frauenkampfes.


(K)ein Mord unter vielen

Doch warum braucht es eine Bewegung wie Ni una menos? Ist der Fokus auf die geschlechtlich definierte Opfergruppe notwendig? Die Antwort ist ja, denn Femizid ist mehr als nur der Mord an ein paar Frauen. Gewalt an Frauen passiert quer durch alle sozialen Milieus hindurch und auch wenn sich die Formen unterscheiden, ist es ein Phänomen, welches Frauen jeden Alters betrifft. In der Schweiz berichten zahlreiche Frauen, in einer professionellen Einrichtung bereits Opfer von Missbrauch und Gewalt geworden zu sein.

Auch im häuslichen Kontext tritt sexualisierte Gewalt bei Mädchen deutlich häufiger auf als bei Jungen. Sogenannte Ehrenmorde gelten fast ausschliesslich Frauen und Mädchen. Femizid ist deswegen nicht einfach der Mord an einer Frau, Femizid ist der grausame Ausdruck eines gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses, in welchem die Frau als Eigentum des Mannes betrachtet wird. Diese strukturellen patriarchalen Machtverhältnisse bestehen weltweit weiterhin fort. In vielen Ländern ist das grösste Gesundheitsrisiko für Frauen und Mädchen immer noch Gewalt durch einen Mann und nicht Hunger, nicht Krankheiten, nicht Unfälle, sondern gezielte Gewaittaten und Morde, sexualisierte Übergriffe, physische und psychische Ausbeutung. Keine Frau sollte um das Recht kämpfen müssen, frei von physischem oder psychischem Schaden leben zu dürfen - oder für das Leben überhaupt. Aber Gewalt gegenüber Frauen ist von Russland bis nach Argentinien ein epidemisches Phänomen, welches den geltenden patriarchalen Gesellschaftsstrukturen im herrschenden System innewohnt und dem nicht einfach durch eine härtere Gesetzgebung entgegengewirkt werden kann. Diese Gewaltverhältnisse betreffen auch LGBTIQ* (Lesben, Gays, Bisexuelle, Transmenschen, Intersexuelle, Queers). Jedes Jahr werden rund um den Globus Tausende Menschen wegen ihrer sexuellen und geschlechtlichen "Abweichungen" geschlagen, belästigt, vergewaltigt, gefoltert, eingesperrt oder umgebracht.

Ni una menos muss sich nun als Bewegung etablieren, reproduzieren und dabei versuchen, nicht von parlamentarischen Kräften eingenommen und missbraucht zu werden, denn auch mit dem Thema Frauenmord lässt sich gut bürgerliche Politik machen. Doch solange das System, welches patriarchale Machtverhältnisse täglich reproduziert, nicht im Kern angegriffen wird, und Täter ungeschoren oder mit kleinen Strafen davonkommen, wird sich kaum etwas ändern.


Oft der (Ex-)Partner

In Deutschland starben seit 2015 jährlich zwischen 300 und 450 Frauen durch das, was auf Wikipedia "partnerschaftliche Gewalt" genannt wird. In Argentinien wird alle 32 Stunden eine Frau durch einen Mann ermordet. Jeden Tag werden schätzungsweise zwölf Frauen in Südamerika Opfer von Femiziden. In Afghanistan wird an Frauen, die über ihre Vergewaltigung sprechen, oftmals Ehrenmord verübt. In Indien wurden zwischen 2007 und 2009 über 8000 sogenannte Mitgiftmorde an Ehefrauen gemeldet, die Dunkelziffer mag ein Mehrfaches davon betragen. In Italien wird jeden dritten Tag eine Frau ermordet. Politik und Medien finden nur selten eine akkurate Sprache, dass überhaupt von Femiziden gesprochen wird, ist eine neue Entwicklung, die vor allem auf den stetigen Druck der aktuellen Frauenbewegungen und das fortlaufende Anprangern dieser Umstände durch Aktivistinnen zurückzuführen ist. Gewalt an Frauen und Femizide sind keine Beziehungskonflikte, keine Tötungen aus Leidenschaft und erst recht keine Liebesdramen. Wer diese Sprache wählt, lenkt vom Kern der Sache ab: Männer töten gezielt Frauen und ein Grossteil dieser Taten passiert im familiären Kontext, durch den Vater, den Partner, oder den Expartner. Aus einer WHO Studie lässt sich erkennen, dass weltweit 35 Prozent der Morde an Frauen durch einen intimen Partner verübt wurden, die WHO spricht in diesem Fall von "intimen Femiziden".

Laufende und vergangene Beziehungen sind für Frauen oftmals lebensgefährlich. In der Schweiz wird durchschnittlich alle zwei Wochen ein Femizid verübt. Seit 2009 wurden hierzulande schätzungsweise 186 Frauen durch häusliche Gewalt getötet. Der Helvetiaplatz in Zürich wurde im vergangenen Jahr von der Ni una menos Gruppierung in Zürich zum Ni una menos Platz umbenannt. Wird eine Frau in der Schweiz ermordet, finden sich nun jeweils kurze Zeit später Aktivistinnen auf dem Platz ein, um ihr zu gedenken und den oftmals namenlosen "Müttern", "Schwestern" oder "Partnerinnen" aus der Tagespresse ein Gesicht zu geben und der Öffentlichkeit aufzuzeigen, wer es war, der hier zu einem weiteren Opfer patriarchaler Gewalt wurde: Eine Frau wie du und ich.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 07/08 - 76. Jahrgang - 28. Februar 2020, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2020

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