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WILDCAT/034: Weltarbeiterklasse


Wildcat 98 - Sommer 2015

Weltarbeiterklasse


Aufstand oder Klassenkampf?

Der Klassenbegriff hat wieder Konjunktur. Seit der jüngsten Weltwirtschaftskrise fragten sogar bürgerliche Zeitungen: "Hatte Marx doch recht?" Seit zwei Jahren steht mit Thomas Pikettys "Das Kapital im 21. Jahrhundert" ein Buch auf den Bestsellerlisten, das ausführlich nachweist, wie der kapitalistische Akkumulationsprozess historisch zur Konzentration des Reichtums in den Händen einer winzigen Minderheit von Vermögensbesitzern geführt hat. Die gravierende Ungleichheit auch in den westlichen Demokratien lässt die Angst vor Aufständen wachsen. Dieses Gespenst ging in den letzten Jahren beständig um - von Riots in Athen, London, Baltimore bis zu den Revolten in Nordafrika, die auch mal Regierungen hinwegfegten. Und wie immer in solchen Zeiten ruft eine Fraktion der Herrschenden nach Repression und Waffen, die andere thematisiert die "Soziale Frage", die man endlich mittels Reformen und Umverteilungspolitik angehen müsse.

Die globale Krise hat den Kapitalismus delegitimiert; die Politik der Herrschenden und Regierungen, die Krise die ArbeiterInnen und Armen bezahlen zu lassen, hat zu Wut und Verzweiflung geführt. Wer wollte noch bestreiten, dass wir in einer "Klassengesellschaft" leben? Aber was bedeutet das?

"Klassen" im engeren Sinn entstehen erst mit dem Kapitalismus. Aber die Trennung von den Produktionsmitteln, die die Eigentumslosigkeit der Proletarier begründet, war kein einmaliger historischer Vorgang. Sie wird tagtäglich im Produktionsprozess vollzogen: die ArbeiterInnen produzieren, aber das Produkt ihrer Arbeit gehört ihnen nicht. Sie bekommen nur das, was zu ihrer Reproduktion als Arbeitskraft notwendig ist bzw. was sie sich an Lebensstandard erkämpft haben.

Klassengesellschaften kennen im Prinzip keine per Geburt erworbenen Privilegien, der Besitz von Geld entscheidet über die soziale Stellung. Sie ermöglichen im Prinzip den Aufstieg vom Tellerwäscher zum Börsenspekulanten (oder zumindest zum Kleinunternehmer, das ist die Hoffnung vieler MigrantInnen). Genauso können Kleinbürger oder selbstständige Handwerker in die Reihen der Eigentumslosen absteigen. Aufstieg ist allerdings selten das Ergebnis eigener Arbeit, sondern der Fähigkeit, selbst zum Kapitalisten zu werden und sich die Arbeit anderer anzueignen. (Auch die Mafia verfügt über diese Fähigkeit.)

Tatsächlich findet ein Prozess der Klassenpolarisierung statt, in dem schon Marx und Engels eine explosive Kraft und die Voraussetzung zur Revolution sahen. "Die proletarische Bewegung ist die selbstständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl." (Manifest) Immanuel Wallerstein nannte Marx' Hypothese über die Polarisierung der Klassen seine radikalste, die sich auch - auf das Weltsystem bezogen - als richtig erwiesen habe; Polarisierung heißt auf der einen Seite Proletarisierung, auf der anderen Seite Bourgeoisifizierung.

Kapital ist nicht einfach Vermögen, das sich in den Händen weniger sammelt. Das Kapital ist Voraussetzung und Ergebnis des kapitalistischen Produktionsprozesses, in dem lebendige Arbeit Wert produziert, der von anderen angeeignet wird. Für den Kapitalismus typisch ist nicht die "Ausbeutung" eines einzelnen Arbeiters durch einen Handwerksmeister, sondern die Ausbeutung einer großen Masse von ArbeiterInnen in der Fabrik. Es ist eine Produktionsweise, die darauf beruht, dass Millionen von Menschen zusammen arbeiten, auch wenn sie sich gar nicht kennen. Sie produzieren gemeinsam Wert, sie können aber auch gemeinsam diese Arbeit verweigern und die gesellschaftliche Arbeitsteilung in Frage stellen. Als Arbeitskraft sind die ArbeiterInnen Teil des Kapitals; als Arbeiterklasse größter Feind in seinem Innern.

Generationen von Arbeitswissenschaftlern haben versucht, den ArbeiterInnen das Wissen darüber, wie produziert wird, zu enteignen, um sich von ihnen unabhängig zu machen. Sie haben Parallelproduktionen aufgebaut, um im Streikfall weiter produzieren zu können. Sie haben Fabriken geschlossen und woanders neue hingestellt, um neue ArbeiterInnen besser auszubeuten und kontrollieren zu können. Aber das Gespenst konnten sie damit nicht austreiben. In der Streikwelle 2010 spukte es zum ersten Mal auf dem gesamten Erdball gleichzeitig. Diese Kämpfe sind gerade dabei, die Welt zu verändern. Sogar die Akademie hat den Schuss gehört und die Arbeiterklasse nach langer Zeit wieder zum Objekt ihrer Forschung gemacht, wie zahlreiche Veröffentlichungen, neue Zeitschriften und Internetseiten zeigen, mit denen linke SozialwissenschaftlerInnen Verbindungen zwischen den ArbeiterInnen verschiedener Kontinente herstellen wollen. In der BRD waren die ArbeiterInnen 25 Jahre lang alleine mit ihren Kämpfen - auch hier beziehen sich nun wieder soziale Bewegungen und Intellektuelle darauf.


Rückblick

1978 - die Arbeiterklasse auf der Höhe ihrer Macht

Bis 1989 konnten wir uns die Welt erklären bzw. die Klassenkämpfe haben sie uns erklärt. Der revolutionäre Aufbruch um 1968 hatte zu einem neuen Schub von Arbeiterkämpfen in den meisten Ländern geführt und in den Metropolen eine umfassende Kritik des Fabriksystems und der gewerkschaftlich begleiteten Arbeitskultur hervorgebracht. Ende der 70er Jahre war die Arbeiterklasse auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Löhne und Einkommen waren tariflich abgesichert, nicht einfach kündbare unbefristete Beschäftigungsverhältnisse noch die Regel. Materiell standen die ArbeiterInnen der Industrieländer im Rahmen ihrer Sozialpakte so gut da wie nie zuvor in der Geschichte. Und mit ihren Kämpfen in den industriellen Kernsektoren hatten sie Verbesserungen für alle durchgesetzt.

Schon in der Krise 1973/74 hatte mit der Verlagerung arbeitsintensiver Massenproduktion nach Südostasien und der Umstrukturierung in den Fabriken der Abbau ihrer Produktionsmacht begonnen. Das Kapital wollte sich der kämpferischen und selbstbewusst gewordenen ArbeiterInnen entledigen. Der Putsch in Chile 1973 und der Aufstieg der "Chicago-Boys" wiesen die Richtung für die mit den Namen Thatcher und Reagan verbundene Konterrevolution 1979/80, die zu säkularen Niederlagen bis dahin zentraler Teile der Arbeiterklasse führte (1980 Niederlage bei Fiat, Militärputsch in der Türkei, 1979-81 die Konterrevolution im Iran nach der Zerschlagung der Arbeiterräte; Ende 1981 Kriegsrecht in Polen, 1985 dann die Niederlage der britischen Bergarbeiter...) Es folgten direkte Angriffe in Form von Massenentlassungen und Aufspaltung der Belegschaften. Die nationalen Arbeiterklassen verschanzten sich am Arbeitsplatz und konnten für sich selber - mit großen Unterschieden zwischen den Ländern - lange Zeit direkte Verschlechterungen abwehren.

Für die Zeitgenossen waren die 1980er Jahre in Westeuropa widersprüchlich: einerseits massive Angriffe, andererseits radikale soziale Bewegungen. Aber von heute aus gesehen war es ein Jahrzehnt dramatischer Niederlagen. Im Zuge der Austeritätspolitik begann der Abbau sozialstaatlicher Leistungen bzw. ihre verstärkte Bindung an die Bereitschaft zur Arbeit. Bilder aus den USA mit Schlangen Arbeitsloser vor Personalbüros standen für eine neue Dimension der Verarmung eines Teils der einst so mächtigen US-Arbeiterklasse. Die große Zäsur in der BRD markierte die gewerkschaftliche Mobilisierung für Arbeitszeitverkürzung (zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit!) im Austausch gegen eine Flexibilisierung und Aufweichung des "Normalarbeitsverhältnisses". Die 1980er Jahre stehen zudem für Militärdiktaturen und wirtschaftlichen Niedergang in weiten Teilen Lateinamerikas, den Staatsbankrott in Mexiko, die Schuldenkrise und IWF-Diktate zur Erzwingung von "Strukturanpassungsprogrammen".

Seit Mitte der 1980er Jahre stellten die vier "jungen Tigerstaaten" Hongkong, Singapur, Taiwan und Südkorea mit hohen Wachstumsraten alte Theoreme der Dependenztheorie auf den Kopf. Mit der mächtigen Streikbewegung 1987 richteten alle den Blick nach Südkorea. Unter den Bedingungen einer westlich ausgerichteten Entwicklungsdiktatur, die noch 1980 einen Arbeiteraufstand blutig zusammenschießen ließ, war eine Arbeiterklasse entstanden, die das südkoreanische Kapital und sein Fabrikregime mit radikalen Kampfformen herausforderte. Innerhalb weniger Jahre konnte sie mit hohen Lohnzuwächsen den Anschluss an ihre KollegInnen im Westen schaffen. Ende der 80er Jahre schien auch in Europa eine Neuzusammensetzung der Klasse in den Kämpfen heranzureifen (die Krankenschwestern, Kita-Streik, Lokomotivführer in Italien und Frankreich, dort auch die LKW-Fahrer, wilder Streik bei VW ...) - aber dann kam ein Massaker, das die Welt veränderte, Krise und Krieg...

Krise und Proletarisierungsschub in den 90ern

Im Juni 1989 eröffneten die Truppen das Feuer auf dem Tienanmen-Platz hauptsächlich deshalb, weil massenhaft ArbeiterInnen den Studenten zu Hilfe kamen. Nicht Studenten, sondern Arbeiterführer wurden zum Tode und zu den längsten Haftstrafen verurteilt. Inoffizielle Gewerkschaften wurden sofort verboten, ihre Führer ins Gefängnis geworfen.

Das Beispiel wiederholte sich in Berlin oder Leipzig nicht. Dort gab das Regime auf. Als 1989 die Mauer fiel, ging Wildcat optimistisch an den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus heran. 1988/89 hatten sich in Westdeutschland die Klassenkämpfe intensiviert, im Verlauf des Umbruchs in der DDR kam es zu - heute längst vergessenen - Massendiskussionen in den dortigen Betrieben und auf der Straße über eine gesellschaftliche Perspektive jenseits von Kapitalismus und DDR-Sozialismus. Mit der wirtschaftlichen Ruinierung der ehemaligen DDR entwickelte sich im Osten zunächst eine breite Kampfbewegung gegen Fabrikschließungen und soziale Verschlechterungen.

Mit dem Massaker des Golfkriegs 1991 und der Wirtschaftskrise, die in der BRD nach dem Vereinigungsboom verspätet, aber umso massiver 1993 einsetzte, brachen in der westdeutschen Metallindustrie alle Dämme. Um den Exportstandort BRD zu retten, akzeptierte beispielsweise die IG Metall im "Pforzheimer Abkommen" 1994 Arbeitsintensivierung und massive zeitliche Flexibilisierung. Dazu kamen soziale Verschlechterungen auf breiter Front.

Die erhofften Kämpfe - vor allem der in Abwicklung befindlichen DDR-Arbeiterklasse - blieben weitgehend aus. Die Abwanderung gut ausgebildeter ArbeiterInnen nach Westen funktionierte als Ventil - und sorgte dafür, dass in der BRD zum ersten Mal die Löhne sanken. Während im Osten die Massenarbeitslosigkeit durch immer neue Warteschleifen und Kurzarbeit zu null Stunden abgefedert wurde, hörten wir in den Betrieben auf einmal Sprüche wie "Hauptsache Arbeit!", wenn wir darauf hinwiesen, dass der Kollege nebendran doppelt so viel verdient. Die "industrielle Reservearmee" war zurück! Durch den massiven Gebrauch von Leiharbeit und befristeten Verträgen konnten Belegschaften nun auseinander dividiert werden.

In den 1970er Jahren hatten wir im Westen gelernt, dass der Druck auf die beschäftigten ArbeiterInnen durch die "Reservearmee" der Arbeitslosen nicht mehr funktionierte: solange der nächste Job sicher war, konnte man die bezahlte Arbeitslosigkeit als willkommene Pause genießen. Deshalb waren wir vorsichtig, diesen Begriff zu gebrauchen, und argumentierten in diesen Jahren vor allem gegen eine voreilige Kapitulation an. Die Hartz-Gesetze sorgten dann dafür, dass die Einkommen bei (längerer) Arbeitslosigkeit sehr viel stärker fielen so dass auch an dieser Stelle die Dämme brachen.

Die Auflösung des "Ostblocks" war auch eine Zäsur, die einen neuen Schub der Proletarisierung der Weltbevölkerung in Gang setzte. Während in den osteuropäischen Ländern in einer Art "ursprünglicher Akkumulation" hohe Funktionäre in einer wilden Privatisierung riesige Vermögen zusammenraubten, verlor die Masse der ArbeiterInnen ihre über den sozialistischen Staat vermittelten Ansprüche auf Land, Wohnungen und Renten. Weltweit steuerten alle Regimes auf "Neoliberalismus"um, dazu kamen Kriege - zum ersten Mal auch wieder in Europa.

Wiederkehr der Proletarität

Als Anfang/Mitte der 1990er Jahre in der BRD die "Globalisierung" als Drohkulisse aufgebaut wurde (nach "Lean Production" und "Toyotismus" in den Jahren zuvor), versuchte Wildcat zum einen, die Trumpfkarten der ArbeiterInnen stark zu machen ("die brauchen das Arbeiterwissen", "hohe Transport- und Transaktionskosten"), zum anderen die Möglichkeiten in einer weiteren Stufe der Vergesellschaftung der Produktion herauszuarbeiten. Wenn die ganze Welt kapitalistisch ist, dann gibt es keine nichtkapitalistischen Räume mehr, keine Reserven von Arbeitskraft, dann steht irgendwann eine weltweite Arbeiterklasse dem Kapital gegenüber. "Statt den Schein der Übermacht und des Ausgeliefertseins zu festigen, müssen wir fragen, wo die neuen Abhängigkeiten des Kapitals von der Arbeiterklasse liegen ... Wenn ArbeiterInnen quer über Kontinente hinweg zusammenarbeiten, liegen darin auch neue Möglichkeiten, das Kapital global zu bekämpfen."(2) Auch die EU sahen wir nicht sofort und automatisch als Verschlechterung der Kampfmöglichkeiten. Gedanken, die damals nur wenige teilen wollten. Unser Vorschlag einer europäischen militanten Untersuchung verschiedener Sektoren - Autoindustrie, Krankenhausarbeit, Migration, Prekarisierung - versandete. Für die meisten Linken standen andere Fragen im Vordergrund: das Ende des "sozialistischen Lagers"; die neue Welle von Nationalismus und Rassismus; Flüchtlinge; der Aufbau von Alternativ-Gewerkschaften ...

1993 rief Karl Heinz Roth mit seinen Thesen zur "Wiederkehr der Proletarität" die Linke dazu auf, sich wieder mit der "Arbeit" zu beschäftigen. Gegen die Propagandisten einer Postmoderne skizzierte er "tendenziell ein neues Proletariat in einer kapitalistischen Welt". Er sah eine "Angleichung der Beschäftigungsverhältnisse in Richtung Prekarisierung, Werksverträge und abhängiger Selbstständigkeit". Seiner Idee, selbst von Prekarisierung betroffene Linke müssten ein besonderes Interesse an einer militanten Untersuchung der Klassenverhältnisse haben, lag allerdings eine Fehleinschätzung zugrunde: Zum einen war die Auflösung linker Strukturen und die Vereinzelung schon sehr weit fortgeschritten, zum anderen fanden sich für linke Akademiker immer noch irgendwelche Forschungs- oder Stiftungsgelder. Von der traditionellen Linken fing sich Roth eine harsche und rechthaberische Kritik ein,weil er die zentralen Teile der Arbeiterklasse vorschnell aufgab; seine anvisierten "proletarischen Zirkel" wurden als sektiererisch beiseite geschoben.

Von heute aus gesehen sind seine Voraussagen verblüffend aktuell, obwohl sich die angesprochenen Veränderungen durch die "Globalisierung" der Produktion gerade erst andeuteten und Zugang zum Internet und elektronischer Kommunikation Normalsterblichen noch nicht offenstand. Viele Hoffnungen auf eine Ausweitung von Sozialrevolten haben sich seither zerschlagen, viele seiner vor allem in der Replik auf die Kritiken angerissenen Vorschläge zu einer internationalen Assoziierung wurden nicht aufgenommen bzw. harren immer noch der Umsetzung. Der Hauptgrund aber, weshalb ein solcher Vorschlag nicht auf breite Zustimmung stieß: die 1990er Jahre waren in Europa ein Jahrzehnt der Niederlagen, welche die Linke mit postmodernen und poststrukturalistischen Theorien und der Suche nach der richtigen Identität im vorauseilenden Gehorsam verinnerlicht hatte. Alle Versuche von Verallgemeinerung wurden von innen heraus zerstört.

War es die Rolle von Wildcat seit ihrem Bestehen gewesen, die weltweiten Klassenkämpfe hierher zu holen, so funktionierte das nach der Auflösung des Ostblocks nicht mehr. Auch viele LeserInnen resignierten vor dem verkündeten Sieg des Kapitalismus. Wildcat wollte nicht einfach weitermachen wie bisher und die Fahne hochhalten. 1995 stellte die Redaktion für mehrere Jahre die Zeitschrift ein und führte die Diskussionen im Wildcat-Zirkular weiter.

No-glob

Das Auftreten der EZLN im Lacandonischen Urwald zum Beginn des NAFTA-Abkommens 1994 hatte die Revolution wieder auf die Tagesordnung gesetzt und völlig neue Diskurse und große Hoffnungen ausgelöst. Schon gar, als eine "Anti-Globalisierungs-Bewegung" 1999 anlässlich der WTO-Konferenz in Seattle mit der organisierten Arbeiterbewegung zusammentraf.

Die radikalen Kämpfe schienen im "globalen Süden" und auf dem Land stattzufinden, in Kämpfen gegen "Einhegungen" und "Inwertsetzung", nicht in den Fabriken der Welt. Dort wurden Leute unter Druck gesetzt, ihre Arbeitsplätze fielen weg, sie sollten mehr arbeiten usw. - und lesen dann einen Zeitungsartikel, der ihnen das alles erklärt: Globalisierung bedeutet verschärfte Konkurrenz, nur mit niedrigeren Löhnen können wir standhalten. Klingt erstmal logisch, oder? Letztlich sind das aber alles Auffassungen, die dich in deiner Rolle als Opfer von irgendwelchen großmächtigen Vorgängen festschreiben. Deshalb arbeiteten wir uns am Begriff Globalisierung und seiner propagandistischen Anwendung ab: Bei den Debatten um "Globalisierung" "geht es auf der ideologischen Ebene darum, eine inzwischen dreißigjährige weltweite Stagnationsphase des Kapitalismus als Triumphzug zu verkaufen".(3)

Statt von "Globalisierung" oder "Neoliberalismus"schrieben wir weiterhin von "Kapitalismus" und wiesen auf die stürmische Entwicklung in Asien hin.

In Asien spielt die Musik...

Der Begriff "Weltarbeiterklasse" taucht zum ersten Mal im Wildcat-Zirkular 25 (April 1996) auf. Der Artikel "Welt in Umwälzung" beschrieb den von heftigen Kämpfen und Riots begleiteten Prozess der Proletarisierung von Bangladesch über Indonesien bis nach China und die Herausbildung einer neuen, vom Land in die Städte ziehenden Arbeitskraft: junge Frauen, die der patriarchalen Ordnung im Dorf die Fabrikarbeit vorziehen. Diese jungen ArbeiterInnen werden als Avantgarde des Making einer neuen Arbeiterklasse benannt, die zu großen Hoffnungen Anlass gebe. Eine "Explosion der Bedürfnisse" sei die Grundlage des "Neoliberalismus", der in den alten Industrieländern die Arbeiterrigidität zersetzt habe und nun von Asien aus eine weltweite Umwälzung der Klassenverhältnisse einleite. Die ArbeiterInnen der Metropolen seien bald nicht mehr die einzigen, die Autos bauen könnten. Es war ein Aufruf zur Untersuchung dieser Veränderungen in Asien, Lateinamerika und Afrika - und eine Aufarbeitung theoretischer "Altlasten" wie der "neuen Einhegungen" und "Ende der Entwicklung".

Im Wildcat-Zirkular wurde in der Folge heftig gestritten über die selbsterklärende Kraft von Pressemeldungen über Arbeiterunruhen und die Bedeutung der Arbeiterklasse in Ostasien. Ein Teil der Redaktion leugnete eine "Krise des Kapitals" und verlegte alle revolutionären Hoffnungen in die "neue" Arbeiterklasse in Asien:

"Worauf wir also hinweisen wollen: die Weltarbeiterklasse setzt sich in einem Umfang und einer Geschwindigkeit, die ohne Beispiel sind, neu zusammen. Das hat zwei Aspekte und beide Aspekte verbessern die Möglichkeiten für Kommunismus.

1. Das Proletariat ist zahlenmäßig zur Mehrheit der Weltbevölkerung geworden, oder anders ausgedrückt: Der Aufbruch der Massen auf der Suche nach Glück ist ein Schritt zur Voll-Endung des entwickelten Kapitalismus. Was Marx/Engels vor 150 Jahren im 'Kommunistischen Manifest' postuliert haben, kann jetzt erst wahr werden.

2. Die 'alte' Arbeiterklasse, die ein Synonym ist für Sozialdemokratismus, Gewerkschaften, Kommunistische Parteien, Sozialstaat, Blau-Mann, Arbeiterstolz, Betriebsinteresse ... verliert weltweit an Bedeutung und zersetzt sich in Fabrikflucht, Vertreibungen aus der Fabrik und in Abwehrkämpfen gleichermaßen. Das ist hier nicht prinzipiell anders als etwa in China. Dafür entsteht eine neue Klasse aus jungen Arbeitern und vor allem Arbeiterinnen der ersten Generation. Und es ist überflüssig zu erklären, warum ein siebzehnjähriges Mädchen mehr revolutionäre Hoffnung verkörpert als ein 35-jähriger Familienvater."(4)

Der andere Teil der Redaktion sah allenfalls eine Wiederholung der Geschichte der Massenarbeiterkämpfe, aber keine neue Qualität, und bestand auf einer theoretischen Fundierung des Begriffs "Weltarbeiterklasse": "Die Entstehung einer 'Weltarbeiterklasse' ist die Frage nach der realen Vergesellschaftung durch die weltweite produktive Kooperation, d.h. die Frage, inwieweit die weltweite Produktion des Kapitals als gesellschaftliches Verhältnis die Möglichkeit des Kommunismus aufmacht. [...] Es kommt [...] darauf an, den inneren Zusammenhang zwischen den Ausgebeuteten auf der Welt zu begreifen, nämlich dass sie schon zusammen diese (verkehrte) Welt produzieren - und sie deshalb verändern können."(5)

"Ein Hauptproblem der revolutionären Politik besteht heute darin, dass es ihr nicht gelingt, den weltweiten Produktionsprozess in einer solchen, radikal entmystifizierenden Weise theoretisch und praktisch zu kritisieren."(6)


Weltweite Proletarisierung und Angebotsschock

Auch Karl-Heinz Roth sprach im Januar 1998 davon, dass sich 150 Jahre nach dem Kommunistischen Manifest das Proletariat erstmals objektiv weltweit konstituiert habe - und entgegen Rosa Luxemburgs Voraussage auch die nichtkapitalistischen Milieus endgültig einverleibt seien. "Erstmals in der Geschichte stellen die Eigentumslosen, die ihre Arbeitskraft feilhalten und verkaufen müssen, um leben zu können, quantitativ die Mehrheit der Weltbevölkerung."(7)

Diese Behauptung stellt mindestens auf zwei ebenen fragen: Fassen wir diesen Prozess in einem ersten Schritt als Herausbildung einer subsistenzlosen Klasse, dem dann ein zweiter in Form der Verwandlung von landlosen Proletariern in Lohnarbeiter folgt, oder entsteht ein wahrer Kosmos von unterschiedlichen Ausbeutungsverhältnissen? Was bedeutet dies für die Herausbildung von Kämpfen?(8) Die autonome Linke in der BRD hatte sich die 1980er Jahre hindurch mehr auf die Subsistenzökonomie (oder was man in sie hineindichtete) und die Riots der aus der kapitalistischen Produktion Ausgegrenzten bezogen als auf "Lohnarbeiter-Innen".

Wallerstein hatte bereits 1983 darauf hingewiesen, dass die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung heutzutage härter und länger und mit einer geringeren Vergütung als vor 400 Jahren arbeite. Diesen Prozess zunehmender Abhängigkeit von Lohneinkünften könne man im Marxschen Sinn "Proletarisierung" nennen. Auf der einen Seite bedeutet das: Zunahme der realen Kaufkraft; es ist daher von langfristigem Interesse für das Kapital, jedoch gegen die Interessen der individuellen Arbeitgeber, die an niedrigen Reproduktionskosten der Arbeitskräfte interessiert sind, d. h. einer "Halbproletarisierung", einer Haushaltsökonomie mit Einkommen aus verschiedenen Quellen und Eigenarbeit.(9) Die volle Proletarisierung (Mann und Frau sind freie LohnarbeiterInnen und kaufen sich alle Lebensmittel) strebten hingegen eher die Proletarier an. Diese braucht einen "Sozialstaat", der an diejenigen Einkommen transferiert, die nicht arbeiten. Idealtypisch für die "volle Proletarisierung"war etwa die DDR - die ihren Arbeitskräftemangel durch Immigranten aus Vietnam und Mosambik behob. In Anlehnung an Luxemburgs These, dass der Kapitalismus nicht die Arbeitskräfte reproduzieren kann, die er ausbeutet, zeigte er, dass große Teile der Weltbevölkerung nie die volle Proletarisierung erreichen, sondern die Haushalte abhängig bleiben von Subsistenzproduktion und selbstständigen Tätigkeiten aller Art.

Forces of Labor

Wildcat thematisierte in dieser neuen globalen Unübersichtlichkeit die Verletzlichkeit der neuen Transportketten und richtete die Aufmerksamkeit auf die neuen Produktionsstandorte - in den 1990er Jahren waren nicht nur in Asien, sondern auch in Osteuropa neue Autofabriken gebaut worden.

Dazu passte das Büchlein Forces of Labor von Beverly Silver, die im Rahmen der Weltsystemanalyse die Unruhen der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellte. Sie konnte historisch nachweisen, dass dort, wo das Kapital hingeht, Kämpfe folgen: Als Reaktion auf die Arbeiterrevolten in den 1970er Jahren baute das Kapital neue Autofabriken in Südafrika und Brasilien - und löste damit eine neue Dynamik von Arbeiterkämpfen mit hoher Durchschlagskraft aus. In den 1980er Jahren boomte die Autoindustrie in Südkorea - was zu ähnlich anhaltenden Kämpfen einer neuen Arbeiterklasse führte.

Wichtig war, dass Silver auf die ganze Welt schaute und feststellte, dass fixes immer nur vorübergehende Reparaturen des Systems waren und das Kapital immer wieder auf Widerstand stieß weil Arbeiterkampf im Kapitalismus endemisch ist. Ihre schematische Einteilung in Kämpfe "Marxschen" bzw. "Polanyschen" Typs waren hingegen nicht unbedingt hilfreich.

Silver hielt die Schwächung der "Verhandlungsmacht" der Arbeiter in den Ländern des Nordens nur für zeitweilig. Ihr Datenmaterial endete allerdings ursprünglich 1990 und wurde dann bis 1996 verlängert - und bis 1990 passen ihre Erklärungsansätze auch. In Osteuropa hingegen liegt der Lohn heute noch deutlich niedriger als im Westen; Autoarbeiter haben aufgehört, überall zu den mit Abstand am besten verdienenden ArbeiterInnen zu gehören. Silver hat ein zirkuläres Weltbild, "Krisen" sind immer zyklisch, auf sie folgen stets Phasen der Entwicklung und des Booms. Eine große Krise bedeutet bei ihr Umbruch, Instabilität und letztlich ein neuer Hegemon im Weltsystem. Sie stellt sich nicht die Frage, wie aus Arbeiterkampf Kommunismus wird, und sie hat die lange Phase "übersehen", in der die neue Arbeiterklasse Südost-Asiens keine revolutionäre Bedrohung für den Kapitalismus war. Heute erklärt Silver die tiefe Krise der weltweiten Arbeiterbewegungen seit den 1990er Jahren damit, dass der finanzielle Fix mit einem Demaking etablierter Arbeiterklassen verbunden war. Aus der Produktion wurde Kapital abgezogen, die destruktive Seite war dominant. Trotzdem sei der financial fix nur temporär wirksam gewesen und habe die Krise des Kapitals zudem örtlich verschoben - im Endeffekt aber zu einer neuen tiefen Legitimationskrise des Kapitalismus geführt.(10)

Tatsächlich gab es wohl noch nie so viel organisierten Widerstand gegen Infrastrukturprojekte, Staudämme, Kraftwerke - und zwar auch gerade in neu industrialisierten Ländern wie Indien, Indonesien oder China. Ob wir die nun als Kämpfe gegen die "Kommodifizierung" begreifen - oder einfach gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen: es gibt inzwischen eine weltweite Erfahrung, dass "technischer Fortschritt" nicht unbedingt zu "Entwicklung" führt, sondern mit Zerstörung einhergeht - und dass man sich dagegen organisieren kann.

Aber in der Phase 1990 bis 2005 ist das Kapital auf so wenig Widerstand von ArbeiterInnen bei einem Industrialisierungsprozess gestoßen wie noch nie. Es konnte die Bedingungen von ArbeiterInnen permanent verschlechtern, ohne von ihrem kollektiven Widerstand bedroht zu werden. Die vorhergesagte Kompensation von Industriearbeitsplätzen durch höherwertige Dienstleistungsjobs hat sich in Luft aufgelöst. Arbeiterkämpfe waren in dieser Phase weltweit - auch in China - fast nur noch Abwehrkämpfe der "alten Arbeiterklasse" gegen Betriebsschließungen oder Auslagerungen. (Das erklärt nebenbei, warum die Linke in dieser Zeit den Klassenbegriff über Bord geworfen hat.)

Die Öffnung des indischen und chinesischen Arbeitsmarkts hatte in den 1990er Jahren einen "Angebotsschock" erzeugt: Das Angebot an Arbeitskräften verdoppelte sich quasi über Nacht. China hatte doppelt so viele Industriebeschäftigte wie alle G7-Staaten zusammen. Es war zur Fabrik der Welt und Haupt-Export-Standort für industriell hergestellte Gebrauchsgüter geworden, insbesondere für hohe Stückzahlen. Die Folgen waren für einen Teil der weltweiten Arbeiterklasse zunächst - wie von vielen vorhergesagt - katastrophal: die Textilindustrie verließ Lateinamerika und ging nach Asien. Der Beitritt Chinas zur WTO im Jahr 2002 und das Auslaufen des Multifaserabkommens 2005 sollten dem ganzen die Krone aufsetzen - aber dann kam es anders: in China begannen ArbeiterInnen in den neuen Fabriken zu kämpfen, ihre Kämpfe weiteren sich aus...

Was sich in den letzten 40 Jahren verändert hat

Seit der "Ölkrise" 1973 gab es langfristig wirksame Veränderungen: Die Weltbevölkerung liegt heute bei über sieben Milliarden Menschen. 1950-1970 war sie mit zwei Prozent jährlich gewachsen, seither sinkt die Wachstumsrate, vor allem dort, wo Proletarisierung stattfindet.

In den heutigen "Entwicklungsländern" wächst die Arbeitskraft jährlich um zwei Prozent, d. h. sie hat sich in 30 Jahren verdoppelt, während in Europa dieser Prozess 90 Jahre gedauert hat. Die Proletarisierung geht viel rasanter voran, als die kapitalistische Ökonomie Arbeitskräfte aufnehmen kann: viele finden keine Lohnarbeit, von der sie leben können. Eine große Zahl der Proletarisierten landet im informellen Sektor. Der Anteil der Frauen an der Lohnarbeit steigt. Die Arbeitslosigkeit vor allem bei jungen Leuten ist sehr hoch, noch höher bei Migranten bzw. Minderheiten. (Bedrückend für die eingangs erwähnten Ängste der Herrschenden: Es gibt eine Korrelation zwischen hoher Arbeitslosigkeit bei jungen Männern und Aufstandshäufigkeit; der social unrest hat sich seit 2009 sprunghaft um zehn Prozent erhöht - vor allem in Nahost und Nordafrika, aber auch in Südosteuropa und den GUS-Staaten, etwas weniger in Südasien.)

Die Beschäftigung in der Landwirtschaft ist dramatisch zurückgegangen; nur in den ärmsten Ländern arbeitet noch immer mehr als die Hälfte der Menschen dort. Die Konzentrationsprozesse in der Agrarindustrie setzen sich fort, aus Bauern werden Landarbeiter, die zum Teil in Städten leben; Kleinbauern können nicht mehr allein von der Landwirtschaft leben. In Ostasien führt die Landflucht in großem Maße direkt in die Industriearbeit, während in Lateinamerika und Afrika vor allem der Dienstleistungssektor wächst.

Seit 2007 lebt (mehr als) die Hälfte der Menschheit in Städten. Die Megastädte wachsen insbesondere in den Entwicklungsländern, 80 Prozent der BewohnerInnen leben in Slums. Die Slumcities sind ein Ausdruck davon, dass die Menschen Teil der globalen Arbeiterklasse sein wollen. Sie sind Ausgangspunkt und Durchgangsstation für ein besseres Leben - in diesem oder einem anderen Land, wo Arbeitskraft gebraucht wird.

In den weltweiten Proletarisierungsprozessen wird "Wanderarbeit" ("migrantische Arbeit") zur allgemeinsten Form von Arbeit, sowohl in der Form von Einwanderung (etwa in die EU) als auch in der von Binnenwanderung (z. B. in China, hier schätzt die Regierung 130 Millionen BinnenmigrantInnen, von denen 80 Millionen vom ärmeren Binnenland in die Küstenstädte gewandert sind). Die Zahl der internationalen MigrantInnen ist heute (2013) weltweit höher als je zuvor: 232 Millionen (2000 waren es erst 175 Millionen), davon geschätzt 20-30 Millionen ohne Papiere. Ihr Anteil an der Bevölkerung stieg zwischen 2000 und 2013 von 2,9 auf 3,3 Prozent. Die große Mehrheit sind Arbeitsmigranten, nicht Flüchtlinge oder Asylsuchende.

Eine Besonderheit ist die Zunahme eines Proletariats von WanderarbeiterInnen, die - vermittelt durch internationale Arbeitsvermittlungsagenturen - in unterschiedlichen Ländern zu schlechten Löhnen einfache Arbeit verrichten, aber dort nicht sesshaft werden sollen: Bauarbeiter aus Indien, Pakistan oder Bangladesch, die auf den Großbaustellen der Golfstaaten arbeiteten, in Camps leben, eine kollektiven Situation, die immer wieder zu Streiks und Rebellion geführt hat - und mit drakonischer Repression konfrontiert ist. Millionen von Hausarbeiterinnen aus den Philippinen oder Indonesien usw., die in Haushalten reicher oder besserverdienender Haushalte in den Golfstaaten, aber auch in Hongkong arbeiten. Pflegerinnen für alte Menschen, die von Ost- nach Westeuropa gehen, um in Haushalten zu arbeiten, die sich eine Pflegerin aus dem Land selbst nicht leisten können. Es werden auch vermehrt IndustriearbeiterInnen für Freie Produktionszonen in fernen Ländern angeworben, um die ansässige Arbeiterklasse zu zersetzen.

Die Lebensbedingungen der Menschen sind weitgehend davon bestimmt, wo sie leben. Aber die Arbeitsbedingungen der einfachen ArbeiterInnen in den Metropolen und im globalen Süden gleichen sich strukturell weiter an. In den Montagewerken zur Produktion komplexer Massenkonsumgüter steht auch in China oder Indien modernste Maschinerie. Einfache Handarbeit findet am Ende der Zulieferketten in den Hinterhöfen der Slums statt, aber auch in den Lagerhäusern der Warenverteilzentren im Herzen Europas. Innerhalb derselben Verwertungskette sind absolute und relative Mehrwertproduktion kombiniert.

Bis zur Krise 1973/74 hat das anhaltende Wirtschaftswachstum Produktivitätsfortschritte und Rationalisierungserfolge mehr als ausgeglichen, die Beschäftigung ging nicht zurück, der Sozialstaat wurde ausgebaut. Seither stagniert das Wachstum der Industrieproduktion - jetzt liegt es weltweit bei etwa drei Prozent, künftig vielleicht bei 1,5 Prozent?

Die Beschäftigung im produzierenden Sektor (einschließlich Bauindustrie) hat weltweit zugenommen, aber Industrialisierungsraten wie vor 50 oder 100 Jahren werden nirgends mehr erreicht: Das Kapital zieht heute sehr viel schneller als früher wieder ab, verlagert die Produktion an "billigere" Standorte oder verwandelt sie innerhalb des Landes in eine "Dienstleistung" - oder investiert gar nicht mehr. In vielen neu industrialisierten Ländern hat der Industriearbeiteranteil bei 20 Prozent seinen Höhepunkt bereits überschritten.

In den alten Industrieländern findet eine Deindustrialisierung statt - mit großen Unterschieden: in den USA arbeiten 11 Prozent in der Industrie, während die BRD mit 22 Prozent (2007) den Spitzenplatz in der EU belegt; 1970 waren es hier noch 37 Prozent (wobei an "produktionsnahe Dienstleister" ausgelagerte Arbeiten heute nicht mehr als Industriearbeit zählen).(11)

Die Globalisierung hat zu einer neuen Polarisierung zwischen höher und niedrig qualifizierten Jobs geführt. Viele Jobs mittlerer Qualifikation im produzierenden Gewerbe fallen in den Industrieländern weg, neue Jobs sind häufig befristet und schlechter bezahlt.

Weltweit wächst der "Dienstleistungssektor" - und zwar auch an zwei Polen: Einfache Tätigkeiten (Reinigung, Pflegehilfe) einerseits und Nicht-Routine-Jobs höherer Qualifikation andererseits nehmen zu, während Routine-Jobs mittlerer Qualifikation (Buchhalter, Büroangestellte) abnehmen: der Einsatz von Computern hat viele dieser Tätigkeiten überflüssig oder verlagerbar gemacht. Auch dadurch wächst die Schere zwischen den Einkommen in diesem Bereich an.

Ungleichheit der Einkommen

Im 19. und 20. Jahrhundert waren die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern maximal hoch. In den Jahren gingen sie aufgrund der Arbeiterkämpfe innerhalb der Länder zurück. Seit 20 Jahren hat sich dies umgekehrt: die Länder nähern sich an, aber innerhalb der Länder haben sich Einkommensunterschiede krass erhöht. In den neu industrialisierten Ländern sind sie ähnlich hoch wie vor 100 Jahren in Europa. Die Einkommensunterschiede in den USA waren am geringsten im Zeitraum 1950-1970, in den 1960er Jahren waren sie geringer als etwa in Frankreich, wo erst nach 1968 die niedrigen Einkommen aufholten. Seit der neoliberalen Konterrevolution ist die Einkommensungleichheit explodiert und hat seit der globalen Krise nochmal stark zugenommen - vor allem auch nach Steuern und Transfereinkommen.

Zwischen 1970 und 2010 stiegen die privaten Vermögen vornehmlich in Europa und Japan stark an. Dieser "Anstieg der Sparquote" hatte eine Verlangsamung des Wachstums zur Folge - die Unternehmer investierten nicht mehr. Das Nationalvermögen nahm ab, die Staatsverschuldung stieg. (Nicht nur) in den ehemaligen staatskapitalistischen Ländern kam eine gewaltige Bereicherung durch Privatisierung hinzu.(12)

Unterschiedliche Sektoren - unterschiedliche Kampfbedingungen

Bergbau: Früher lebten Bergarbeiter mit ihren Familien in der Nähe der Grube, ihre Dörfer waren auch Kampfgemeinschaften. Hier ist eine große Umstrukturierung vor allem im Tagebau in Gange: Bergarbeiter werden häufig als Kontraktarbeiter auf Zeit beschäftigt, leben in Containersiedlungen fernab der Familie.

Textil/Bekleidung/Schuhe: Wichtigste Branche in Entwicklungsländern. Vorwiegend junge Frauen - wie schon im 19. Jahrhundert. Hier begann in den 1970er Jahren die "neue" internationale Arbeitsteilung. Die Fabriken lassen sich leicht verlagern, die maschinelle Ausstattung ist nicht besonders teuer. Der Sektor ist geprägt von kleinen und mittleren Unternehmen, die Profitmargen sind niedrig. Es wird weitgehend Auftragsfertigung für Bekleidungsfirmen und Handel betrieben. Design und manchmal Zuschnitt ist getrennt von der arbeitsintensiven (ausgelagerten) Fertigung. 2005 bzw. 2008 Aufhebung aller Importbeschränkungen zum Schutz einheimischer Industrie. Heute ist China mit 2,7 Millionen Beschäftigten größter Produzent weltweit. Taiwanesische Unternehmer betreiben inzwischen Fabriken in Mexiko und Nicaragua, chinesische eröffnen neue Fabriken in Afrika.

Auto: Noch immer das komplexeste Konsumgut. Der Sektor ist heute dominiert von wenigen transnationalen Autokonzernen mit langfristiger Standortplanung und hohen Anforderungen an Infrastruktur. Massiv abhängig von staatlicher Subventionierung. Moderne Fabriken haben teure Maschinerie und stellen zunehmend nur Arbeiter mit technischer Ausbildung fest ein. Die Belegschaften sind weltweit in Festbeschäftigte, Befristete, Leih- oder WerkvertragsarbeiterInnen gespalten, mit hohen Lohndifferenzen.

Konsumelektronik: zum Teil Facharbeit, aber auch ein hoher Anteil an angelernten ArbeiterInnen. Die Qualitätsanforderungen an die Produkte sind hoch, da sie teuer sind. Entsprechend der maschinellen Ausstattung handelt es sich um längerfristige Investitionen, entsprechend genau ist die Standortplanung. Üblich geworden ist die Auftragsfertigung für verschiedene Marken in Riesenfabriken vor allem in China: ihre Kapazität reicht aus, um Mobiltelefone für die gesamte Welt zu produzieren.

Bausektor: spielte in den letzten Jahrzehnten eine zunehmend wichtigere Rolle, da mit Immobilien und gigantischen Bauprojekten immer wieder Blasen aufgepumpt wurden. Auf dem Bau landen typischerweise Migranten vom Land bzw. aus dem Ausland. Überwiegend männlich. Großbaustellen sind auch Bauarbeiterlager, häufig weit weg von Städten.

Logistik: Mit der weltweiten Verteilung der Produktion hat die Transportarbeit rasant zugenommen, gleichzeitig sind die Frachtkosten stark gesunken. Neben wenigen gut verdienenden Berufsgruppen ist der Sektor geprägt durch einfache Handarbeit, die sehr häufig von MigrantInnen unter halblegalen Bedingungen gemacht wird. In den Warenverteilzentren entstehen überall auf der Welt neue Konzentrationen von Massenarbeit.

Dienstleistungsarbeit ist alles, was nicht Landwirtschaft, Bergbau oder direkte Produktionsarbeit ist. Während früher die gesamte Dienstleistungsarbeit ortsgebunden war, können heute viele Büroarbeiten wie Backoffice, Buchhaltung, Callcenter an allen Standorten der Welt ausgeführt werden, zu denen Datenleitungen führen.

Die Aufspaltung der ArbeiterInnen durch unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse ist eine große Herausforderung für gemeinsame Kämpfe, die gewohnten Schemata funktionieren nicht mehr. (Die "GastarbeiterInnen" haben sich nach den Streiks Anfang der 1970er Jahre in die Gewerkschaft hinein gekämpft, sie wurden dort zur zuverlässigen Basis aller Mobilisierungen. Die neuen MigrantInnen sind allenfalls Werkvertragsarbeiter oder Leiharbeiter.)

Doch nur in sozialdemokratischen oder stalinistischen Erzählungen war die Arbeiterklasse früher mal ein homogener Block. In Wirklichkeit war sie auch im 19.Jahrhundert oder in den 1920er Jahren sehr heterogen - und zwar nicht nur, wenn wir an die Frauen denken oder die MigrantInnen. Keine Gleichsetzung von Klasse und IndustriearbeiterInnen! Auch in England im 19. Jahrhundert war die Hälfte der ArbeiterInnen außerhalb des Fabriksystems beschäftigt. Und auch unter Fabrikarbeitern mit deutschem Pass gab es Lohnunterschiede von mehr als 300 Prozent. Historisch hat die Arbeiterklasse immer wieder gelernt, unter solchen Bedingungen (gemeinsam) zu kämpfen.

Das Ende der Bauernfrage

Im Herbst 2008 erschien in Wildcat 82 ein Artikel, der sich mit der Romantisierung der Bauern der Anti-Glob-Bewegung beschäftigte. Die Hauptthese war, dass es heute keine besondere "Bauernfrage" mehr gibt und es stattdessen um die Neuzusammensetzung der globalen Klasse von unten geht. "In früheren geschichtlichen Phasen produzierten die Menschen ihre Lebensmittel in kleinen Gemeinschaften und waren abhängig von natürlichen Produktionsschwankungen. Dagegen schuf der Kapitalismus von Anfang an den Weltmarkt, und seine wesentliche Produktivkraft (Maschinerie) ist selber produziert. Der Gesamtzusammenhang einer globalen Gesellschaft wird zur Grundlage unserer Reproduktion und unserer Existenz ("zweite Natur") und in diesem Sinne zum realen Gemeinwesen. Erst seitdem die Menschen von gesellschaftlicher statt individueller Arbeit leben, lässt sich die Frage nach der kollektiven Aneignung der Produktion überhaupt stellen - und nun wirklich weltweit!"(13)

Im Gegensatz dazu vertritt etwa Samir Amin(14) weiterhin die klassisch antiimperialistische Position. Er unterteilt die Welt nach wie vor in die Triade (EU, Japan, USA) und die Peripherie, in der 80 Prozent der Weltbevölkerung leben, davon die Hälfte auf dem Land. Ohne eine Lösung für diese Menschen zu finden, sei keine "andere Welt" möglich. Amin sieht das,was andere Globalisierung nennen, als eine in Gang befindliche Implosion des imperialistischen Systems. Vorstellungen der No-Glob-Bewegung über eine Veränderung der Welt, ohne die Macht zu erobern, hält er für genauso naiv, wie die Idee eines ökologischen Kompromisses mit dem Kapital. Die "imperialistische Rente", von der die Mittelschichten des Nordens profitierten, sei ein Hindernis auf dem Weg zum gemeinsamen Kampf. Um zum Sozialismus bzw. Kommunismus zu kommen, müssen die Arbeiter und die Völker offensive Strategien auf den drei Ebenen finden, die schon Mao nannte: Volk, Staat und Nation. Eine Rückkehr zum keynesianischen Nachkriegsmodell sei nicht möglich - die Geschichte kenne keinen Rückwärtsgang. Aber die Bauernfrage sei nach wie vor zentral: Zugang zu Land für alle Bauern und die Entwicklung einer produktiveren Landwirtschaft, keine Bauernfolklore! Aufbau der Industrie und Entwicklung der Produktivkräfte.

Die politischen Vorschläge sind so veraltet wie die Analyse stehengeblieben. In China arbeitet inzwischen die dritte Migrantengeneration in den Weltmarktfabriken. Mit der Abwanderung von Millionen freigesetzter Bauern vom Land hat sich in klassischer Weise eine Industriearbeiterklasse gebildet. Die Spaltung zwischen Stadt- und LandbewohnerInnen ist nicht aufgehoben, aber die ehemaligen Dörfler haben ihre Bindungen zum Land zunehmend gelöst und vor allem: sie wollen dorthin nicht zurück!

Interessant ist allerdings Amins Argument gegen die Vorstellung, die Schwellenländer würden zu neuen Zentren des Kapitalismus: dafür fehlen die notwendigen "Sicherheitsventile". Die Proletarisierung in Europa seit Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Auswanderung nach Amerika als Sicherheitsventil. Heute bräuchte es mehrere Amerikas für ähnliche Industrialisierungsprozesse in den Schwellenländern. Somit haben diese keine Chance, aufzuholen. Dieses Argument muss auf die Frage zugespitzt werden: Was passiert bei den real vonstattengehenden Industrialisierungsprozessen, wenn die Kämpfe nicht mehr kanalisiert werden können in Sozialdemokratie einerseits, massenhafte Auswanderung andererseits?


Proletarisierung übersetzt sich in Klassenkampf

Oft sieht man erst im Nachhinein, wo der Umschlagpunkt war. 2004 wurde der erste "globale Stau" registriert. Die Streiks im chinesischen Perlflussdelta 2004 auf dem Höhepunkt des Booms waren der erste große Kampfzyklus in den "neuen Fabriken". Sie erreichten mit offensiven Kämpfen Lohnerhöhungen und strahlten auf die Fabriken in ganz Ostasien aus. In Vietnam, Kambodscha, Bangladesch, in Bahrain wurde gestreikt, im Iran fand 2006 mit dem Streik der Busfahrer der erste wichtige Streik seit 1979 statt! Seit 2006, also vor dem globalen Kriseneinbruch, lässt sich eine weltweite "Grundwelle" von Arbeiterkämpfen verfolgen. Diese "Grundwelle" erreichte 2010 einen Höhepunkt mit Arbeitsniederlegungen, die fast kein Land ausließen und ebnete den Weg für die politischen Revolutionen und Protestbewegungen auf der Straße. Letztere erreichen in den Medien die größere Aufmerksamkeit, aber ohne die Streiks in der Phosphatindustrie in Tunesien und die Massenstreiks in der ägyptischen Textilindustrie in Mahalla 2006-2008 wäre es nicht zu den Aufstandsbewegungen in diesen Ländern gekommen.

Die Protestwelle 2006-2013

Die Jahre 2006 bis 2013 waren geprägt von einer Welle von Massenprotesten auf der Straße, Streiks und Aufständen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Sie sei allenfalls mit revolutionären Aufbrüchen wie 1848, 1917 oder 1968 vergleichbar, so die Friedrich-Ebert-Stiftung New York,(15) die im Zeitraum 2006-2013 insgesamt 843 Protestbewegungen in 87 Ländern, in denen 90 Prozent der Weltbevölkerung leben, untersuchte. Proteste aller Art, gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen Krieg, für wirkliche Demokratie, gegen Korruption, Riots gegen die Erhöhung der Lebensmittelpreise, Streiks gegen Unternehmer, Generalstreiks gegen die Sparpolitik. (Weniger erfreulich war z. B. die klerikale Mobilisierung gegen Abtreibung in Polen.) Auffällig sei die hohe Anzahl in Hochlohnländern, während gewalttätige Proteste zu 48 Prozent in Niedriglohnländern vorkommen; meist ging es dabei um die Preise von Nahrungsmitteln und Energie. 49 Proteste forderten eine Agrarreform, 488 richteten sich gegen die Sparpolitik und forderten soziale Gerechtigkeit, 376 Proteste forderten "wirkliche Demokratie". Viele waren Ausdruck eines kompletten Vertrauensverlustes in die "Politik". Und dennoch richteten die Protestierenden ihre Forderungen meist an den Staat: die verantwortlichen Politiker sollten handeln. Die Kampfformen gingen häufig über traditionelle Demonstrationen oder Streiks hinaus und waren Handlungen "zivilen Ungehorsams" wie Blockaden und Besetzungen. Insbesondere die Besetzung Öffentlicher Plätze und die gemeinsame Organisation des Alltags strahlte als Kampfform auf die gesamte Mittelmeerregion und die USA aus.

Der Vergleich mit "1968" verdeckt wahrscheinlich mehr, als er deutlich macht. "1968" steht als Chiffre für eine weltweite revolutionäre Bewegung, doch 1968 war nicht der Höhepunkt an Streiks - im Gegenteil, diese begannen Anfang der 1960er Jahre und erreichten ihren Höhepunkt Mitte/Ende der 1970er Jahre.

Die Kampfwelle seit etwa 2005 hat sehr unterschiedliche Facetten:

Food Riots

Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise floh spekulatives Kapital in "sichere" Anlagen wie Rohstoffe und Grundnahrungsmittel bzw. Ackerboden und löste binnen kurzem eine massive Erhöhung der Nahrungsmittelpreise aus; sie erreichten im Dezember 2007 und dann wieder 2010 historische Höchststände. Darauf reagierten die ProletarierInnen von Herbst 2007 bis Sommer 2008 in weiten Teilen Afrikas und Asiens mit Streiks und Aufständen und zwangen ihre Regierungen bzw. Unternehmer dazu, Grundnahrungsmittel weiterhin hoch zu subventionieren.

Bewegung der Plätze

Auf den "Plätzen" waren auch revolutionäre Kerne aktiv, aber minderheitlich. Die TeilnehmerInnen waren häufig zum ersten Mal aktiv, zeigten eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Selbstorganisation bei der Organisierung des gemeinsamen Alltags, der Reproduktion - aber sie waren nicht "politisch". Das mediale Bild dieser Bewegungen war von den Mittelschichten bestimmt, womöglich deshalb, weil Journalisten am besten mit Leuten aus ihrer eigenen sozialen Schicht kommunizieren können. Und eine Massendemo in der Hauptstadt ist sichtbarer als ein Streik in der Provinz. So wurde die Beteiligung von ProletarierInnen bei den Protesten häufig unterschätzt, dabei waren viele dabei und schlugen sich in vorderster Front mit den Bullen. Allerdings ging es eben häufig gegen die Regierung, gegen die Korruption, für "wirkliche Demokratie", usw. - nicht um "die Sache der Arbeiter".(16) Die Bewegung schien zwar "global", blieb aber in den Grenzen ihres Nationalstaats gefangen. Vielerorts hatte sie "zwei Seelen": zum einen prekäre ProletarierInnen und arbeitslos gewordene MigrantInnen, zum anderen prekarisierte AkademikerInnen, die einen gut bezahlten Job als Bürgerrecht ansehen. Die Mittelschichten werden von Zinspolitik, Staatsschulden und der Sparpolitik besonders getroffen - manche radikalisieren sich und handeln. Zuweilen gelang ihnen der Sprung in die Politik und eine Teilhabe an der Macht über Wahlen - wie die spanische Podemos.

Globale Streikwelle

Steven Colatrella hob in seinem Text In unseren Händen liegt eine Macht in Wildcat 90 hervor, dass sich die Kämpfe im letzten Drittel 2010 zu einer globalen Streikwelle bündelten. Geografisch und quantitativ wurde 2010 ein geschichtlich einmaliges Ausmaß an Streiks erreicht. Darin sieht er das Ende des Neoliberalismus und die Neuentstehung der Arbeiterklasse. In der Ausweitung des "traditionellen Streiks" liege die Kraft, um den Kämpfen Stärke und Richtung zu geben und die Schwächen der "IWF-Riots" zu überwinden. "Die globale Verlagerung der Produktion schuf keine neuen 'Arbeiterklassen'. (Sie gab aber) großen Teilen der Arbeiterklasse eine neue strukturelle Macht, die sie vorher vielleicht höchstens auf nationaler Ebene gehabt haben."(17)

ArbeiterInnen in Textil-, Schuh-, Auto- oder anderen Fabriken waren nun in der Lage, die Welt-Wirtschaft gleichzeitig auf nationaler und globaler Ebene anzugreifen. Die engere Einbindung in die Weltwirtschaft und der gleichzeitige Angriff auf ihre Lebensbedingungen durch die kapitalistische Krise habe sowohl ihre strukturelle als auch ihre organisatorische Macht vergrößert. Die Streikwelle sei ein Moment der Klassenformierung, sie verbinde die Kämpfe und politisiere den Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung. ArbeiterInnen, die ihre ökonomischen Interessen verteidigen, seien heute direkt mit der Politik konfrontiert, ihre Kämpfe also politisch.

Colatrella fasst die globale Streikwelle seit 2007 als "Streiks gegen die Global Governance", d. h. als weltweite und gleichzeitige Aktion der ArbeiterInnen in vielen Ländern gegen denselben Feind. Aber Gleichzeitigkeit schafft noch keine Gemeinsamkeit, und ein gemeinsamer Feind schafft nicht zwangsläufig Verbindungen untereinander.

BRICS, MINTS - die Hotspots der Streikwelle

Angesichts stagnierender Wachstumsraten in den alten Metropolen lagen die Hoffnungen des Kapitals in den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika - dort leben 40 Prozent der Weltbevölkerung; die Zusammenfassung in dieser Abkürzung ist eine Erfindung der US-Investment Bank Goldmann-Sachs von 2001), die (bis auf Russland) über eine junge aufstrebende Industriearbeiterschaft verfügten, die ein besseres Leben will. Brasiliens Staatspräsidentin versprach allen den Aufstieg in die "Mittelklasse". Die BRICS schienen zunächst nicht von der Weltwirtschaftskrise getroffen zu sein, staatlich gelenkte Wirtschaften wie China gegen die Krise "immun". Brachliegendes Kapital floss dorthin, die Wachstumsraten stiegen zunächst noch weiter, wenn auch langsamer als in den Jahren zuvor. Aber gerade in diesen Hoffnungsträgern des Kapitalismus haben sich die ArbeiterInnen mit harten Streiks hohe Lohnsteigerungen erkämpft.

Ihre Streiks haben viele Gemeinsamkeiten: die Schwerpunkte liegen in zentralen Branchen der jeweiligen Ökonomien, die bestreikten Unternehmen sind multinational tätig, die ArbeiterInnen geraten bei ihren Kämpfen mit den bestehenden Gewerkschaften aneinander, suchen sich andere Gewerkschaften oder benutzen eigene Organisationsformen. Häufig kommt es zu gewaltsamen Angriffen der Staatsmacht auf die Streikenden, andererseits aber auch zu Gewalt gegen Manager und Streikbrecher seitens der streikenden.(18)

2014 setzten sich diese Kämpfe fort, in Indien allerdings vor dem Hintergrund eines massiven Einbruchs der Währung und einer 2013 stark zurückgegangenen Nachfrage nach Autos. Seit 2013 wurde viel Kapital aus den BRICS abgezogen und in die sogenannten MINTS-Staaten Mexiko, Indonesien, Nigeria, Türkei und Südkorea transferiert - auch dies sind Staaten mit einer großen und sehr jungen Bevölkerung, in denen es zum Teil große Protestbewegungen gab. Im Juni 2013 war die Türkei Schauplatz eines Aufstands ("Gezi-Park-Proteste"), im Mai 2015 ging eine Streikwelle durch die gesamte Autoindustrie, in der die Arbeiter ihre Gewerkschaft davonjagten.

Im Iran war 2014 das Jahr mit den meisten Streiks und Arbeiterprotesten. Der Höhepunkt war der Streik von 5000 Arbeitern im Eisenerzbergbau in Bafgh, womit sie dessen Privatisierung verhindern konnten. Sie streikten fast 40 Tage, bis der letzte verhaftete Arbeiter freigelassen war - es war der längste Streik seit der Revolution 1979.

In den neu industrialisierten Ländern sind in völlig verschiedenen kulturellen und politischen Milieus anfällig ähnliche Arbeiterbewegungen entstanden, die mit Streiks innerhalb weniger Jahre teilweise erhebliche Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durchsetzen konnten.(19) Die ArbeiterInnen machten sich ihre Stellung in der internationalen Produktionskette zunutze - wie beim Honda-Streik in China.(20) In vielen Kämpfen wurden egalitäre Forderungen aufgestellt, um gegen die Aufspaltungen der Belegschaften anzugehen, wie sie die Unternehmer inzwischen überall auf der Welt in Betrieben mit einem hohen Facharbeiteranteil nach demselben Muster betreiben (Beispiele: Autoarbeiter in Indien, Bergarbeiter in Südafrika).(21)


Arbeiter und Staat

Wie wird Arbeiterkampf revolutionär? Die Revolution entzieht sich der Ableitung aus den objektiven Bedingungen. Wenn in einer patriarchal geprägten Gesellschaft Arbeiterinnen kollektiv für eine Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen, wenn sie dabei Risiken eingehen, Grenzen überschreiten, neue Möglichkeiten entdecken, mehr über die Welt wissen wollen, dann ist das wohl "revolutionär". Welchen Begriff von "Kommunismus" haben ArbeiterInnen in einem Land, in dem die Kapitalisten in der KP organisiert sind? Im Kampf werden sie etwas Neues entwickeln müssen. Das geht sicherlich nicht allein von der Fabrik aus, es braucht auch Anstöße von außen, etwa von einer Jugendbewegung, die alles in Frage stellt.

"Weltarbeiterklasse" ist die Gegenthese zu "nationalen Arbeiterklassen". Sie geht davon aus, dass die Anbindung der Arbeiterklasse über eine (sozialdemokratische) Arbeiterbewegung an den Staat nicht mehr gegeben ist. 1848 hatten die Arbeiter noch kein Vaterland, einem proletarischen Handwerksgesellen konnte es egal sein, ob er in Köln, Paris oder Brüssel arbeitete. Erst staatliche Sozialpolitik und die Orientierung der Arbeiterparteien auf ein "Hineinkämpfen" in den Staat hat sie an die Nation gebunden. Seit 1968 hat es eine breite und langfristige Abwendung der proletarischen Bewegungen vom Staat und von Staatlichkeit überhaupt gegeben. Seit den 1980er Jahren hat der Abbau von Sozialleistungen hat zu einer gewissen "Entfremdung" breiter Schichten vom Staat geführt, aber für die "zentrale Arbeiterklasse" funktioniert er noch: man denke an die massiven Staatsinterventionen seit 2008 zur Rettung der Autoindustrie in der BRD, den USA und in Frankreich. Für die traditionelle Linke ist der Staat die politische Ebene, von der aus Veränderungen des kapitalistischen Systems bzw. eine "Eindämmung" der schlimmsten Auswirkungen möglich sind.

Das Kapital war historisch von vornherein ein globales, über den Weltmarkt vermitteltes Verhältnis. Aber ohne die staatliche Rechtsordnung und die nationalen Arbeitsmärkte hätte das Kapital nicht überlebt und sich nicht entfalten können. Der Sozialstaat garantiert nur den eigenen Staatsangehörigen die Absicherung gegen Existenzunsicherheit und macht aus Proletariern "Staatsbürger". Das Kapital konnte sich aber nur entwickeln, indem es auf eine industrielle Reservearmee von Landarbeitern, Bauern, unterbeschäftigten Proletariern in anderen Ländern zurückgriff. Heute gibt es in fast allen Industrieländern multinationale Arbeiterklassen ohne tiefere Bindung an den Staat, in dem sie leben - während sich die "ansässigen" und "naturalisierten" ArbeiterInnen und absteigenden Mittelschichten an die Nation klammern und vom Staat besonders geschützt werden wollen.

In den letzten 20 Jahren hat der Klassenfeind dort, wo er mit dem Klassenkampf nicht mehr zurechtkam, die staatlichen Strukturen aufgelöst: Söldner, Mafia und/oder Bürgerkrieg regieren. Diese Zerstörung sozialer Sicherungssysteme löste massenhafte Fluchtbewegungen aus. In einer solchen bedrohlichen Situation gewinnen "starke Staaten"/"gelenkte Demokratien" als Inseln der Stabilität an Attraktivität (Russland, China). Wo nutzt die Klasse die Abwesenheit des Staates zum Aufbau eigener Strukturen? Wie sieht es mit der Globalisierung von unten aus?

Globale Lernprozesse

Direkte Kontakte zwischen ArbeiterInnen, ohne Zwischeninstanzen, sind heute auch über sehr große Entfernungen hinweg möglich. Dank der digitalen Netze ist es auch in entlegenen Gebieten viel einfacher, etwas über die Welt mitzukriegen als vor drei oder vier Jahrzehnten. Aber auch just-in-time-Ketten schaffen nicht automatisch eine globale Arbeiterklasse. Der Funke springt dann über, wenn die ArbeiterInnen eines Betriebes sehen, dass die eines anderen etwas wagen und Erfolg haben - wie etwa beim Streik 2014 in den Schuhfabriken von Yue Yuen in China, an dem sich 40.000 ArbeiterInnen beteiligten. 2015 streikten 90.000 ArbeiterInnen in Fabriken derselben Firma in Vietnam und etwa gleichzeitig traten in China 6000 ArbeiterInnen erneut in Streik. Seit dem 2014er Streik ist fast kein Monat ohne mindestens einen Streik in einer Schuhfabrik in China vergangen. Die ArbeiterInnen nehmen ihre Kämpfe gegenseitig und auch über Ländergrenzen hinweg wahr - auch ohne sichtbare, organisatorische Kontakte. ArbeiterInnen verschiedener Fabriken berichten und diskutieren beispielsweise in Internetforen miteinander.

MigrantInnen

Die offensichtlichsten Verbindungsglieder zwischen den ProletarierInnen aller Länder sind MigrantInnen. Es gab historisch Situationen, als massenhaft militante ArbeiterInnen ihr Land verließen, um der Repression zu entgehen - wie in den 1970er Jahren aus Spanien, Griechenland oder nach 1980 aus der Türkei - und ihre Kampf- und Organisationserfahrungen mitnahmen. In den Fabriken in Deutschland wurden sie häufig zu Avantgarden in den Kämpfen. Oder die MigrantInnen aus Mexiko, die zur Erntearbeit in die USA gingen und dort Streiks organisierten. (Nicht alle ArbeitsmigrantInnen sind oder bleiben ProletarierInnen. Die Selbstständigkeit ist oft der einzige Ausweg aus der Misere, das Netzwerk mit Landsleuten die Organisation der Wahl. MigrantInnen gehören oft zu denen, die sich mit aller Kraft hocharbeiten wollen und dafür ein Reservoir von schlecht entlohnter Arbeitskraft im Rahmen mobilisieren können. Solche Netzwerke taugen nur bedingt als Organisationsbasis im Klassenkampf.)

"Das Proletariat scheint zu verschwinden in dem Augenblick, in dem die proletarische Bedingung sich verallgemeinert. (Samir Amin)

Vier Jahrzehnte lang kamen die Bewegungen der Klasse nicht an die Geschwindigkeit des Kapitals heran, das auf der Suche nach verwertbarer Arbeitskraft den gesamten Globus durchkämmt hat. Diese Situation dreht sich jetzt um. Die ArbeiterInnen in Ägypten, China, Bangladesch, Mexiko, Südafrika usw., die sich in Bewegung setzen, benutzen die neuen technischen Möglichkeiten für sich; ihre Kämpfe haben sehr schnell eine weltweite Öffentlichkeit. Zum ersten Mal zeigt sich eine weltweite Arbeiterklasse, die die Potenz hat, die globale Produktion und Reproduktion zu organisieren - und somit die Welt umzuwälzen.

Dieses Neue ist in den Metropolen viel schwerer feststellbar, weil das Kapital seit den 1980er Jahren die Verlagerung als Erpressungsmittel benutzt hat. (Während ein kleiner Teil der Arbeiterklasse - "Mittelschicht" - an der Finanzialisierung/Spekulation auch eine Zeitlang mitverdienen konnte, manchmal mehr als durch Arbeit.)

Die Rolle der Linken

Welche Rolle können linke Aktivisten bzw. linke WissenschaftlerInnen spielen?

Seit der großen Streikwelle 2010 hat die linke Sozialwissenschaft weltweit die Arbeiterklasse wiederentdeckt und forscht über ihre Bewegungen. Aber wenn SoziologInnen einzelne Arbeiter interviewen, sind sie oft frustriert, weil die Leute nur an sich und ihre Familie denken. Sind sie im Betrieb, oder wenn sie gemeinsam kämpfen, "andere Menschen"? E. P. Thompson schrieb 1963, wenn man die Geschichte an einem Punkt anhalte, finde man nur Individuen. "Klasse" hingegen meine Menschen, die ihre eigene Geschichte leben, es müsse also eine ausreichend lange Zeitspanne der Veränderung betrachtet werden. "Die Entstehung der Arbeiterklasse [im Englischen: "The Making of..."] ist zugleich eine Entwicklung innerhalb der politischen und kulturellen Geschichte und innerhalb der Wirtschaftsgeschichte. Die Arbeiterklasse wurde nicht nur geschaffen, sie war zugleich ihr eigener Schöpfen."(22)

Und warum sollten ArbeiterInnen Sozialwissenschaftlern überhaupt etwas erzählen?

In der jungen welt(23) sagte kürzlich der ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte der Linken die groteske Situation einer marxistischen Intelligenz ohne marxistische Bewegung hätten. Das bringe zwei Gefahren mit sich: zum einen die des Avantgardismus, der im Namen eines passiven Proletariats spricht, das davon aber nichts weiß und die Werte nicht teilt, mit dem ihm vorgeschrieben wird, was es zu fühlen, zu denken und zu tun habe. Dieser Gefahr setzen sich kleine linksradikale Gruppierungen aus. Die andere Gefahr sei, dass die radikale Linke mit einer allgemeinen, demokratischen, antifaschistischen und egalitären Bewegung verschmelze - und die marxistische Kritik verschwinde.

Beide Tendenzen gibt es im Umgang mit den neuen Klassenkämpfen. Die einen wollen bereits eine "neue Internationale" gründen - wo es doch schon so viele gibt! Die anderen lehnen Kritik an der Arbeiterklasse ab und wollen ausschließlich ArbeiterInnen in ihren Kämpfen unterstützen. Sie setzen dabei auf von NGOs organisierte dezentrale Netzwerke oder gleich auf die Gewerkschaften. Internationale Konferenzen beschäftigen sich damit, wie die ArbeiterInnen weltweit in Verbindung treten können. Daneben gibt es auch noch den traditionellen "Arbeiterinternationalismus", hierarchisch und zentralistisch organisiert, mit wenig offener Debatte. Auf internationalen Kongressen tun die Delegierten so, als gäbe es noch überall den lebenslang in einem Unternehmen beschäftigen Hand- oder Büroarbeiter, dem seine Gewerkschaft und seine Arbeiterpartei einen Anteil am wachsenden Wohlstand erkämpfen.(24)

Es gibt aber auch die Versuche gewerkschaftskritischer Linker, organisierte Kontakte zwischen den Standorten eines Multis herzustellen. Allerdings ist es sehr schwierig, über gegenseitige Besuche hinaus tatsächlich gemeinsam zu kämpfen oder einen Solistreik zu organisieren.

Ein anderer Teil der radikalen Linken, die den Staat abschaffen will, hat in den letzten Jahren auf Aufstände gesetzt. Die "Bewegung der Plätze" überholte 2011 die Diskussion über den "kommenden Aufstand". Aber Griechenland 2008, Indignados, Gezi-Park, Stuttgart21, Hongkong usw. waren alles Bewegungen, an denen Hunderttausende von Menschen teilnahmen - und die am Ende nichts durchgesetzt haben! Diese Bewegungen haben die Möglichkeiten sichtbar werden lassen, die in weltweiten gleichzeitigen Aufständen liegen - aber auch brutal deren Grenzen aufgezeigt: von der Kommune von Tahrir zur Militärdiktatur. Die vielen Bewegungen seit Seattle, die Massenaufstände in Argentinien 2001, zuletzt Occupy Wallstreet usw. haben eines in aller Schärfe klar gemacht: ein Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung ist nur möglich, wenn sich die Arbeiter als Arbeiter am Aufstand beteiligen. Dass sie nur auf die Demos gehen, aber nicht streiken, reicht nicht. Denn im Kapitalismus ist der Streik die ultimative Waffe; hier wird reale Macht entwickelt, hier formieren sich kollektive Subjekte.

Selbst das Unsichtbare Komitee, das bisher so gar nichts für die Arbeiter übrig hatte, macht nun (zumindest verbal) große Schritte auf sie zu(26) - das ist für uns ein interessanter Punkt: Denn wer den Staat abschaffen, wer die Revolution will - der wird nicht ohne die ArbeiterInnen auskommen!

Die ProletarierInnen sind die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung, ihre Kämpfe geben den Takt vor. Aber noch immer gucken sich die meisten Linken nicht kritisch deren Kämpfe an, sondern werfen sofort die Frage nach dem "Klassenbewusstsein" auf. Sie malen sich ein in Partei und Gewerkschaft organisiertes Proletariat aus, wie es schon seit den 1950er Jahren nicht mehr existiert. "Was erwarten wir denn?", fragte polemisch ein Artikel in Wildcat-Zirkular 65, "Das Auftauchen von proletarischen Weltorganisationen? Solidaritätsstreiks? Copycats? Eine weltweite politische Bewegung? Das Neue und Spannende an der Frage nach der Weltrevolution ist ja, dass niemand Maßstäbe, Kriterien oder gar Antworten bat. Ein Maßstab könnte sein, ob sich etwas Gemeinsames entwickelt - und das sieht derzeit noch nicht so aus: die ArbeiterInnen kämpfen - aber sie kämpfen nicht zusammen. ... Eher im Gegenteil: sie kämpfen für sich und verlassen sich erst mal nur auf ihre eigene Stärke. Noch nicht mal auf die Kolleginnen im Nachbarbetrieb wird gewartet."(27)

Alte Organisationen und Parteien werden rechts liegen gelassen, die neuen sind noch nicht sichtbar. Es gibt auch noch keine Idee einer anderen Gesellschaft, die die Massen erfasst. In den Kämpfen lassen sich aber durchaus neue Entwicklungen feststellen. Über Asien hinaus haben in den neu industrialisierten Ländern ArbeiterInnen erstaunliche Fähigkeiten bewiesen, ihre Kämpfe zu organisieren und überregional zu koordinieren. Sie haben verstanden, dass sie sich nur kollektiv durchsetzen können. Sie kämpfen mit egalitären Forderungen gegen Spaltungslinien an, die das Kapital eingezogen hat. Sie lassen sich nicht von Gewerkschaften aufhalten, die sie bremsen und kontrollieren wollen. Und sie schrecken vor harten Konfrontationen nicht zurück. Sie werfen Probleme auf, auf die das System keine Antworten hat.

Dabei geraten sie in Konflikt mit einem Gesellschaftssystem, das der überwiegenden Mehrheit nichts mehr zu bieten hat außer Sparpolitik, das die Kämpfe nicht mehr in "Entwicklung" umsetzen kann. Ein Gesellschaftssystem, das auf den nächsten Crash zusteuert, das unter Führung der "letzten Supermacht" steht, die mit allen Mitteln gegen ihren wirtschaftlichen und politischen Niedergang kämpft. Die stärkste Militärmacht der Welt kann keine Kriege mehr gewinnen, geschweige denn Staaten aufbauen, sondern nur noch zerstören. Damit wird sie die Legitimation dieser Weltordnung weiter untergraben und immer mehr Menschen gegen sich aufbringen.

Wer wird den kommenden Auseinandersetzungen den Stempel aufdrücken? Die weltweiten Mittelklassen, die aus Angst um ihre Besitzstände nationalistischen Mobilisierungen folgen? Oder das globale Proletariat, von dem all ihr Reichtum und ihre Macht abhängig ist? Die kollektive Intelligenz der widerständigen ProletarierInnen ist dem Fachidiotentum der Institutionen überlegen; ihre Fähigkeit zur Organisation der Produktion und zur Selbstorganisation kann die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen - das haben die Bewegungen der Plätze und viele Bewegungen gegen Großprojekte gezeigt. Sie kann als einzige der zerstörerischen Potenz des Kapitals etwas entgegensetzen.

In der Wildcat wurde häufig die Hoffnung auf ein "Zusammenkommen von Arbeiterbewegung und sozialer Bewegung" formuliert - um die Rolle der sozialrevolutionären Linken zu bestimmen. Als ginge es um eine einfache Addition, bei der keine dem anderen wehtut. Ein Nebeneinander auf den "Plätzen" bei gegenseitigem Desinteresse. Das wird in Zukunft nicht ausreichen, wenn wir etwas reißen wollen.

Ein neues revolutionäres Subjekt wird nicht aus einer einfachen "Homogenisierung" hervorgehen (schon gar nicht aus einem "Bündnis"!), sondern aus Polarisierungs- und Spaltungsprozessen innerhalb der Klasse. Damit muss sich die politische Diskussion und Praxis der Linken auseinandersetzen.


Randbemerkungen

(2) Vom Klassenkampf zur 'sozialen Frage', Wildcat Zirkular 40/41, auf www.wildcat-www.de

(3) Vom schwierigen Versuch, die kapitalistische Krise zu bemeistern, Wildcat-Zirkular 56/57, Mai 2000; auf www.wildcat-www.de.

(4) Globalize it!, Vorwort zu Wildcat-Zirkular 38, Juli 1997; auf www.wildcat-www.de.

(5) Asien und wir, Wildcat-Zirkular 39, August 1997, auf www.wildcat-www.de.

(6) Offener Brief an John Holloway, Wildcat-Zirkular 39, August 1997, auf www.wildcat-www.de.

(7) Die neuen Arbeitsverhältnisse und die Perspektive der Linken, Wildcat-Zirkular 42/43, März 1998, auf www.wildcat-www.de.

(8) Chiapas und die globale Proletarisierung, Wildcat-Zirkular 45, Juni 1998, auf www.wildcat-www.de.

(9) Immanuel Wallerstein, Der historische Kapitalismus, 1984 (Argument).

(10) Silver, Beverly J., Forces of Labor - Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Aus dem Amerikanischen von wildcat & friends; Berlin-Hamburg, April 2005 (Assoziation A).

(11) Vgl. Peter Dicken, Global Shift. Mapping the changing contours of the world economy. 6th edition 2011.

(12) Vgl. Göran Therborn, Class in the 21st CenturyCentury, NLR 78, 2012, und den Artikel zu Südamerika in diesem Heft auf Seite 44ff.

(13) Was nach der Bauerninternationale kommt, Wildcat 82, Herbst 2008, auf www.wildcat-www.de.

(14) Samir Amin, The implosion of contemporary capitalism, New York 2013.

(15) Isabel Ortiz, Sara Burke, Mohamed Berrada, Hernán Cortés, World Protests 2006-2013, FES New York Office 2013.

(16) Vgl. den Artikel zu Hongkong in diesem Heft auf Seite 12ff.

(17) Steven Colatrella, In unseren Händen liegt eine Macht, Wildcat 90, Sommer 2011, auf www.wildcat-www.de.

(18) Jörg Nowak, Frühling der globalen Arbeiterklasse. Neue Streikwelle in den BRICS-Staaten, 2014; Massenstreiks und Straßenproteste in Indien und Brasilien, Peripherie 137, 2015; Massenstreiks in der globalen Krise, Standpunkte 10/2015, online auf rosalux.de.
Torsten Bewernitz, Globale Krise - globale Streikwelle? Zwischen den ökonomischen und demokratisch-politischen Protesten herrscht keine zufällige Gleichzeitigkeit. In: Prokla 177, 12/2014.
Dorothea Schmidt, Mythen und Erfahrungen: die Einheit der deutschen Arbeiterklasse um 1900. In: Prokla 175, 6/2014.

(19) Beverly Silver sieht durch die Kampfwelle 2010 ihre Thesen bestätigt: die Bewegung des Kapitals nach China habe eine neue und wachsende kämpfende Arbeiterklasse erzeugt. Nach wie vor denkt sie in Pendelbewegungen: Making - unmaking - remaking der Arbeiterklasse, nun schwinge das Pendel wieder zurück. Als Antwort auf die Kämpfe seien aber diesmal keynesianische Sozialpakte nicht mehr möglich - und auch nicht wünschenswert.
Beverly Silver, Theorising the working class in twenty-first-century global capitalism, in: Workers and Labour in a Globalised Capitalism (Palgrave Macmillan) edited by Maurizio Atzeni (2014), online auf der Website der Global Social Protest Research Group:
http://krieger.jhu.edu/arrighi/research/socialprotest/.

(20) Siehe den Artikel zu China in diesem Heft auf Seite 34 ff.

(21) ln der BRD haben nur bei Daimler Bremen ArbeiterInnen gegen die Auslagerung einer Abteilung an einen "Dienstleister" einen wilden Streik versucht, sich aber nicht durchsetzen können.

(22) E.P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt/M 1987, S. 8 bzw. 209f., englisch: 1963.

(23) Die zwei großen Gefahren, Gespräch mit Gáspár Miklós Tamás. junge welt, 4.6.2015.

(24) Global Labour Journal, https://escarpmentpress.org/globallabour
Global Labour Institute, http://www.globallabour.info/de/ Global Dialogue,
http://isa-global-dialogue.net/volume-4-issue-1/

(26) "Solange wir nicht wissen, wie wir ohne Atomkraftwerke auskommen, und ihre Stilllegung ein Business jener bleibt, die sie ewig betreiben wollen, wird die Hoffnung darauf, den Staat abzuschaffen, weiter belächelt werden; solange die Perspektive einer Volkserhebung bedeutet, dass es an Pflege, Ernährung und Energie mangeln wird, wird es keine entschlossene Massenbewegung geben. ... Was den Arbeiter ausmacht, ist nicht seine Ausbeutung durch einen Chef, die er mit allen anderen Lohnabhängigen teilt. Was den Arbeiter positiv ausmacht, ist sein technisches Können, verkörpert in einer bestimmten Produktionswelt. Niemand kann individuell die Gesamtheit der Techniken beherrschen, die dem gegenwärtigen System erlauben, sich zu reproduzieren. Das kann nur eine kollektive Kraft. ... Wir müssen wieder eine akribische Forschungsarbeit aufnehmen. Wir müssen in allen Sektoren, in allen Gegenden, die wir bewohnen, auf diejenigen zugehen, die über strategisches technisches Wissen verfügen. Nur dann werden es die Bewegungen wirklich wagen, 'alles zu blockieren'".
Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde. Hamburg 2015 (Nautilus).

(27) Das Ende der Entwicklungsdiktaturen, Wildcat-Zirkular 65, Februar 2003, auf www.wildcat-www.de.

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Quelle:
Wildcat 98 - Sommer 2015, S. 16 - 30
Eigendruck im Selbstverlag, V.i.S.d.P.: P. Müller - Wildcat
E-Mail: redaktion@wildcat-www.de
Internet: www.wildcat-www.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2015

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