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BERICHT/131: Meyers Lexikon online (UNESCO heute)


UNESCO heute 1/2008 - Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission

Meyers Lexikon online

Von Bernd Kreissig


Internet und World Wide Web erobern sich derzeit die Rolle des wichtigsten Informationsträgermediums - in den Industrieländern und zumal in der jüngeren Generation ist das bereits vollzogen. Die damit einhergehenden Veränderungen im Medienkonsum und -angebot bedeuten für alle Marktteilnehmer die Notwendigkeit, sich kontinuierlich anzupassen. Die Schwierigkeit in solchen Transformationsprozessen besteht darin, dass Überbrachtes und Neuerungen eine Zeit lang nebeneinanderher bestehen und regelmäßig von beidem sowohl ein Teil vergeht als auch ein anderer bleibt. Eine einseitige Orientierung auf die Neuerungen hin kann daher genauso falsch sein wie starres Festhalten des Überbrachten.

Man hat traditionellen Verlagen in den letzten Jahren wiederholt attestiert, sich nicht weitgehend und schnell genug auf die Gegebenheiten des Internets eingelassen zu haben. Insbesondere sei das klassische Verlagsmodell mit Validierung und Qualitätssicherung durch angestellte Redaktionen und/oder kontraktierte Autoren nicht in der Lage, der "Weisheit der Vielen" das Wasser zu reichen. Die von vielen und zum Teil anonymen Nutzern auf Websites kollaborativ zusammengetragenen Informationen seien klassisch verlegten Inhalten (unabhängig vom verwendeten Trägermedium) prinzipbedingt überlegen: So umfangreich und schnell wie die - von einer "Schwarmintelligenz" beflügelte - Web-Community könne eine Redaktion nun einmal nicht arbeiten.

Dem gegenüber steht die Tatsache, dass ein erfolgreiches Leitmedium des deutschsprachigen Internets wie "Spiegel online" seine Inhalte weiterhin primär in einem klassischen Autorenmodell erstellt und Benutzern lediglich Kommentierungen zugesteht, und dass auch in namhaften user-generated-content-Portalen des Web 2.0 kollaborative Selbstregulation in einer zunehmenden Zahl von Fällen grobe und zum Teil bösartige Falschinformation nicht verhindern konnte.

Meyers Lexikon online hat nun einen neuen, "dritten" Weg eingeschlagen. Das Angebot des Verlags Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus mit über 150.000 Artikeln, das auf dem gedruckten Taschenlexikon in 24 Bänden basiert, ist seit August 2006 im Internet kostenlos verfügbar. Zur Finanzierung wird neben den Artikeln und Suchergebnislisten Werbung eingeblendet. Im September 2007 öffnete der Verlag das Angebot dann für Benutzerbeiträge.

Was geschieht nun, wenn man sich in einem Thema gut auskennt und sein Expertenwissen beitragen könnte? Bei der Mitarbeit am Meyers Lexikon online ist jeder willkommen. Zunächst ist dafür eine kurze kostenlose Registrierung nötig. Anschließend können sowohl bestehende Lexikonartikel erweitert oder umgeschrieben als auch komplett neue Beiträge verfasst werden. Als Hilfestellung stehen auf der Website veröffentlichte Richtlinien bereit. Über das Schwesterportal Meyers Medien online kann auch passendes Bildmaterial beigesteuert werden. Es besteht zudem die Möglichkeit, mit anderen Nutzern über die jeweiligen Inhalte zum Stichwort zu diskutieren oder Fragen, Hinweise und Kommentare zu hinterlassen.

Was unterscheidet Meyers Lexikon online von anderen Web-2.0-Angeboten? Die Nutzerbeiträge gelangen - abgesehen von denen auf Diskussionsseiten - nicht automatisch in die geprüfte lexikalische Substanz. So überschreibt die von einem Nutzer veränderte Artikelfassung nicht etwa den ursprünglichen, validierten Inhalt. Beide Versionen sind zunächst nebeneinander verfügbar und entsprechend gekennzeichnet. Im nächsten Schritt prüft die Fachredaktion alle Änderungen. Sie übernimmt richtige Ergänzungen, verwirft Falsches oder Überflüssiges, evaluiert Vorschläge für Neueinträge und prüft Bildinhalte und Bildqualität - das "Beste beider Welten" wird dabei zusammengeführt. Abschließend erfolgt die Freigabe des überarbeiteten und geprüften Artikels. Auf diese Weise gelangen "Spaßbeiträge" gar nicht erst in das Lexikon, genauso wenig wie sachliche Fehler, Manipulationen, Verunglimpfungen oder rechtswidrige Inhalte. Die Historie der Bearbeitungen jedes Artikels kann eingesehen werden, somit können Änderungen - sei es von Nutzern oder von der Redaktion - nachvollzogen werden.

Die Fachredaktion kann auch als Schiedsrichter agieren, wenn die Meinungen zweier Beiträge aus der Internet-Community konträr sind. Eine weitere wichtige Aufgabe der Redakteure ist das Erkennen von geschönter Selbstdarstellung oder Verharmlosung - als Stichwörter seien hier Äußerungen zu Drogen, politischem Extremismus oder Sekten genannt. Daneben arbeitet die Fachredaktion kontinuierlich diejenigen Aufgaben ab, für die sich kein freiwillig beitragender Nutzer gefunden hat. Dazu zählt insbesondere die systematische Aktualisierung sowohl von einzelnen Artikeln als auch von ganzen Themenbereichen, deren Anpassung oder Bearbeitung durch bestimmte Ereignisse oder Entwicklungen notwendig wird.

Entscheidend für die Qualität des Lexikons ist, dass der geprüfte und ungeprüfte Bereich klar voneinander getrennt sind und der Benutzer bei der Suche zunächst immer die redaktionell verifizierte Artikelversion vor Augen hat. Das Öffnen der "bearbeitbaren Artikelversion" mit ggf. noch ungesichteten Benutzerbeiträgen ist dann eine bewusste Entscheidung des jeweiligen Anwenders.

Beim Nutzer findet diese Form der Kombination professionell geprüfter Inhalte und der Möglichkeit eigener Beiträge gute Akzeptanz.

Interessanterweise bevorzugt übrigens eine beachtliche Anzahl von Nutzern weiterhin eine seit über 200 Jahren im Verlag geübte Form, Fragen, Wünsche oder Verbesserungs- und Textvorschläge zur Lexikonsubstanz zu äußern: den Leserbrief - auch wenn dieser heutzutage immer öfter auf elektronischem Wege zugestellt wird.


Bernd Kreissig ist Geschäftsführer der Brockhaus online GmbH.



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Quelle:
UNESCO heute, Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission
Ausgabe 1/2008, S. 43-44
Herausgeber: Deutsche UNESCO-Kommission e.V.
Redaktion: Colmantstraße 15, 53115 Bonn
Tel.: 0228/60 497-0, Fax: 0228/60 497-30
E-Mail: sekretariat@unesco.de
Internet: www.unesco.de, www.unesco-heute.de

UNESCO heute erscheint halbjährlich.
Bezug frei.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2008