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BERICHT/187: Paradigmenwechsel in Hollywood (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010

MEDIENSPIEGEL
Das kulturelle Unbehagen ist im Mainstream angekommen
Paradigmenwechsel in Hollywood

Von Hans Komorowski


Auf die außenpolitische und militärische Strategie der USA der letzten zehn Jahre hat die amerikanische Filmbranche nach anfänglichem Zögern mit einer neuen Generation kritischer Kriegsfilme reagiert. Das in ihnen formulierte Unbehagen an der eigenen Kultur gelangt mit dem Fantasyfilm Avatar nun auch im Mainstream zu bemerkenswertem Ausdruck.


Der Oscar für den "Besten Spielfilm" gilt als Königsdisziplin unter den mehr als 30 Kategorien, in denen der wohl bedeutendste Filmpreis der Welt in Los Angeles verliehen wird. Am jeweiligen Gewinner lässt sich nicht nur erkennen, welche künstlerische, sondern auch welche filmhistorische oder ästhetische Leistung die Academy of Motion Picture Arts and Sciences honoriert. Unter den Produktionen, die 2010 in dieser Kategorie nominiert waren, ragten zwei Favoriten hervor: der Irak-Kriegsfilm The Hurt Locker von Kathryn Bigelow und das 3D-Fantasyspektakel Avatar von James Cameron. Diese nicht ungewöhnliche Konstellation zweier thematisch und stilistisch so unterschiedlicher Filme wurde von einer breiten Medienfront zu einem besonderen Konkurrenzkampf dramatisiert: Es ging um die Frage, ob Hollywood die Courage besäße, ein politisches Signal zu setzen, oder ob es nur einen rekordverdächtigen Blockbuster prämieren würde. Am Ende triumphierte der Kriegsfilm über das Science-Fiction-Märchen. Der Jubel war groß, schien doch mit dieser vermeintlich mutigen Entscheidung das kritische Gegenwartskino über den unterhaltungsorientierten Mainstream gesiegt zu haben, und Hollywood sonnte sich im Lob dafür, dass es die Augen vor den verlustreichen Kriegen der USA nicht verschließt. Doch ganz so einfach, wie die einhellige Resonanz suggeriert, lässt sich dieses Ergebnis nicht bewerten. Denn schaut man sich beide Filme genauer an, wird die Frage relevant, welche Gemeinsamkeiten beide Oscar-Konkurrenten jenseits ihres unbestrittenen Genre-Unterschiedes aufweisen und ob nicht Camerons Avatar einen Paradigmenwechsel aufgreift, den der US-amerikanische Kriegsfilm seit geraumer Zeit thematisiert und den Lutz Lichtenberger in der Berliner Zeitung den "Kriegseintritt der Kulturwissenschaft" nennt.


Zum Wiedererwachen des kritischen Kriegsfilms

Einerseits markiert der Erfolg für The Hurt Locker keine Zäsur innerhalb des amerikanischen Kinos. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts griff Hollywood die "Modernen Kriege" und ihre schrecklichen Folgen auf. Gut 30 Jahre später verdichtete sich diese Auseinandersetzung sogar zu einem eigenständigen Subgenre durch längst legendäre Filme von Francis Ford Coppola, Michael Cimino oder Oliver Stone, die das amerikanische Trauma in Vietnam aufarbeiteten.

Andererseits repräsentiert Bigelows Film ein bemerkenswertes Wiedererwachen des kritischen Kriegsfilms, nachdem die Filmindustrie in Hollywood durch die Terrorattacken am 11. September 2001 in eine Schockstarre verfallen war. Während sich die Branche entweder aus falsch verstandenem Patriotismus oder aus opportunistischen Gründen der Political Correctness zu kaum einer kritischen Reflexion der unilateralen Kriegspolitik der Bush-Administration hinreißen ließ, war es der Filmemacher Michael Moore, der in seinen öffentlichen Auftritten ebenso wie in seinen Dokumentarstreifen mit polternder Polemik gegen den Bellizismus der Neocons in Washington anfilmte und den Unmut vieler Amerikaner auf sich zog. Er bereitete früh den Weg für eine Entwicklung, in deren Zuge sich die amerikanische Filmkunst ihrer kritischen Verantwortung besann und in einigen äußerst differenzierten Arbeiten das militärische und politische Engagement der USA thematisierte. Unter ihnen verdient neben Bigelows The Hurt Locker der Agententhriller Body of Lies von Altmeister Ridley Scott besondere Beachtung.

The Hurt Locker erzählt die Geschichte eines dreiköpfigen Spezialteams der US-Armee, dessen Einsatz im Irak tagtäglich darin besteht, versteckte Bomben aufzuspüren und zu entschärfen. Zu Recht lobt die Kritik, dass der Film der Versuchung widersteht, in irgendeiner Form Partei entweder für die amerikanischen Soldaten oder die Einheimischen zu ergreifen. Stattdessen avanciert er zu einer nervenaufreibenden Studie über die Verselbstständigung des kriegerischen Handelns zum Rausch. Er begleitet mit beinahe analytischer Detailversessenheit die Soldaten bei ihrer Arbeit und dokumentiert zuweilen stoisch die Gefahr, der sie sich aussetzen. Sachlich und umso bewegender findet Bigelow auch Bilder für die Angst, die Einsamkeit und die Müdigkeit der jungen Männer. Als die Hauptfigur, Sergeant William James, in die Heimat zu seiner Familie zurückkehrt, interessiert Bigelow nicht die Schwierigkeit des Soldaten im Umgang mit der Normalität, sondern seine plötzlich tief empfundene Skepsis gegenüber der eigenen Kultur und damit indirekt gegenüber jenen Werten, für deren Verteidigung er sein Leben aufs Spiel setzte. James steht beim gemeinsamen Familieneinkauf vor den endlosen Produktpaletten einer selbstgefälligen Überflussgesellschaft, deren dekadente Verheißungen die alltägliche Gewalt in der Ferne ausblenden. Angesichts dieser scharfen Diskrepanz existenziell verunsichert, beschließt er, seinen Sohn und seine Frau zu verlassen, um weitere 365 Tage lang Bomben im Irak zu entschärfen.

Das sich in solch befremdenden Bildern entfaltende kulturelle Unbehagen markiert einen Paradigmenwechsel im Genre des amerikanischen Kriegsfilms. Haben sich die Vietnam-Filme noch mit dem Grauen des Krieges selbst oder der schwierigen Rückkehr der Veteranen in die Heimat befasst, dabei die eigene Kultur in ihren Grundfesten aber nie in Frage gestellt, so ziehen die Kriegsfilme der jüngsten Generation zumindest den Aspekt der moralischen Rechtfertigung der Nahost-Einsätze durch die kulturelle und ethische Überlegenheit ihres Heimatlandes zunehmend in Zweifel.


Abkehr von der amerikanischen Heimatkultur

Ridley Scott greift in Body of Lies dieses kulturelle Unbehagen auf und konstruiert einen kaum signifikanter darzustellenden Gegensatz zwischen dem in Jordanien stationierten CIA-Agenten Ferris und seinem in Washington operierenden Vorgesetzten Hoffman. Letzterer steht symbolisch für eine überholte Strategie im Global War on Terror. Er führt den Kampf gegen den Terror virtuell: allein mit Hilfe satellitengesteuerter Medien und Waffen. Sein Agent Ferris dagegen spricht fließend Arabisch, setzt sich leidenschaftlich für seine einheimischen Informanten ein und versucht, sowohl aus den langjährigen Erfahrungen der lokalen Behörden zu lernen als auch die kulturellen Besonderheiten der islamischen Gesellschaft zu verstehen. Er personifiziert den von General Petraeus 2006 autorisierten Strategiewechsel der US-Armee, wie er in den Field Manuals festgehalten ist. Grundgedanke dieser neuen Strategie ist es, den Kampf gegen den Terror als Battle for Hearts and Minds zu führen. Das Ziel ist also, den Konflikt nicht allein gewaltsam zu lösen, sondern durch die Einbeziehung von "Politikwissenschaft, Geschichte und Anthropologie", also einem ganzen "Arsenal kulturwissenschaftlicher Disziplinen" (Lichtenberger), ein stärkeres Verständnis für die kulturellen und religiösen Eigenheiten der besetzten Länder und ihrer Menschen zu bewirken. Während sich Ferris im Krisengebiet um Bündnisse bemüht, sogar Freundschaften schließt, durchkreuzt sein Vorgesetzter aus der Ferne willkürlich Ferris' Pläne und Absprachen, gefährdet die Sicherheit der Informanten und erledigt nebenher mürrisch die ihm lästigen Pflichten als Familienvater. Ferris' Zerwürfnis mit Hoffman, dessen Ignoranz, Überheblichkeit und auch sich körperlich manifestierende Sattheit ihn anwidern, gerät zum Bruch mit der amerikanischen Heimatkultur. Er beendet seine Agententätigkeit und zieht ein Leben in Jordanien der Rückkehr in die USA vor.

Was hat nun diese Problematik mit dem Fantasy-Streifen Avatar zu tun, der doch bisher nur als teuerste Filmproduktion und erfolgreichster Kassenhit aller Zeiten von sich Reden machte? Kritiker werfen dem Film entweder wohlfeilen Öko-Kitsch vor oder sie loben lediglich seine technische Umsetzung - inhaltlich reduzieren sie ihn auf eine unterhaltsame Pocahontas-Paraphrase.


Ein Fantasyfilm als Kriegsparabel

Derartige Urteile zeugen jedoch von einem gründlichen Missverständnis des Films sowie von einem intellektuellen Dünkel gegenüber dem Mainstream-Kino, dem tendenziös unterstellt wird, per se zu keiner ernsthaften Fragestellung fähig zu sein. Das farbenfrohe und effektgeladene Action-Abenteuer Avatar hat jedenfalls deutlich stärker polarisiert als Bigelows zweifellos exzellente Kriegsstudie. Der Anspruch, sich Camerons Film unvoreingenommen anzuschauen oder, um mit einem Leitmotiv des Films selber zu sprechen, sich ihn nicht nur anzusehen, sondern gleichsam hineinzusehen und die Aussagen der images zu erspüren, welche hinter den pictures wirksam werden, wurde pikanterweise durch die scharfe Kritik der konservativen Rechten in den USA evoziert. Diese ereiferten sich nicht nur an der Figur einer rauchenden, trinkenden und fluchenden Wissenschaftlerin, sondern ebenso an der ihrer Meinung nach unverhohlen unpatriotischen Darstellung der amerikanischen Armee. Im Jahr 2154 wird der querschnittsgelähmte Kriegsveteran Jake Sully zum erdähnlichen Mond Pandora entsandt, auf dem die Menschen in riesigen Tagebauen das wertvolle Mineral Unobtainium fördern. Dieser Ressourcenabbau bedroht das ökologische Gleichgewicht und zudem den Lebensraum einer humanoiden Spezies namens Na'vi. Während das Militär die Interessen der Wirtschaft mit einem brachialen Kriegsschlag durchzusetzen wünscht, bemüht sich eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern um eine friedliche Übereinkunft mit den Einheimischen, die auf eine - aus westlicher Perspektive - noch archaische Weise im spirituellen Einklang mit der Natur leben. Die Wissenschaftler stellen mittels künstlicher Avatare, die der Gestalt der Na'vi ähneln, Kontakt zu ihnen her. Auch Jake Sully schlüpft in einen solchen Avatar und wird vom Volk der Na'vi aufgenommen, um ihre Sitten und Bräuche zu lernen. Doch je mehr sich Sully in die Kultur der Einheimischen integriert, desto stärker wendet er sich von den rücksichtslos profitorientierten Interessen des Militärs ab und führt letztlich die Na'vi in einer kriegerischen Auseinandersetzung zum Sieg über seine eigenen Landsleute, die gedemütigt den Planeten verlassen müssen.

Obgleich als massentaugliches Leinwandevent inszeniert, lässt sich Avatar als Parabel auf die aktuellen Kriege der USA deuten. Dabei räumt Cameron mit dem Allgemeinplatz auf, die USA führten ihre Kriege allein gegen den Terror. In seinem Film geht es konsequenter Weise nur um gewaltsam durchgesetzte Ressourcensicherung, also um Profitgier, die jeden moralischen Einwand negiert. Er konfrontiert das Publikum mit genau jenem selbstkritischen Ansatz, den auch die Kriegsfilme aufweisen, und irritiert es mit visuellen Referenzen an die im kulturellen Gedächtnis verhafteten Bilder von Indianerausrottung, Napalm-Verwüstung in Vietnam und den einstürzenden Towern in New York. Dem arroganten Gebaren des Militärs, das die Eingeborenen als "Affen", "Ungeziefer" und "verlauste Wilde" diffamiert und dessen rassistischen Oberkommandierenden der Regisseur die Bush-Doktrin "Wir bekämpfen Terror mit Terror" in den Mund legt, hält die wissenschaftliche Leiterin emphatisch entgegen: "Der Reichtum dieser Welt liegt nicht in der Erde, er umgibt uns überall. Die Na'vi wissen das und sie kämpfen, um ihn zu verteidigen. Wenn Sie diese Welt mit ihnen teilen wollen, müssen Sie sie verstehen!"


Der Bruch mit der eigenen Identität

Avatar geht noch einen Schritt weiter: Das kulturwissenschaftlich ambitionierte Verständnis für den Gegner weicht einer tief empfundenen Empathie für das Fremde. Jake Sully gelangt zu der Einsicht, dass seine wissenschaftliche Arbeit letztlich im Dienst der gewaltsamen Okkupation steht: "Ich war ein Krieger, der davon träumt, Frieden zu bringen, aber früher oder später muss man doch aufwachen." Sein Resümee ist daher von Resignation durchdrungen: Die Na'vi "werden ihre Heimat nicht aufgeben und sie machen keinen Deal. Wofür auch? Alkoholfreies Bier und Jeans? Es gibt nichts, was sie von uns haben wollen." Sein zunehmendes Unbehagen an der eigenen Kultur gipfelt in einem radikalen Bruch mit der eigenen Identität - als Mensch und als Amerikaner. Zum Finale des Films verlässt er seinen menschlichen Körper und öffnet nach einer Spirituell aufgeladenen Metamorphose als echter Na'vi die Augen. Mit diesem aufklärerisch mahnenden Bild entlässt Cameron den Zuschauer: Aufwachen! Dieses Leitmotiv, das sich in verschiedenen verbalen und visuellen Variationen durch den Film zieht, nämlich in die Dinge hineinzusehen, ihr wahres Wesen zu ergründen, findet sein berührendes Sinnbild in der energetisch vermittelten Empathie der Na'vi für alles Lebendige. Darüber hinaus fungiert es als allegorisch aufgeladenes Plädoyer dafür, Fragen zu stellen und selbstbestimmt zu einer kritischen Meinung zu gelangen. Getragen von den jüngsten Entwicklungen des Kriegsfilms definiert Cameron damit die moralischen Kriterien des amerikanischen Mainstream-Kinos völlig neu. Unter diesem Aspekt betrachtet, wäre der Oscar für Avatar die mutigere Entscheidung gewesen.


Hans Komorowski (* 1974) nach Ausbildung zum klassischen Bühnentänzer und Engagements in Dessau und Karlsruhe studierte er Kulturwissenschaften und Philosophie an der HU Berlin; Tätigkeiten bei Cicero online und der NG/FH.
hkomorowski@web.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010, S. 58-61
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2010