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FORSCHUNG/078: Der Wandel des Sehens und die Medien (impulse - Uni Bremen)


impulse aus der Forschung -
das Autorenmagazin der Universität Bremen Nr. 2/2011

Wie eine mediatisierte Welt uns verändert
Der Wandel des Sehens und die Medien

Von Friedrich Krotz


Medien nehmen in unserer Kommunikation und in unserem Alltag einen immer breiteren Raum ein. Das Leben und die Erfahrungen der Menschen beziehen sich in zunehmendem Maße auf Medien und ihre Welt. Das Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) an der Uni Bremen koordiniert ein Schwerpunktprogramm der DFG, das in zwölf Projekten deutschlandweit den Wandel von Wahrnehmung und Alltagsleben durch Medien untersucht.


Menschen leben in immer vielfältigeren und komplexeren Medienumgebungen. Sie gebrauchen Medien immer häufiger und für alle Formen der Kommunikation, und auch das Denken, Handeln und Erleben der Menschen bezieht sich immer mehr darauf. Das hat natürlich Konsequenzen für Alltag und soziale Beziehungen, für Politik und Wirtschaft, und nicht zuletzt auch für die Wissenschaft: Wir sprechen von einem Leben in mediatisierten Welten.

In unserem Forschungszusammenhang verwenden wir "Mediatisierung" nicht als historisches, sondern als kommunikationswissenschaftliches Konzept. Dazu hat die DFG das Schwerpunktprogramm 1505 ermöglicht, in dem Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Soziologen, Informatiker und Medienpädagogen an zehn verschiedenen Standorten in Deutschland "mediatisierte Welten" untersuchen. In insgesamt zwölf Projekten geht es beispielsweise um die politische Bedeutung von Twitter, um skopische, also bilderzeugende Medien, um die sich verändernde Sozialisation von Kindern und Jugendlichen oder um die Welt der Online-Pokerspieler.

Mediatisierung ist keineswegs ein Prozess, der erst mit den digitalen Medien begonnen hat - die mediale Praxis des Lesens und Schreibens beispielsweise hat die Menschheit seit Jahrtausenden begleitet und die Erziehung, die öffentliche Verwaltung, das Denken der Menschen und vieles andere radikal verändert. Dadurch erst sind Wissenschaft, aufgeschriebene Traditionen, nicht nur im Gedächtnis vorhandene Gesetze und Lebensregeln, Literatur und Sachbücher möglich geworden. Selbst Gott kam, wie die Bibel berichtet, nicht ohne Schrift aus - die zehn Gebote werden Moses von Gott schriftlich übergeben.


Nur wir Menschen erkennen Bilder

Über die Schrift hinaus leben wir heute in einer Welt der Bilder - der Kupferstich und der Fotoapparat, Bewegtbilder in Kino und Fernsehen, bildliche virtuelle Realitäten in Second Life oder Computerspielen sind Beispiele für ihre zunehmende Bedeutung in den letzten Jahrhunderten. Der Wandel unserer visuellen Kultur gehört folglich zum übergreifenden Prozess der Mediatisierung. Das DFG-Programm Mediatisierte Welten beschäftigt sich damit in Form von Fallstudien - indem es Menschen nach ihren Seh-Erfahrungen und deren Veränderung befragt, und indem es aus den verschiedensten Wissenschaften das relevante Wissen zur Entwicklung der Bildkultur von heute sammelt.

Dabei lernen wir von der Kulturgeschichte des Produzierens und Ansehens von Bildern ebenso wie von den physikalischen und psychologischen Grundlagen des Sehens. Auch sozialwissenschaftliche Ansätze erklären, wie wir aus den vielen visuellen Reizen, die sich auf unserer Netzhaut abbilden, ein Bild erkennen. Natürlich lernen wir auch von der Informatik, die den Menschen ein erweitertes Sehen in einer augmented reality beibringt. Bilder sind also Kommunikate, und wir sind die einzigen Wesen, die Bilder herstellen und sie als Bilder erkennen können - die Katze erkennt einen Hund auf einem Bild nicht. Was genau ist aber eigentlich ein Bild? ist eine erste Frage. Gibt es überhaupt einen einheitlichen Gegenstand den man mit dem Wort "Bild" bezeichnen kann? Der Bildtheoretiker Mitchell zählt fünf Arten von Bildern auf: graphische, optische (also etwa ein Spiegelbild), wahrgenommene, mentale (zum Beispiel Traumbilder) und Sprachbilder.


Der Raum, wie er vor uns liegt

Mindestens genauso interessant ist die Frage, wie wir eigentlich Bilder sehen, wahrnehmen, erleben. Nicht nur, dass wir das Bild, das auf der Netzhaut eigentlich verkehrt erscheint, routiniert im Alltag korrigieren. Physikalisch sind wir beim Sehen einer Vielzahl von visuellen Reizen ausgesetzt, die auf unsere Netzhaut treffen, wir sehen aber gleichwohl Farben, Formen, Gegenstände und Bewegungen. Das geht nur, weil wir mit unserem Gehirn visuelle Reize selektieren, ausblenden, ordnen und zusammenfassen, weil das Interpretieren im Kopf das Sehen mit dem Auge prägt. Unser Sehen und das, was wir von Bildern erwarten, ist deshalb erlernt, traditionell bestimmt, von der Kultur abhängig, in der wir leben, und es hat sich im Laufe der Geschichte in ganz verschiedenen Schritten entwickelt.

Der Islam lässt Bilder in seinen Moscheen nicht zu. Christliche Kirchen waren zwar ursprünglich mit Bildern verziert. Im vierten Jahrhundert wurde dies allerdings von Kaiser Konstantin und Papst Sylvester radikal verboten, um Götzendienst zu verhindern. Der christliche Fundamentalismus der damaligen Zeit sorgte dafür, dass alle Kirchen weiß übertüncht und auch zahlreiche römische und griechische Statuen und Gemälde zerstört wurden: "Die Kunst starb, und die Kirchen blieben ungefähr sechshundert Jahre lang weiß", urteilt der Maler Lorenz Ghiberti schon 1447. Maler gab es gleichwohl, und Bilder, oft Wandbilder, auch. Die Malerei blieb aber Handwerk und wurde als Kunst erst Ende des ersten Jahrtausends wiederbelebt.

In der Zeit der Gotik wurden Bilder in der Bedeutungsperspektive gemalt. Das heißt, dass etwas nicht unbedingt so abgebildet wurde, wie es "eigentlich" für uns heute aussieht. Weil sie mehr Bedeutung hatten, wurden der Kaiser oder der Papst in einem Bild einfach größer gemalt als die sie umgebenden Ritter und Höflinge.

Ebenso erkannte man Persönlichkeiten an tradierten Symbolen. Ein Heiliger mit einem Pfeil wurde von allen als der heilige Sebastian erkannt, weil dieser durch einen Pfeil getötet wurde. Das Ansehen von Bildern hatte um die erste Jahrtausendwende wenig mit dem Sehen zu tun, wie wir es heute praktizieren - und auch die Erwartungen und Vorstellungen, was man auf einem Bild zu sehen bekommt, waren unterschiedlich.

Giotto di Bondone war dann im 13. Jahrhundert der erste, der damit begann, den Menschen in seiner natürlichen Umgebung zu malen. Der Architekt und Maler Filippo Brunelleschi griff dies ein Jahrhundert später mit dem Entwurf einer Kirche auf, die er in Zentralperspektive darstellte: als Raum, wie er vor uns liegt. Er "erfand" damit die Zentralperspektive, denn er entwickelte auch die Regeln, wie man dreidimensionale Räume zweidimensional abbilden kann: dass sich eigentlich parallele Linien in einem Fluchtpunkt schneiden, dass kleiner wiedergegebene Dinge weiter entfernt zu sein scheinen als größer wiedergegebene etc.


Die Zentralperspektive saugt uns ins Bild

Sein Kollege Masaccio versuchte dann Räume so zu malen, dass die Leute dachten, sie könnten sie betreten. "Das Fresko ist insofern auf Täuschung angelegt, als es dem Betrachter nahelegt, zumindest einen Augenblick lang unschlüssig darüber zu sein, ob er sich nur vor einer bunt bemalten Wand oder vor einer Öffnung in der Mauer befindet ...", so der Kunsthistoriker Leonhard Schmeiser in seiner Untersuchung über die Erfindung der Zentralperspektive. Die perspektivische Gestaltung wurde damals zur Norm, ein Bild daran gemessen, wie gut es die "Realität" abbildet.

Damals wurde unsere Bildbetrachtung standardisiert. Fotografien halten wir auch deswegen für authentisch und "wahr", weil sich darauf ja die Wirklichkeit technisch ganz von alleine in der "richtigen" Gestalt abzubilden scheint. Vor allem deshalb sind wir durch Fotos besonders leicht zu betrügen. Nur Künstlern wird bis heute zugestanden, dass sie solche perspektivischen Sehgewohnheiten durchbrechen, Picasso, Klimt oder den Kubisten.

Bewegtbilder, also Filme und Fernsehen, müssen, damit sie unsere Sehgewohnheiten nicht stören, ebenfalls in solchen perspektivischen Formen gefilmt und vorgeführt werden. Selbst Computerspiele, etwa Ego-Shooter, und virtuelle Wirklichkeiten wie Second Life sind in dieser Perspektive aufgebaut, um das Eintauchen in diese "zweite Wirklichkeit" zu erleichtern. Dass es auch hier anders geht, zeigt der springende Klempner Super Mario, in Japan entworfen, der den Spielern in der Draufsicht und zweidimensional gezeigt wird.

Wenn wir Bilder als Kommunikate betrachten, wird noch etwas anderes deutlich: Mit der Erfindung der Zentralperspektive verändert sich auch das Verhältnis des Zuschauers zum Bild. Um das Bild "richtig" zu sehen, muss er eigentlich an einem bestimmten Punkt im Raum stehen. Die Zentralperspektive bezieht den Betrachter mit ein. Filmemacher und Videospiel-Entwickler greifen darauf zurück, damit der Zuschauer quasi in die Szene eingesogen wird.


Kommentare im erweiterten Auge

Heute nimmt die Informatik die Auseinandersetzung mit der Zentralperspektive wieder in einer neuen Weise auf. Augmented Reality oder erweiterte Realität bedeutet, dass wir mehr sehen sollen, als uns tatsächlich materiell umgibt. In das sichtbare Bild werden zusätzliche Informationen untergebracht, zum Beispiel beim Autofahren auf die Windschutzscheibe projiziert. Ausgehend von der Zentralperspektive klinken sich Bilder in das perspektivische Sehen des Fahrers ein.

Wir kennen das eigentlich schon: Wenn wir mit Kopfhörern durch ein Museum laufen und Kommentare zu den verschiedenen Exponaten abrufen. Solche Zusatzinformationen können hilfreich und informativ sein. Fußballübertragungen im Fernsehen blenden manchmal Linien oder Pfeile auf ein Spielfeld, sodass Taktiken und Spielweisen deutlich werden.

Etwas Ähnliches schafft auch das Smartphone. Es zeigt, wenn Sie seine Kamera auf die Umgebung richten, eine erweiterte Realität, indem es weitere Bilder darüber legt. Der Bildschirm zeigt dann nicht nur eine Straßenkreuzung, sondern gibt auch die Richtung zur nächsten U-Bahn-Station an, bei einem Denkmal wie dem Eiffelturm kann man etwas über den Erbauer, die Höhe oder das Baujahr erfahren.

All dies sind Entwicklungen, die zeigen, wie der Metaprozess der Mediatisierung begann, wie er sich entwickelt hat und wohin die Reise vielleicht geht. Das ZeMKI versucht auch, diese Entwicklungen mit sozialwissenschaftlichen Theorien zu beschreiben. Ängste vor technischen Entwicklungen haben schon früher die Leute beschäftigt: Ist die Welt so, wie wir sie sehen? Betrügen Bilder? Stören sie unsere Realitätserfahrungen? Und wohin führt uns Mediatisierung im Hinblick auf eine wachsende Bedeutung der Medien?

Diese Fragen sind nicht nur für die Theorie interessant, sondern auch für uns selbst als Menschen, für unsere Formen des Zusammenlebens und damit auch für unsere Demokratie. Die hier untersuchten Prozesse sind wichtig, weil sie tief in unsere Lebensweise eingreifen. Deshalb dürfen wir auch die Entscheidungen, wohin die Entwicklung geht, nicht den Technikern überlassen, sondern müssen sie als Zivilgesellschaft diskutieren und über sie entscheiden.


Friedrich Krotz ist seit 2010 Professor am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen. Zuvor war er an den Universitäten Erfurt und Münster tätig. Zu seinen Themen gehören Theorien und Methoden der Kommunikationswissenschaft und der Cultural Studies, Mediensoziologie und Mediatisierungsforschung. Er hat Forschungsprojekte in Europa, den USA und mit Japan durchgeführt. Derzeit ist er Mitglied des Fachkollegs Sozialwissenschaften der DFG, Koordinator des DFG-Schwerpunktprogramms "Mediatisierte Welten" sowie Editor des European Journal of Communication Research.

Weitere Informationen:
www.zemki.uni-bremen.de
www.mediatisiertewelten.de



ABBILDUNGEN

Bildunterschriften und Seitenangabe der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen,
s. die Originalpublikation im Internet unter:
http://www.uni-bremen.de/universitaet/presseinfos/publikationen/impulse/aeltere-ausgaben-impulse.html#c2529

Seite 10:
Die Bedeutungsperspektive hebt die zentrale Person hervor:
Kaiser Otto III. mit Reichsfürsten und Bischöfen.
München: Bayer. Staatsbibliothek (links).

Wandbild oder Öffnung in der Mauer: Fresco "Dreifaltigkeit" (1426-27) von Masaccio in der Kirche Santa Maria Novella (rechts).

Seite 11:
Bruch mit der Tradition: Giotto di Bondone (1266-1337) stellt Menschen in ihren natürlichen Relationen dar. Der Tod des hl. Franziskus. Bardi-Kapelle, Florenz (oben links).

Anbetung der Heiligen Drei Könige. Cappella degli Scrovegni, Padua (oben rechts).

Tradierte Sehgewohnheiten: Die Pfeile durch seinen Körper kennzeichneten den heiligen Sebastian. Antonello da Messina (1476) in der Gemäldegalerie Dresden (unten links).

Figur am Altar der Kirche St. Sebastian in Mannheim (unten rechts).

Seite 12:
Die Zentralperspektive als neuer Standard. Das Bild, selbst in der Zentralperspektive, zeigt eine Vorrichtung zum perspektivischen Zeichnen (1710) (oben).

Die Perspektive bei Ego-Shootern saugt den Spieler ins Geschehen ein. (unten)

Seite 13:
In der Augmented Reality erscheinen Informationen zum sichtbaren Objekt als "erweiterte Realität" auf dem Bildschirm (unten).

Revolutionäres Seh-Erlebnis im Kino: RealD-Brille zur Betrachtung von 3D-Filmen (unten).


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Quelle:
impulse aus der Forschung -
das Autorenmagazin der Universität Bremen Nr. 2/2011, Seite 10-13
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
Pressestelle der Universität Bremen
Postfach 330440, 28334 Bremen
Telefon: 0421/218-60 150, Fax: 0421/218-42 70
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Internet: www.uni-bremen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2012