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INTERNATIONAL/163: Kehrseite des digitalen Fortschritts - Terrorgruppen erobern das Internet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. Mai 2015

Neue Medien: Kehrseite des digitalen Fortschritts - Terrorgruppen erobern das Internet

von Thalif Deen


NEW YORK (IPS) - Sechs von sieben Menschen besitzen mittlerweile ein Mobiltelefon. Mehr als drei Milliarden der 7,1 Milliarden Bewohner der Erde haben Zugang zum Internet. Die Erreichbarkeit so vieler Menschen birgt einerseits ein hohes Entwicklungspotenzial, andererseits entstehen Gefahren, die leicht aus dem Ruder laufen können.

Wie UN-Generalsekretär Ban Ki-moon erst kürzlich auf einem digitalen Forum in Südkorea erklärte, sind die hochentwickelten Technologien vielversprechende Instrumente zur Beschleunigung des Fortschritts. Zugleich nutzten Extremisten die sozialen Netzwerke im Internet zunehmend zur Verbreitung hasserfüllter Propaganda.

Obwohl die 'digitale Kluft' auf der Welt groß sei, nähmen die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien raschen Einfluss auf die künftige Agenda der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung, sagte Ban auf dem 'Seoul Digital Forum' vom 20. bis 21. Mai in der südkoreanischen Hauptstadt.

"Unsere Ernährungsorganisation nutzt Mobiltelefone, um Bauern bei der Festsetzung von Preisen zu helfen. Bei unseren Hilfseinsätzen werden Informationen über Online-Netzwerke verbreitet. Und über Twitter und Facebook erreichen unsere Nachrichten direkt die Weltöffentlichkeit."

Die intensive Nutzung dieser Dienste hat allerdings auch eine Kehrseite. Die globalen Terrornetzwerke haben dank moderner Technologien leichtes Spiel, ihre politischen und religiösen Vorstellungen und Hassbotschaften einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Den Regierungen, die sie verfolgen, sind sie stets einen Schritt voraus.

Die ständige Vertreterin der USA bei den Vereinten Nationen, Samantha Power, hatte im April vor dem UN-Sicherheitsrat erklärt, dass Gruppen wie der Islamische Staat, Al Qaeda, Boko Haram und Al Shabaab die neuesten IT-Werkzeuge für ihre Zielsetzungen nutzten.

"Der IS bedient sich hochwirksamer Methoden, um junge Menschen zu rekrutieren, vor allem in der virtuellen Sphäre", sagte Power. Jeden Tag veröffentliche die Terrormiliz etwa 90.000 Tweets. Mitglieder und Sympathisanten nutzten beliebte Hashtags, um ihre Botschaften möglichst vielen Empfängern zukommen zu lassen. "Doch nicht nur der IS, sondern auch Al Qaeda, Boko Haram, Al-Shabaab und andere Gruppen werben auf aggressive Weise um Kinder und Jugendliche."


Geringer Schutz gegen Cyber-Kriminalität

Nick Ashton-Hart, Exekutivdirektor der unabhängigen Schweizer 'Internet & Digital Ecosystem Alliance' (IDEA), warnte auf dem Forum vor der immensen Herausforderung, als Sieger aus der Konfrontation mit all denjenigen hervorzugehen, die offene und pluralistische Gesellschaften zerstören wollten. Dazu müsse man unter Beweis stellen, dass sichere, pluralistische Gesellschaften eine bessere Zukunft bieten könnten.

"Allerdings versagen wir bei der digitalen Sicherheit", erklärte er. "Man braucht sich dazu nur die internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Bürger vor Verbrechen, Betrug, Identitätsraub - und Terrorismus anschauen." Die USA müssten mehr als 11.000 Rechtshilfeersuchen aus Ländern in aller Welt überprüfen, die sich auf alle möglichen Verbrechen bezögen.

Der Rahmen der internationalen Rechtshilfe sei ungeeignet, um Straftaten in der digitalen Sphäre nachzugehen, erklärte Ashton-Hart, Repräsentant des Technologiesektors bei den Vereinten Nationen, ihren Mitgliedsstaaten und internationalen Organisationen in Genf.

Powers wies darauf hin, dass der IS im vergangenen Jahr offenbar eine Twitter-App entwickelt hat, mit der Nutzer des Dienstes die Kontrolle ihres Newsfeeds den Extremisten übertragen. Der IS kann damit vom Konto eines Users Tweets verschicken und damit die Reichweite der IS-Botschaften vergrößern.


Online-Instruktionen für künftige IS-Kämpfer

Im Februar hatte die Terrorgruppe im Internet 50-seitige Instruktionen für potenzielle neue Mitglieder verbreitet, die in die von ihr kontrollierten Territorien einreisen wollten. Darin wird unter anderem erklärt, wie man sichere Unterkünfte in der Türkei findet, welches Gepäck man mitbringen sollte und wie Fragen von Grenzbeamten zu beantworten seien, ohne dass man Misstrauen errege.

Erst kürzlich hat der IS ein 34 Minuten langes Video veröffentlicht, das vermutlich von seinem Anführer Abu Bakr al-Baghdadi stammt. Muslime werden darin aufgefordert, sich entweder dem Islamischen Staat anzuschließen oder Anschläge in ihren Heimatländern zu verüben. Wie die 'New York Times' berichtete, wurde die Aufnahme in Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch und Türkisch übersetzt. Mit dieser Vorgehensweise wolle die Gruppe offenbar eine maximale Sichtbarkeit erreichen.

Nach UN-Angaben wurden vor zwei Jahren etwa 600 Millionen Menschen Opfer von Kriminellen im Internet. UN-Experten schätzen, dass die globale Wirtschaft durch diese Straftaten jedes Jahr rund 400 Milliarden Dollar verliert.


Zu wenig Geld für UN-Verbrechensprävention

Wie Ashton-Hart erklärt, kann das wichtigste globale Abkommen zur Verbrechensprävention, das UN-Abkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, aufgrund unzureichender Finanzierung nicht vollständig umgesetzt werden.

"Richter in Den Haag haben mir berichtet, dass sie selbst bei einer simplen Recherche zur Sicherung von Belastungsmaterial aus dem Internet, das sie zur Verfolgung schwerer Straftaten benötigen, keine Unterstützung erhalten. Wenn internationale Regelungen der IS-Miliz keinen Einhalt gebieten können, wie sollen wir dann erst den Extremismus an sich besiegen?" (Ende/IPS/ck/28.05.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/05/terror-groups-may-be-winning-digital-war-on-extremist-ideology/

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IPS-Tagesdienst vom 28. Mai 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2015

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