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INTERNATIONAL/178: Aktivisten sehen Pressefreiheit in Türkei zunehmend gefährdet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. Dezember 2015

Menschenrechte: Aktivisten sehen Pressefreiheit in Türkei zunehmend gefährdet

von Lorena Di Carlo


Bild: Von Nérostrateur (Eigenes Werk) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC BY 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)], via Wikimedia Commons

Türkische Tageszeitungen
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MADRID (IPS) - Die Festnahme von zwei bekannten Journalisten und tödliche Schüsse auf einen Rechtsanwalt, der kurz vorher eine Presseerklärung abgegeben hatte, lassen laut Menschenrechtsaktivisten darauf schließen, dass die Freiheit der Medien in der Türkei in Gefahr ist.

Die beiden Reporter hatten berichtet, dass Mitglieder des staatlichen Geheimdienstes islamistischen Kämpfern in Syrien Waffen geliefert hätten. Tahir Elçi, Menschenrechtsaktivist und Vorsitzender der Anwaltsvereinigung von Diyarbakir im kurdischen Südosten der Türkei, geriet Ende November in ein tödliches Kreuzfeuer. Politische Beobachter vermuten, es habe sich um einen gezielten Anschlag gehandelt.

Die Reaktionen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan nähren demnach Befürchtungen, wonach der Staat in massiver Form gegen Medien vorgehe. Die Verfolgungsaktionen haben offenbar bereits im Vorfeld der nationalen Wahlen am 1. November zugenommen. Seit dem Wahlsieg von Erdogans AKP-Partei sollen sich die Arbeitsbedingungen für Journalisten immer weiter verschlechtert haben.


Ankara kann rascher Blockaden von Websites anordnen

Die amtierende Regierung hat Gesetze erlassen, die die Befugnisse des Staates zur Kontrolle unabhängiger Medien ausweiten. Die Regierung kann demnach leichter als bisher Websites sperren lassen, und der nationale Geheimdienst MIT erhält zusätzlichen Spielraum für Überwachungsaktionen. Journalisten stehen derzeit vor nie gekannten rechtlichen Hürden, während die Befugnisse der Gerichte für Korruptionsermittlungen auf die 'nationale Sicherheit' ausgerichtet sind. Um die Reglementierung der Arbeit von Medien zu rechtfertigen, beziehen sich die Behörden auf das Strafgesetzbuch, Gesetze zum Schutz vor Diffamierung und die Anti-Terror-Gesetzgebung.

Nach den Massenprotesten im Sommer 2013 verschärfte die türkische Regierung die Kontrolle über die Medien und das Internet. Nach Korruptionsvorwürfen im Dezember desselben Jahres intensivierte sie zudem die Überwachung des Strafjustizsystems und setzte neue Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte ein, um die bereits durch die Politik beeinflusste Pressefreiheit weiter zu beschneiden.

Im Jahr 2013 wurden mehrere Minister und ihre Verwandten durch Korruptionsvorwürfe belastet, nachdem der Inhalt von Telefonaten über soziale Medien weiterverbreitet worden war. Die Regierung in Ankara ließ daraufhin die Zugänge zu Netzwerken wie Twitter und YouTube mehrere Wochen lang sperren. Zudem wurde ein Gesetz erlassen, das die Kontrolle über das Internet verschärfte. Die Blockade der Websites wurde erst wieder aufgehoben, als das Verfassungsgericht das Vorgehen der Regierung für illegal befunden hatte.


'Cumhuriyet' von 'Reporter ohne Grenzen' ausgezeichnet

'Cumhuriyet' - auf deutsch 'Die Republik' - ist die älteste Tageszeitung des Landes. Seit die AKP an die Macht gelangte, zeichnete sich die Zeitung durch unparteiische und manchmal mutige Berichterstattung aus. In diesem Jahr wurde 'Cumhuriyet' von der Organisation 'Reporter ohne Grenzen' mit dem Preis für Pressefreiheit ausgezeichnet, da sie laut der Begründung dem wachsenden Druck der Regierung Widerstand leistete.

Kurz darauf wurden der Chefredakteur Can Dündar und der Leiter des Büros in Ankara, Erdem Gül, festgenommen. Wegen der Veröffentlichung eines Artikels, dem zufolge der Geheimdienst Konvois mit Waffen für islamistische Extremisten nach Syrien geschickt habe, droht den beiden Journalisten nun lebenslange Haft. Sie verfügen über Bildmaterial, auf dem Lastwagen zu sehen sind, die angeblich Gegnern des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Waffen und Munition bringen.

Trotz ihrer Gegnerschaft zur Assad-Regierung streitet die türkische Regierung ab, syrische Rebellen zu unterstützen und damit zu einer Stärkung der Terrormiliz IS beizutragen. Die durch 'Cumhuriyet' verbreiteten Anschuldigungen sorgten im Land für politischen Aufruhr. Empört erklärte Erdogan, der Chefredakteur der Zeitung werde für seine "Spionage" einen "hohen Preis zahlen."


"Wir sind Journalisten und keine Staatsdiener"

Dündar verteidigte das Vorgehen der Redaktion damit, dass "wir Journalisten und keine Staatsdiener sind. Unsere Pflicht besteht nicht darin, schmutzige Geheimnisse des Staates zu vertuschen, sondern ihn im Namen des Volkes zur Rechenschaft zu ziehen". Laut dem türkischen Innenministerium transportierten die Lastwagen humanitäre Hilfsgüter für turkmenische Gemeinschaften im benachbarten Syrien. 'Cumhuriyet' wurde vorgeworfen, politisch motivierte Diffamierung betrieben zu haben.

Der Generalsekretär von 'Reporter ohne Grenzen', Christophe Deloire, erklärte dazu: "Wenn diese beiden Journalisten ins Gefängnis kommen, wird dies ein weiterer Beweis dafür sein, dass die Behörden der Türkei Methoden eines längst vergangenen Zeitalters anwenden, um die unabhängige Berichterstattung in der Türkei zu unterdrücken". Die Organisation stuft das Land auf der Rangliste der Pressefreiheit 2015 unter 180 Staaten auf Platz 149 ein und warnt vor einer "gefährlichen Zensur".

Der Fall der beiden Journalisten hat die Europäische Union in eine Zwickmühle gebracht. Denn die EU kämpft aufgrund des Zustroms einer großen Zahl von Flüchtlingen aus Syrien mit sozialen Problemen und politischen Streitigkeiten. Ankaras Hilfe bei der Lösung der Krise erscheint als notwendig. Türkische Journalisten drängen Brüssel jedoch, in Sachen Pressefreiheit keine Kompromisse einzugehen.

Der Rechtsanwalt Tahir Elçi hatte über die Medien ein Ende der Gewalt zwischen nationalistischen Kurden und den türkischen Sicherheitskräften gefordert. Sein Tod, den viele politische Beobachter für einen Mord halten, hat die Spannungen in den türkischen Kurdenregionen weiter eskalieren lassen. In mehreren Gemeinden wurden Ausgangsverbote verhängt.

Videoaufnahmen zeigen Elçi, wie er hinter einem Mann mit einer Pistole Schutz sucht, während von beiden Seiten der Straße Gewehrfeuer zu hören ist. Kurz darauf liegt Elçi mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Offiziell heißt es, militante Kurden hätten das Feuer eröffnet, das von Sicherheitskräften erwidert worden sei. Elçis letzte Worte vor dem Angriff waren: "Wir wollen hier keine Waffen, Zusammenstöße oder Militäroperationen haben." Die kurdische Demokratische Volkspartei HDP beschuldigte die regierende AKP, einen gezielten Mordanschlag auf den Anwalt verübt zu haben. (Ende/IPS/ck/28.12.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/12/human-rights-in-turkey-is-turkish-press-freedom-in-danger/

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IPS-Tagesdienst vom 28. Dezember 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2015

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