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PRESSE/134: Wie frei sind die Medien? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

Wie frei sind die Medien?

Von Philipp Männle


Sicherlich, es ist wenig originell, in den Abgesang der medialen Freiheit einzustimmen. Aber es scheint unübersehbar: Zwänge des Marktes bei der ProSiebenSat.1 Media AG oder beim Süddeutschen Verlag, Zwänge der Justiz beim Stern oder der Bunten, Zwänge der (Partei-)Politik beim ZDF oder jüngst beim Bayerischen Rundfunk. Doch gehen diese wirklich in Richtung Freiheitsverlust, in Richtung "Deliberalisierung"?


Wer mit der Formel der Aufklärung vor Augen - Freiheit heißt Abwesenheit von Zwang - auf die Medien blickt, hat gute Gründe, von einem Verlust medialer Freiheit zu sprechen: Ökonomische und juristische, politische und technologische, sogar militärische, religiöse und viele weitere Zwänge allenthalben. Anders, kurz und verkürzt gesagt: Ein zunehmender Freiheitsverlust der Medien - das ist der Fall!

Oder: Das scheint der Fall zu sein; und natürlich ist es die Soziologie, die das "Scheint-zu-sein" im Munde führt. Diese nämlich - sofern sie jenen systemtheoretischen Weg beschreitet, den ihr Niklas Luhmann gebahnt hat - sieht sich durch ein tatsächlich oder vermeintlich wahrgenommenes "Das ist der Fall!" veranlasst, genauer hinzusehen und eine zweite Frage anzuschließen: "Was steckt dahinter?"

Dahinter steckt, so die Systemtheorie, stets ein Beobachter. Erst dieser macht aus einem Sachverhalt einen so und nicht anders gelagerten Fall. Und was für die Medien ein ganz klarer und ganz bedrohlicher Fall ist, das mag für die Rechtsgelehrten ein strittiger, für Politiker oder die Wirtschaftswelt hingegen ein recht günstiger Fall sein. Für die Soziologie ist es jedenfalls ein interessanter Fall - und interessant ist auch, wie sie den Fall "medialer Freiheitsverlust" sieht und welches "Dahinter" sie beobachtet.

Dass die mediale Freiheit ein nicht ganz einfacher Fall ist, belegt allein die Gegenfrage: Was sind eigentlich "die Medien"? Sicherlich, "die Medien", das sind der Focus und der Tagesspiegel, das ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk und das ist irgendwie auch spiegel.online. Aber sind das auch Anne Will oder Kai Dieckmann? Was ist mit dem Nachbarn, der nach Feierabend bloggt? Was ist mit Konzernen wie der Südwestdeutschen Medienholding SWMH oder der dd_vg.? Was ist mit dem Zeitungsleser und dem Radiohörer? Ohne eine Abgrenzung "der Medien" ließe sich endlos weiterfragen.

Die systemtheoretische Soziologie grenzt "die Medien" dreifach ab: als gesellschaftsweite Sphäre, als Komplex medialer Organisationen sowie unter Verweis auf mediale Interaktionen.

Dass die moderne Gesellschaft einen mehr oder minder deutlich abgrenzbaren und zugleich freien, autonomen Bereich - "die Medien" - kennt, kann nicht gut bestritten werden. Gemeint ist damit ein Sinnzusammenhang, wie er auch mit "die Politik" oder "die Wissenschaft" angesprochen ist und systemtheoretisch vermittels abstrakter Begriffe wie Funktion, Code, Medium oder Programm bestimmt wird. "Der Wirtschaft" etwa obliegt die Verteilung knapper Güter (Funktion). Sie spricht die Sprache des Geldes (Medium), arbeitet mit Zahlungen (Code), orientiert sich an Preisen (Programme) und ist in erster Linie der Effizienz (Eigenlogik) verpflichtet.

Für "die Medien" lässt sich Vergleichbares erkennen: Ihre Funktion ist es, die Gesellschaft mit einer Art "Hintergrundrealität" zu versorgen, denn - so Luhmann - "was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien". In ihrer Sprache der Information wählen sie Berichtenswertes in den "Programmbereichen" Nachrichten, Unterhaltung und Werbung aus, und zwar gemäß ihrer eigenen Maßstäbe, zu denen etwa Neues, Skandale oder Dissens zählen. Doch wie steht es um die Freiheit dieses medialen Systems?

Theoretisch sind die Medien, wie jedes andere Funktionssystem, autonom, praktisch sind entsprechende Absicherungen etwa im Grundgesetz verankert. Auf der Organisationsebene hingegen zeigt sich ein anderes Bild, und hier hat auch die Freiheitsfrage ihren Anker.


Heterogene Medienorganisation

Neben politischen Organisationen (Parteien), rechtlichen (Gerichte) oder wirtschaftlichen (Unternehmen) findet sich in der modernen Gesellschaft ein breites und sehr heterogenes Feld medialer Organisationen: vom Zeitungsverlag über die Rundfunkanstalt bis zur Fernsehstation. Diese Organisationen sind es, die dafür Sorge tragen, dass "die Medien" (allein der Plural zeigt das an) ihre Funktion erfüllen. Dort werden Nachrichten "gemacht", dort werden Geschehnisse in mitteilungswürdige Informationen gekleidet, dort wird erarbeitet, was die Gesellschaft über sich selbst weiß und erfährt. Und all das sollte natürlich frei von politischen, wirtschaftlichen oder moralischen Zwängen sein. Diesem "sollte" aber steht der eingangs identifizierte "Fall" gegenüber - und die Frage, was eigentlich dahinter steckt.

Dahinter stecken beobachtbare Veränderungen, und zwar in doppelter Hinsicht. Doch gehen diese tatsächlich in Richtung Freiheitsverlust, in Richtung "Deliberalisierung"?

Einerseits steht die Form der "Medienorganisation" an sich zur Debatte. Führt man sich etwa den technologischen Wandel vor Augen, der es heute gleichsam "jedermann" ermöglicht, an der medialen Funktionserfüllung teilzuhaben, stellt sich die Frage, welche Zukunft mediale (Groß-)Organisationen haben; eine Desorganisation in Teilbereichen des medialen Systems scheint nicht ausgeschlossen. Einhergehend damit sind erste Anzeichen einer Reorganisation zu beobachten, in deren Folge durchaus neue Zwänge - vermittelt beispielsweise über die Kontrolle der jeweiligen Technologien - erwachsen (können). Das Beispiel Apple mag genügen, um auf einen Zusammenhang von medialer Desorganisation, Reorganisation und Deliberalisierung hinzuweisen.

Andererseits geht es um die einzelnen Medienorganisationen selbst. Hier führen drei konkretere Fragen zu einer systemtheoretischen Antwort auf die Freiheitsfrage:

Erstens, wie entscheiden mediale Organisationen etwa über das, was in der Zeitung steht, aber auch darüber, wie, wo und nach welchen Spielregeln sie arbeiten?

Sie entscheiden weitgehend frei: Weder diktieren Eigentümer, wie etwa Medienholdings, die Inhalte von Leitartikeln, noch werden der innere Aufbau und die Arbeitsabläufe von außen aufgezwungen. Inhaltlich wie organisatorisch ist Autonomie der Fall, die sich in selbstgegebenen Strukturen äußert: Redaktionsstatute zum Beispiel, eigene Hierarchien, aber auch die jeweilige Organisationskultur, die sowohl die inhaltliche Ausrichtung als auch die tägliche Arbeit prägt. Autonomie heißt aber nicht Autarkie, und so sind es auf inhaltlicher Ebene "Themen", die die Verbindung zum gesellschaftlichen Umfeld herstellen, auf struktureller Ebene sind es "Leitideen" und Vorbilder, an denen sich Organisationen ausrichten - vormals an der Bürokratie, heute an Unternehmen. Inhaltlich wie strukturell jedoch fehlt mehr und mehr die Orientierung, fehlen klare Antworten auf die Frage: "Wie arbeitet eine Medienorganisation?"

Wann etwa werden welche Themen aufgegriffen und wie verarbeitet? Hier stiften unterschiedliche Zeithorizonte (Print, Funk, Internet), die skizzierten externen Irritationen (Politik, Justiz, Moral, Religion etc.), aber auch neue Technologien Verwirrung - die Unsicherheiten der Zeitungen im Umgang mit dem iPad belegen dies eindrucksvoll.

Ein ähnliches Bild vermitteln die zahllosen Restrukturierungen aus wirtschaftlichen Gründen, infolge von Cross-media-Initiativen (beispielsweise Umorganisation von Redaktionen mit Blick auf den Online-Bereich) oder durch Eigentümerwechsel (beispielsweise die RedaktionsGmbH bei DuMont). All dies lässt sich jedoch schwerlich als Freiheitsverlust verbuchen. Nicht "Deliberalisierung", sondern "Desorientierung" ist der Fall.

Zweitens, wie steht es um die Freiheit auf der Ebene der Mitglieder? Wie alle Organisationen gründen auch Medienorganisationen auf der Rekrutierung von Mitgliedern. Zudem kennen auch sie "typische" Mitglieder; die Soziologie verbucht das unter dem Stichwort "Profession" - gekennzeichnet durch eine spezifische Ausbildung, ein eigenes Prestige oder eigene Kriterien "guter Arbeit". Bei solcherart Mitgliedern liegt die funktionale Verantwortung: Während es Personalchefs oder Sekretärinnen in jeder Organisation gibt, verantworten Lehrer die schulische, Richter die gerichtliche und Journalisten die mediale Funktionserfüllung.

In dieser Dimension ist - euphemistisch formuliert - eher von Liberalisierung auszugehen: Verselbstständigte Personalgesellschaften, die Preisgabe tariflicher Bindungen oder hybridere Arbeitsverhältnisse deuten auf die Abnahme von Bindung und Zwang hin. Die Bewertung dessen ist selbstredend beobachterabhängig: Was der Ökonom gutheißt, wird von Gewerkschaften kritisiert. Und wie die Betroffenen darüber denken, ist regelmäßig in der Zeitung nachzulesen.

Entscheidend ist allerdings etwas anderes: Personalreduktionen treffen auch und gerade die Redaktionsmitglieder (das krasseste Beispiel hat jüngst der Jahreszeitenverlag geliefert), auf investigative Recherchen wird immer öfter verzichtet (um stattdessen Agenturmeldungen zu verarbeiten), ganz zu schweigen von den bereits angezeigten Teilhabemöglichkeiten für "jedermann". Auch dies lässt sich allerdings kaum als Freiheitsverlust beschreiben. Hier ist weniger "Deliberalisierung", als vielmehr "Deprofessionalisierung" der Fall.

Drittens, welcher Logik folgen mediale Organisationen? Hinter dieser Frage steckt die theoretische Annahme, dass alle Organisationen mehr oder minder stark auf eine Funktionslogik fokussiert sind: Banken auf die Wirtschaft, Parteien auf die Politik, Universitäten auf die Wissenschaft - und mediale Organisationen eben auf das oben skizzierte mediale System.

Demgegenüber weist allerdings Peter Richter auf die gesellschaftsweite "Bedeutungszunahme ökonomischer Rationalität in vormals außerwirtschaftlichen Bereichen" hin. Diese "Ökonomisierung" betrifft Gesundheits- (Fallpauschalen), Wissenschafts- (Drittmittel), Verwaltungs- (New Public Management) und insbesondere Medienorganisationen. Diese sind zwar durchweg auch Unternehmen (abgesehen vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk), und außerdem geht auch die Theorie von "Multireferenz" aus, nach der alle Organisationen neben ihrer Primärorientierung auch die Sprache des Geldes (Löhne, Mieten) oder des Rechts (Arbeits-, Gesellschaftsrecht) sprechen müssen. Entscheidend ist jedoch, wo der Primat liegt: Orientiert sich eine Medienorganisation bei dem, was sie tut, am Geld oder an Informationen? Berichtet sie über das, was nach medialer Logik als berichtenswert gilt, oder berichtet sie über das, was Zahlungen einbringt?

Der Trend deutet auf Letzteres hin. Aber auch dies muss nicht mit Freiheitsverlust gleichgesetzt werden. Nicht "Deliberalisierung", sondern "Ökonomisierung" und also "Demedialisierung" ist der Fall. Und paradoxerweise geht dieser Bedeutungsverlust der medialen Rationalität mit der Medialisierung etlicher anderer Organisationen einher (z.B. Parteien, Verbände oder, wie auf dem letzten Anwaltstag diskutiert, Justizorganisationen).

Desorientierung, Deprofessionalisierung und Demedialisierung - das ist der Fall. Und wer sich die Diagnosen und Klagelieder über Zustand und Zukunft "der Medien" genauer ansieht, kann hier ihre Fluchtpunkte erkennen. Aber er wird zugleich erkennen, dass auch die aktuellen Therapievorschläge hier ansetzen: z.B. die Ausweitung und Verbesserung der lokalen Berichterstattung bei Tageszeitungen, die Rückbesinnung auf "guten Journalismus" oder die Steigerung der redaktionellen Qualität. Orientierung, Professionalisierung und, wenn man so möchte, Re-Medialisierung also - bei Weitem nicht die schlechtesten Ratschläge, die man den Medien mit auf den Weg geben kann.


Philipp Männle (* 1980) studierte Verwaltungswissenschaften und Philosophie. Er ist Trainee bei der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft (dd_vg.) und in diesem Rahmen derzeit tätig bei der Frankfurter Rundschau. Zudem ist er Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 44-48
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2010