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DOKUMENTATION/1754: ZDFzeit "Deutschlands große Clans: Die 4711-Story", am 16.06.2020 (ZDF)


Deutschlands große Clans: Die 4711-Story
ZDFzeit-Doku-Reihe über große deutsche Familienunternehmen
Dienstag, 16. Juni 2020, 20.15 Uhr

Inhalt:
– Erfolgsmodell auf dem Prüfstand – Familienunternehmen
– Die 4711-Story: Stab und Besetzung (Neuer Sendetermin)
– Die 4711-Story: Inhalt
– Die 4711 Story: Zitate
– Interview mit Prof. Dr. Peter May, Experte für Familienunternehmen


Erfolgsmodell auf dem Prüfstand – Familienunternehmen
Von Stefan Brauburger, Leiter der Redaktion Zeitgeschichte

Familienunternehmen gelten als Rückgrat, Stabilitätsanker und Jobmotor in Deutschland. Wie in kaum einem anderen Staat stellen sie das Grundmuster unseres Wirtschaftsgefüges dar. Die Mehrheit der Arbeitnehmer hierzulande ist in den Hunderttausenden kleineren und mittleren Betrieben, aber auch in den zahlreichen großen Konzernen beschäftigt. Etwa zwei Billionen Euro Umsatz erwirtschafteten alleine die 1.000 größten der von Familien geführten oder gelenkten Unternehmen im Jahr 2018. Einige davon existieren schon seit mehr als anderthalb Jahrhunderten.

Die ZDF-Redaktion Zeitgeschichte widmet sich auch in ihrer neuen Staffel über "Deutschlands große Clans" besonders herausragenden und bekannten Namen. Nachdem es unseren Autoren schon gelungen ist, hinter die Kulissen von Henkel, Aldi, Bahlsen, Lidl, C&A, Tchibo, Haribo und Volkswagen zu blicken, stehen nun die Marken JOOP!, Deichmann und 4711 im Fokus der Filme.

Einmal mehr geht es darum, Gründergestalten, Entstehungsmythen, Höhen und Tiefen sowie Konflikte in den jeweiligen Unternehmenshistorien vor Augen zu führen. Es geht aber auch um die Vielfalt der Erfahrungen in einem der stärksten Wachstumsräume weltweit, die sich wie Puzzleteile zu einem Bild unserer Wirtschaftsgeschichte zusammenfügen. Dabei zeigen sich die Stärken, aber auch die Schwächen des "Familienmodells", das zum einen für besondere Nachhaltigkeit und Kontinuität stehen mag, aber auch anfällig ist für menschliche Zerwürfnisse unter führenden Clan-Mitgliedern.

Die Wahl fiel 2020 auf drei sehr unterschiedliche Clan-Storys: Mit JOOP! widmen wir uns einer Marke, die gleich in mehrfacher Hinsicht von sich reden macht: Durch die dezidierte Personalisierung des Labels wurde der Modeschöpfer selbst zur Stilikone. Seine Tochter Jette trat in seine Fußstapfen, baute aber ihre eigene Marke auf. Spannungen zwischen Vater und Tochter belasten immer wieder die Familie. Zudem ist die Biografie des Designers auch eine erstaunliche deutsch-deutsche Geschichte.

Mit Deichmann steht ein Konzern im Vordergrund, der von Beginn an mit einem hohen ethischen Anspruch geführt wurde, der den christlichen Grundsätzen der Inhaberfamilie stets treu bleiben sollte. An diesen Maßstäben muss Europas größter Schuhvermarkter sich messen lassen und erlebt in Zeiten schwieriger politischer und wirtschaftlicher Herausforderungen immer wieder Anfechtungen.

Die Zahlen "4711" stehen nicht nur für eine wandlungsfähige Duftmarke mit einer Geschichte von über 200 Jahren, sondern auch für eine ansehnliche Schar prominenter Nutzer. Ob der russische Zar und der König von Schweden oder Goethe und Wagner – sie wussten angeblich die Möglichkeiten der inneren und äußeren Anwendung zu schätzen. In der Wirtschaftswunder-Ära wurde 4711 zu einem Inbegriff von "Made in Germany". Zwei Cousins der Familie Mülhens, die sich nicht riechen konnten, führten das Familienunternehmen jedoch fast in den Ruin, machten es zum Übernahmekandidaten für Groß-Konzerne.

Nachdrückliche Recherchen und intensive Gespräche der Autoren mit wichtigen Protagonisten bieten ein breites Fundament für die Dokumentationen. Wolfgang Joop konnte für ein ausführliches Interview gewonnen werden, auch sein Ehemann Edwin Lemberg und seine Ex-Ehefrau Karin Joop-Metz. Heinrich Deichmann und langjährige Weggefährten seines Vaters, des früheren Clan-Chefs Heinz-Horst Deichmann, schlagen bislang kaum bekannte Kapitel der Firmengeschichte auf und kommentieren noch unveröffentlichte Filmaufnahmen und Dokumente aus dem Familien-Archiv.

Auch die Autoren der "4711-Story" haben erstmals Zugang zu Familiendokumenten erhalten. Sie enthüllen die wahren Gründe für das Zerwürfnis, das zur Spaltung der Familie und schließlich zum Verkauf der Firma führte. Einige Beteiligte geben in dem Film erstmals ein Interview. So zeigt auch die vierte Staffel von "Deutschlands große Clans", wie sehr der Erfolg der Familienunternehmen auch von den Beziehungen der "Clan"-Mitglieder untereinander abhängt.

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Dienstag,16. Juni 2020, 20.15 Uhr
Deutschlands große Clans – Die 4711-Story
ZDFzeit-Dokumentation

Buch/Regie (Dokumentation): Heike Nelsen
Buch (Szene): Heike Nelsen, Claudius Hagemeister
Regie (Szene): Matthias Zirzow
Kamera (Dokumentation): Till Vielrose
Kamera (Szene): Benedict Sicheneder
Schnitt: Robert Handrick
Grafik: Zornshot, Björn Otto
Herstellungsleitung: Sascha Lienert
Produktionsleitung: Jonatan Geller-Hartung (Februar Film), Carola Ulrich, Philipp Müller (ZDF)
Producer: Stephen Maier, Anna Wening, Katharina Schulz
Produzent: Florian Hartung
Redaktion: Annette Koehler
Leitung: Stefan Brauburger


Die Rollen und ihre Darsteller

Wilhelm Mülhens – Jonas Lauenstein
Catharina Mülhens – Ella Zirzow
Gereon Farina (Mönch) Tom Keune
Verkäuferin Clara – Monika Oschek
Reisende – Greta Galisch de Palma
Peter Paul Mülhens – Pascal Lalo
Parfumeur – Christian Intorp
Luise Streve-Mülhens – Birgit Stauber
Chauffeur – Ben Posener
Dieter Streve-Mülhens – Finnlay Berger
Rudi Mehl – Mike Maas


Inhalt

"4711 bedeutet eine magische Zahl, die mich von meiner frühesten Kindheit an bis heute begleitet", sagt Firmenerbe Dieter Streve-Mülhens. 1997 muss er den Verkauf seines Familienunternehmens bekanntgeben: "Das war die schwerste Stunde meines Lebens". Die Marke ist wie kaum eine andere von Legenden umrankt, von der bis heute geheim gehaltenen Ur-Rezeptur – angeblich das Hochzeitsgeschenk eines Kartäusermönches an den Gründer – über den französischen Offizier, der die bekannten Ziffern an das Haus in der Glockengasse schreibt, bis zu den Heilkräften, die dem sogenannten Wunderwasser zugeschrieben werden. Die Dokumentation "Die 4711-Story" wirft einen Blick hinter diesen Schleier, an dem die Familie Mülhens selbst im Laufe der mehr als 200 Jahre währenden Markengeschichte tatkräftig gewoben hat.

Der Film von Heike Nelsen enttarnt den Gründer, Wilhelm Mülhens, als regelrechten "Produktpiraten" und gewieften Geschäftsmann. "Sie finden das ganz oft bei Unternehmern, die so eine gewisse Schlitzohrigkeit haben, die rumgehen und gucken und sagen 'Was gibt's denn da, was man auch machen, was man nachmachen könnte?'", konstatiert Unternehmensberater Peter May mit Blick auf das Geschäftsgebaren.

Vieles spricht dafür, dass Wilhelm Mülhens aus der Nähe Bonns sich den ursprünglichen Namen seines Duftwassers "Farina" Ende des 18. Jahrhunderts ergaunert hat. Bereits seit 1709 stellen zwei Parfumeure namens Farina in Köln ein edles "Wunderwasser" her, das sie "Eau de Cologne" taufen. Später behaupten die Mülhens, ein Mitglied der Familie Farina, ein Kartäusermönch, habe ihnen den Namen zur Nutzung überlassen. Das bestreitet sein Nachfahre Johann Maria Farina, der heute die Geschäfte der "ältesten Parfumfabrik der Welt" führt – und das in achter Generation.

In Wilhelm Mülhens findet das teure Produkt, das zunächst vor allem als Heilwasser getrunken wurde, einen findigen Nachahmer. Gesichert ist, dass er 1803 die Namensrechte von einem gewissen Franz Carl Farina kauft, der mit den Parfumeuren aus Köln nur eines gemeinsam hat – den Namen! Und mehr noch: Er verscherbelt ihn an mindestens 30 weitere Produktpiraten.

Das "Wunderwasser" erweist sich als wahrer Kassenschlager. Die echten Farinas wehren sich gegen die Produktpiraterie der Mülhens' und führen über 1.000 Plagiatsprozesse. Diese Prozessflut führt zur Entstehung des deutschen Markenschutzgesetzes.1875 kann Johann Maria Farina seinen Familiennamen als erste Marke in Deutschland eintragen lassen, doch hat er nicht mit der Findigkeit seines Konkurrenten Mülhens gerechnet: Der nennt nun sein Plagiat "4711" – nach der Hausnummer des Firmensitzes in der Glockengasse in Köln – und lässt den Namen ebenfalls schützen. Ein geschickter Marketingschachzug, denn so unterscheidet er sich von all den anderen Herstellern von "Kölnisch Wasser".

Das Mülhens-Imperium expandiert bis nach New York und Riga. Lange spielt 4711 in der ersten Liga der Duftwasserproduzenten mit. Ob der russische Zar und der König von Schweden oder Goethe und Wagner – sie alle wussten angeblich die Möglichkeiten der inneren und äußeren Anwendung von 4711 zu schätzen. Im Jahr 1921 liefert die Firma sich sogar ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Coco Chanel um das erste Parfum auf Basis der neu entdeckten Aldehyde. Das französische "Chanel No. 5" und sein Kölner Konkurrenzprodukt Tosca kommen schließlich gleichzeitig auf den Markt.

In der Zeit des Nationalsozialismus stehen die Unternehmer dem Regime näher als bisher bekannt war. Auch in der Nachkriegszeit sucht und findet Familie Mülhens den Kontakt zu den Mächtigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Hotel auf dem Petersberg, das dem 4711-Clan gehört und zum Gästehaus der Bundesregierung avanciert. Es liegt im Siebengebirge, dem ältesten Naturschutzgebiet Deutschlands, das einst auf Initiative von Ferdinand Mülhens als solches ausgewiesen wurde. Das in den Gästezimmern bereitgestellte Parfumfläschchen nimmt so mancher Staatsgast mit nach Hause und trägt damit das "Kölnisch Wasser" in die Welt: Der Schah von Persien soll ein besonderer Liebhaber des Dufts gewesen sein.

Seit den 50er-Jahren darf 4711 in keiner Damenhandtasche fehlen, so das Klischee. Es ist der Duft der Wirtschaftswunderjahre. Die Neubauten der Firma am Dom und in Ehrenfeld prägen die Kölner Nachkriegsarchitektur. Doch hinter den prachtvollen Kulissen spielen sich Familiendramen ab. Zum ersten Mal hat die Filmemacherin Zugang zu Dokumenten erhalten, die den wahren Grund für das Zerwürfnis enthüllen, das zur Spaltung des Clans und schließlich zum Verkauf der Firma führte. Die Fronten verlaufen dabei nicht nur zwischen den beiden Familienzweigen Mülhens und Streve-Mülhens, sondern es gibt noch einen dritten, bisher völlig unbekannten Familienzweig, dessen Mitglieder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Köln "verstoßen" wurden und die in dieser Dokumentation zum ersten Mal zu Wort kommen. Heute ist 4711 wieder im Besitz einer rheinischen Unternehmerfamilie, so dass auch die regionale Markengeschichte fortgeschrieben werden kann. Alle fünf Sekunden geht irgendwo auf der Welt eine Flasche "4711" über die Ladentheke. Als Originalduft, aber auch in neuen Remixes auf Basis des alten Geheimrezepts.

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Die 4711 Story: Zitate

Peter May, Unternehmensberater, über den Familienzwist der Cousins:
"Ferdinand Mülhens und Dieter Streve-Mülhens haben das Unternehmen deshalb ruiniert, weil sie vor lauter Konzentration auf den Kampf gegeneinander den viel wichtigeren Kampf, nämlich den Kampf gegen den Wettbewerb da draußen oder den Kampf um die Gunst des Kunden, völlig vergessen haben. Wenn der Streit anfängt, geht die Energie von außen, wo sie hingehört, nach innen, wo sie destruktiv wirkt."

Jasmin Kessler, Influencerin, über ihre Kindheitserinnerung:
"4711 war wirklich das erste, was ich als Kind gesehen habe, wenn ich ins Badezimmer meiner Oma gegangen bin. Deshalb verbinde ich damit auch ein Stück Kindheitserinnerung."

Jürgen Becker, Kabarettist und ehemals Auszubildender bei 4711, über den Stellenwert der Marke in Köln:
"Wenn man in München mit dem Zug ankommt, steht da groß "München, Weltstadt mit Herz". Wenn man in Hamburg ankommt, steht da groß "Hamburg, das Tor zur Welt". Und wenn man in Köln im Zug ankommt, ist es die Zahl 4711."

Ines Imdahl, Werbepsychologin, über die Bedeutung von 4711 auf Reisen:
"Wenn die Menschen früher auf Reisen gegangen sind, haben sie sehr oft 4711 mitgenommen. '4711 ist immer dabei', das hat diesen Menschen Stabilität gegeben. Sie sind in neue Länder gereist, haben etwas Unerwartetes erlebt und konnten sich dann mit 4711 nicht nur erfrischen, sondern sich auch Halt geben. Es hatte immer auch eine Schutzfunktion."

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"Friede ernährt, Unfriede verzehrt"
Interview mit Prof. Dr. Peter May, Experte für Familienunternehmen

Herr May, welche Qualitäten sollte ein Unternehmer idealerweise haben?

Zur besonderen Qualität, die erfolgreiche Unternehmer auszeichnet, gehört in allererster Linie das, was man gemeinhin Unternehmergeist nennt. Das heißt, die Bereitschaft voranzugehen und Risiken einzugehen, die vielleicht nicht jeder auf sich nehmen würde. Auch Durchsetzungsfähigkeit gehört dazu: Unternehmer wollen besser sein als ihre Wettbewerber, sie übertrumpfen. Sie suchen die Herausforderung, gehen nie den Weg des geringsten Widerstandes. Und im Fall von Familienunternehmen muss natürlich auch die Fähigkeit hinzukommen, das Unternehmen erfolgreich an die nächste Generation zu übergeben.

Zunächst eine grundlegende Frage: Wie entsteht überhaupt ein so großes Familienunternehmen wie diejenigen, die wir in "Deutschlands große Clans" sehen?

Jedes Unternehmen beginnt mit einer Geschäftsidee. Und jedes große Unternehmen hat einmal klein angefangen, meist indem eine Familie ein kleines Geschäft gründet, oft Mann und Frau beziehungsweise Vater und Mutter gemeinsam. Gerade in der Anfangsphase braucht es eine gewisse Selbstausbeutung der ganzen Familie. Ist die Geschäftsidee gut, muss sich die Logik des Kleinunternehmens dann irgendwann wandeln. Etwa indem nach einigen Jahren ein Familienmitglied sagt: Das, was hier einmal funktioniert, können wir auch 10 Mal, 100 Mal, 1000 Mal machen. Große Unternehmensgeschichten beginnen oft damit, dass eine gute Idee multipliziert wird und ein Produkt in standardisierter Form hergestellt werden kann.

Warum bleiben die einen Familienunternehmen, und die anderen gehen an die Börse?

Das ist eine Glaubensfrage, eine Entscheidung darüber, wie man ein Unternehmen führen und was man erreichen möchte. Geht man an den Kapitalmarkt, unterwirft man sich auch dessen Gesetzen – und die lauten: Du musst in kurzer Frist den Wert deines Unternehmens sichtbar steigern, und du musst möglichst hohe Dividenden auszahlen. Diese Logik ist eine kurzfristige. Keine, die für Menschen gemacht ist, sondern für Aktionäre. Und die führt unweigerlich zum angelsächsischen Shareholder-Kapitalismus. Wenn ich als Unternehmer aber langfristig denke und nicht nur die Aktionäre, sondern auch die Interessen meiner Mitarbeiter oder meiner Heimatregion beachten möchte, dann braucht es die Form des Familienunternehmens. Das sind keine schlechteren Unternehmen: Im Idealfall ist ein gut geführtes Familienunternehmen eines, das kapitalmarktfähig ist. Das heißt, dass es so gut ist, dass es jederzeit an den Kapitalmarkt gehen könnte – gleichzeitig aber vom Kapitalmarkt unabhängig bleibt.

Heißt das, die langfristige Perspektive ist einer der größten Vorteile eines Familienunternehmens gegenüber einer nicht-familiär geführten Firma?

Ja, die Freiheit, langfristig zu denken, ist die große Stärke von Familienunternehmen. Eine Familie kann entscheiden, sich nicht den kurzfristigen, in Quartalszyklen denkenden Gesetzen des Kapitalmarktes zu unterwerfen, sondern die eigene unternehmerische Idee völlig frei von Einflüssen anderer zu realisieren. Diese Langfristigkeit ist für alle Beteiligten vorteilhaft: für das Unternehmen, für die Mitarbeiter und für die Kunden.

Wenn Sie vom angelsächsischen Kapitalismus sprechen: Gibt es auch eine typisch deutsche Ökonomie, vielleicht gerade auch in Bezug auf Familienunternehmen?

Ich nenne das den Familienkapitalismus. Denn in der Tat haben wir in Deutschland mit dem Familienunternehmen eine besondere Form des Kapitalismus geschaffen. Dieser ist erstens ökonomisch erfolgreich – ohne Erfolg könnte das Unternehmen nicht überleben –, und zweitens ist er sozial verantwortlich. In Familienunternehmen spielt viel mehr der Gedanke eine Rolle: Wir machen das nicht nur für den wirtschaftlichen Erfolg unserer eigenen Familie, sondern auch, um den Mitarbeitern ein gutes Leben zu ermöglichen, der sogenannten Betriebsfamilie. Das ist Teil der Unternehmerverantwortung, so wie sie im Grundgesetz steht: Eigentum berechtigt, es verpflichtet aber auch zum Wohle der Allgemeinheit. Zu guter Letzt haben Familienunternehmen sehr oft auch eine große Bedeutung für ihre Region. Wenn Sie in die Provinz kommen und sehen, dass ein kleiner Ort in Wohlstand lebt, es den Menschen dort gut geht, hängt das oft mit einem dort ansässigen Familienunternehmen zusammen. Denn auch der Unternehmer möchte dort, wo er lebt, gut leben. Deshalb sponsert er den örtlichen Fußballverein oder baut ein Museum. Und das ist keine Einbahnstraße, sondern beruht auf Gegenseitigkeit: Der Unternehmer gibt den Mitarbeitern soziale Sicherheit, die Mitarbeiter wiederum geben dem Unternehmer eine bessere Leistung durch eine höhere Identifikation. So entsteht eine echte Win-Win-Situation, die Verbindung von Eigennutz und Gemeinnutz in ihrer vorbildlichsten Form. Aber wir müssen sehr genau aufpassen, dass dieser Familienkapitalismus im globalen Wettbewerb gegenüber dem angelsächsischen Shareholder-Kapitalismus nicht ins Hintertreffen gerät.

Wie sieht heute Unternehmensführung in Familienunternehmen aus?

Das Führungsverständnis hat sich gewandelt, auch in Familienunternehmen. Im postbürgerlichen Zeitalter folgen die Menschen nicht mehr stur einer Autorität, sondern sie suchen nach Sinn und Einbeziehung. Deshalb ist der Teamleader der neue Führungstyp, der in der Wirtschaft erfolgreich ist. Also derjenige, der zwar immer noch führt, dies aber unter Einbeziehung der anderen tut. Die Zeit der Patriarchen ist vorbei.

Sie haben vorhin die Nachfolgeregelung angesprochen. Diese führt beiFamilienunternehmen immer wieder zu Konflikten. Können Sie dies näher erläutern?

Neben den Konflikten, die entstehen, wenn ein Unternehmer zu lange an seiner Chefrolle festhält, sind es vor allem die Verteilungskonflikte, die zu Stress führen. Denn in jedem größeren Familienunternehmen gilt es bei der Nachfolge eine Grundsatzentscheidung zu treffen: Verteile ich das Erbe gleichmäßig zwischen meinen Kindern oder bevorzuge ich eines von ihnen?

Hat sich die Nachfolgeregelung im Lauf der Zeit geändert?

Früher war es fast immer der älteste Sohn, dem man alles oder zumindest mehr gegeben hat und der für die Führung in Frage kam. Es gab das sogenannte Thronfolgerprinzip. Heute hingegen ist Gleichverteilung üblich. Zudem müssen wir uns die Emanzipationsgeschichte vergegenwärtigen. Vor rund 100 Jahren war es noch weitgehend unüblich, dass Frauen in Familienunternehmen Gesellschaftsanteile erwerben durften, und wenn, dann bekamen sie in jedem Fall weniger Anteile als die Söhne. Selbst Väter, die keine Söhne hatten, dachten bei der Nachfolge weniger an die Töchter als daran, dass sie einen für die Unternehmensführung geeigneten Schwiegersohn beibrachten. Heute dagegen ist es völlig normal, dass die Töchter zum einen die gleichen Anteile erwerben dürfen, und zum anderen genauso für die Unternehmensführung in Frage kommen wie die Söhne. Aber wir müssen bestimmte Verhaltensweisen immer in dem zeitlichen und kulturellen Kontext sehen, in dem sie stattgefunden haben.

Welchen Anteil hatten Frauen in früheren Zeiten am Erfolg von Familienunternehmen?

Tatsächlich hatten Frauen schon immer einen maßgeblichen Anteil am Unternehmenserfolg. "Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau", lautet ein oft zitiertes Bonmot. Aber es war eben lange Zeit so, dass die Frauen eher im Hintergrund agierten und ihren Mann unterstützten. Wobei es nicht selten vorkam, dass die Stützende sogar stärker war als derjenige, der gestützt wurde. Das merkte man etwa dann, wenn der Mann unerwartet verstarb und die Frau die Führung des Unternehmens übernahm. Und das oft nicht schlechter gemacht hat als der ohnehin schon erfolgreiche Mann. Früher übernahm die Frau das Geschäft allerdings in der Regel nur solange, bis die Söhne sie ablösten – wie es auch bei Maria Mülhens und 4711 der Fall war oder bei Gertrud Riegel, die 1945 die Leitung von HARIBO übernahm, als ihr Mann früh verstarb und die Söhne Hans und Paul noch im Krieg waren. Heute sind Frauen, die nach dem Tod auch langfristig erfolgreich unternehmerische Verantwortung übernehmen, längst keine "Platzhalter" mehr. Erfolgreiche Unternehmerinnen wie Maria-Elisabeth Schaeffler, Alexandra Schörghuber oder Waltraud Lenhart von LEKI beweisen das.

Welcher Druck besteht in Familienunternehmen auf die Nachfolgegeneration, das Ruder zu übernehmen?

Heutzutage werden Kinder und Unternehmenserben in der Regel zu nichts mehr gedrängt. Früher aber war das anders. Da war Nachfolge für Unternehmerkinder in der Regel ein Muss. Mit fatalen Folgen: Das Ergebnis war oft ein Scheitern – entweder als Unternehmer, weil man nicht gut genug war, oder als Mensch, weil man etwas ganz anderes wollte und ein Leben lang unglücklich blieb. Fälle wie der von Arndt von Bohlen und Halbach, der der Tradition folgend Nachfolger und Alleinerbe von Krupp werden sollte und schließlich zum Erbverzicht gedrängt wurde, sind dann medienwirksame Beispiele dafür, was passiert, wenn Kinder von Geburt an in Rollen gepresst werden, die sie nicht ausfüllen können oder wollen. Ein anderes Beispiel ist Rolf Gerling, der den von seinem Vater übernommenen Versicherungskonzern schlussendlich verkaufen musste, weil er für die Unternehmerrolle ungeeignet war. Es ist eben beileibe nicht selbstverständlich, dass sich die Genialität des Unternehmers auf die nächste Generation vererbt. Wie sagt man so schön: "Unter einer großen Eiche wachsen nur Pilze". Und es ist ein Glücksfall, wenn – wie im Falle Deichmann – neben einer großen Eiche eine neue große Eiche gedeihen kann.

Wie sind Konflikte um die Nachfolge in Unternehmerfamilien einzuordnen?

Es gibt einen ganz wichtigen Satz für Familienunternehmen, die langfristig bestehen wollen. Dieser Satz findet sich im Büro des Miele-Gründers Carl Miele und lautet: "Friede ernährt, Unfriede verzehrt". Streit gilt als einer der größten Werte-Vernichter im Familienunternehmen; er vernichtet ökonomisches und menschliches Kapital gleichermaßen. Wer genug Demut und Disziplin aufbringt, um auch in Konfliktsituationen wieder zueinander zu finden, hat eine gemeinsame Zukunft. Für die anderen bleibt – wie auch das Beispiel 4711 und Mülhens so traurig belegt – am Ende oft nur der Verkauf. Und damit das Ende des Familienunternehmens.

Information zum Interview:
Birgit Tanner ("Die Deichmann-Story") und Heike Nelsen ("Die 4711-Story") haben Prof. Dr. Peter May als Experten für ihre Filme interviewt. Daraus hat Philipp Graf das schriftliche Interview zusammengestellt und mit Prof. May abgestimmt.
 

– Änderungen und Ergänzungen vorbehalten –
 

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Quelle:
ZDF – Zweites Deutsches Fernsehen
Presse Special – Juni 2020
Copyrights by ZDF
Internet: www.zdf.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2020

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