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REZENSION/007: Nelson Mandela - Eine Legende wird 90 (SB)


"Nelson Mandela - Eine Legende wird 90"


Ein Film von Richard Klug, ARD-Studio Johannesburg (PHOENIX, 2008)

Erstausstrahlung am Donnerstag, 17. Juli 2008, 21.00 Uhr


Zu seinem 90. Geburtstag am 18. Juli 2008 wäre Nelson Mandela zu wünschen, von der ihm auferlegten Rolle, eine "lebende Legende" sowie ein "Vorbild für Afrika und die ganze Welt" (PHOENIX) zu sein, befreit zu werden, damit er seinen Lebensabend ohne öffentliche Auftritte und Zurschaustellungen genießen kann. Dies scheint ihm jedoch nicht vergönnt zu sein, wird er doch einer Pop-Ikone gleich von Schauplatz zu Schauplatz gereicht, so als würden die Nutznießer der Legende Nelson Mandela bestrebt sein, die maximale propagandistische Wirkung mit dem ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas zu erwirtschaften. Der Film "Nelson Mandela - Eine Legende wird 90", der am Tag vor Mandelas 90. Geburtstag auf PHOENIX ausgestrahlt wird, kann durchaus als repräsentativ bewertet werden für das mediale Verwertungsinteresse eines bestimmten Personenkreises an einem Menschen, der wegen seiner politischen Überzeugungen und in Folge des von ihm und vielen anderen geführten bewaffneten Kampfes gegen das Apartheidregime Südafrikas 27 Jahre seines Lebens in der Gewalt seiner Gegner verbringen mußte.

Der Film, der den Anspruch erhebt, ein Porträt der "lebenden Legende" Nelson Mandela zu sein, skizziert dessen Lebensweg auf der Basis eines pro-westlichen Standpunktes, der die Zuschauer dazu verleiten könnte anzunehmen, der Mythos Mandela sowie die mit ihm untrennbar verknüpfte Behauptung, die heutige Republik Südafrika sei eine liebenswerte Regenbogennation, die ihre koloniale Vergangenheit sowie das schwere Erbe der Apartheid längst hinter sich gelassen habe, wären so etwas wie zweifelsfrei erwiesene historische Wahrheiten. Dabei hätte der 90. Geburtstag Mandelas als Anlaß genutzt werden können, um - und sei es mit den Mitteln eines Fernsehfilms - behutsam und würdevoll den Menschen Nelson Mandela in seinem tiefen Dilemma zu würdigen sowie das vorherrschende Geschichtsbild Südafrikas in Hinsicht auf die aktuelle Krise sowie die bislang vollkommen ungelösten Probleme zu hinterfragen.

Richard Klug hingegen reproduzierte mit seinem Film das ohnehin sattsam bekannte Mandela-Klischee und die damit verknüpfte Deutung, in Südafrika sei durch sein Einwirken ein Bürgerkrieg verhindert sowie ein versöhnlicher Übergang von der Apartheid zur Demokratie geschaffen worden. Dabei versteht es sich eigentlich von selbst, daß die weiße Elite Südafrikas, gewohnt, ihre absolute Herrschaft und Vormachtstellung durch das Apartheid-System gestützt zu sehen, nicht freiwillig zugunsten einer demokratischen, schwarzen Regierung zurückgetreten sein wird. Hätten die burisch-britischen Herrscher des Kapstaats eine humanitär oder wie auch immer begründbare Einsicht in die Nöte der von ihnen bzw. ihren Vorfahren gewaltsam kolonialisierten Bevölkerung Südafrikas gehabt, hätten sie mindestens seit 1912, dem Gründungsjahr des ANC, Zeit genug gehabt, auf die Anliegen und Forderungen der Kolonialisierten einzugehen.

Es liegt in der Natur der Herrschaft des Menschen über den Menschen begründet, daß Zugeständnisse von seiten der stärkeren Seite immer nur dann gemacht werden, wenn sie ihre Vormachtstellung ernsthaft gefährdet sieht. So trat das Apartheidregime bereits Ende der 1980er Jahre mit dem inhaftierten Mandela wie auch der ANC-Führung in Geheimverhandlungen, um die Abwicklung eines politischen Wechsels auszuloten, der den Apartheidwiderstand zum Erliegen bringen würde durch eine von seinen Führern akzeptierte Lösung, ohne jedoch einen tatsächlichen Machtverlust der alten Elite nach sich zu ziehen.

Mandela und der ANC haben die ihnen angebotene Kröte geschluckt. Angeblich, um einen andernfalls drohenden Bürgerkrieg zwischen einer militärisch gut ausgerüsteten weißen Minderheit und einer inzwischen kampferfahrenen schwarzen Mehrheit zu verhindern, wurden die Interessen der weißen Rechten berücksichtigt, indem den Folterern und Mördern des alten Regimes Straffreiheit zugesichert wurde durch die Einrichtung der sogenannten Wahrheits- und Versöhnungskommission. Der zweite Eckpfeiler bestand in der Zusicherung, die aus der kolonialen Vergangenheit stammenden Eigentumsverhältnisse, sprich den Landraub sowie die Inbesitznahme produktiver Betriebe und Bergbauunternehmen, unangetastet zu lassen. Auf dieser Basis lag die Übertragung politischer Funktionen in die Hände einer "schwarzen" Regierung, die vom landesweiten Widerstand nicht oder zumindest nicht in einem vergleichbaren Ausmaß angegriffen werden würde, sehr wohl im Interesse der alten Elite und ihrer Partner im europäischen Ausland, aus dem die Despoten Südafrikas einst gekommen waren.

Dieses Konzept ging - wenn auch nicht widerspruchsfrei - auf. Selbstverständlich regten sich Proteste gegen die Verhandlungsbereitschaft Mandelas wie auch des ANC - und zwar sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Organisation. Das Zerwürfnis zwischen Winnie Mandela, die ihren Mann in den 27 Jahren seiner Inhaftierung stets unterstützt hatte, und Nelson Mandela wurde in dem Film damit zu erklären versucht, daß beide "sich auseinandergelebt" hätten. Plausibler wäre die Annahme, daß Winnie Mandela den Schulterschluß ihres Mannes mit dem alten Regime nicht mitzutragen bereit war, weshalb ihre Scheidung womöglich sogar zu den Bedingungen gehört haben könnte, die Nelson Mandela im Zuge des ausgehandelten "Friedens" zu akzeptieren gezwungen worden war.

In dem Film "Nelson Mandela - Eine Legende wird 90" jedoch wurden diese und ähnliche Fragen, die den Staatsgründungsmythos des neuen Südafrikas betreffen, nicht nur ausgeblendet, sondern geradezu verbarrikadiert durch die Personifizierung der Ereignisse, so als habe tatsächlich ein einzelner Mensch, nämlich Mandela, der "berühmteste Gefangene der Welt" (PHOENIX), hier vermeintlich ein Wunder vollbracht. Eine solche Auslegung historischer Ereignisse führt nahezu zwangsläufig zu fundamentalen Widersprüchen. So wird in dem Film geschildert, wie der junge Mandela nach Johannesburg an die einzige für Schwarze zugängliche Universität, Fort Hare, kam und dort zum ersten Mal begriff, daß es keine Unterschiede zwischen ihm und anderen (schwarzen) Studenten gäbe.

Damit wird suggeriert, daß das primäre Problem nicht-weißer Menschen im Apartheid-Staat nicht die Apartheid, sondern die Zwistigkeiten untereinander, so etwa zwischen den Angehörigen verschiedener Völker wie Chosa und Zulu, gewesen wäre. Mandela habe dann, so die filmische Darstellung, erstmals realisiert, daß er "ein Afrikaner" sei. Einmal unterstellt, dies träfe zu, hätte dies die Übernahme eines kolonialistischen Standpunktes beinhaltet, denn der Begriff "Afrika" setzt stets eine Außensicht voraus. Hätten Europäer oder andere niemals ihre Füße auf diesen Kontinent gesetzt und ihn aufgrund ihrer überlegenen Feuerkraft erobert, hätten die dort lebenden Menschen keinen Grund gehabt, einen Begriff wie "Afrika" oder "Afrikaner" zu verwenden.

Im übrigen wurden in den Film nur sehr fragmentarisch Informationen zur Geschichte Südafrikas eingestreut. Als Jahr 1 der Apartheid wird 1948 definiert, weil zu diesem Zeitpunkt die Nationalpartei der Buren die Regierungsgeschäfte von der pro-britischen Südafrikanischen Partei übernommen hatte. Damit wird die koloniale Vergangenheit, die von ihrem Appendix, der sogenannten Apartheid, überhaupt nicht zu trennen ist, vollkommen ausgeblendet. Daß Mandela in eine britische Missionsschule gesteckt und ihm dort sein eigener Vorname, der in seiner Muttersprache soviel wie "Unruhestifter" bedeutet habe, weggenommen und durch "Nelson" ersetzt wurde, wird in dem Film wie eine amüsante Anekdote dargestellt und keineswegs als Bestandteil der Vergewaltigung "afrikanischer" Kulturen durch den imperialistischen Westen ausgewiesen.

Selbstverständlich kann "die Apartheid" in einem Film über Nelson Mandela nicht gänzlich negiert werden; schließlich bedarf es eines negativen Kontrapunktes, um zu unterstreichen, wieso, weshalb und warum Nelson Mandela ein Gutmensch sei, an dem sich die Jugend der Welt ein Vorbild nehmen könne. Jegliche Andeutung allerdings in Hinsicht auf die unbestreitbare Tatsache, daß das Apartheidregime von den führenden westlichen Staaten klammheimlich unterstützt und vor allem durch - wenn auch infolge des UN-Embargos illegale - Waffenlieferungen am Leben erhalten wurde, sucht man in diesem Film vergeblich. Es wird vielmehr der Eindruck erzeugt, als seien die schlimmen Jahre der Apartheid wie eine Schlechtwetterfront über Südafrika hereingebrochen - ein historisches Versehen, zu dessen vermeintlicher Beilegung der letzte Apartheid-Präsident Frederik Willem de Klerk dann bereitwilligst beigetragen habe.

Der Film liefert ein Gerüst historischer Eckdaten, so etwa die Freilassung Mandelas und die Wiederzulassung des ANC 1990 und die ersten allgemeinen Wahlen im Jahre 1994, aus denen der ANC als klarer Sieger hervorging mit der Folge, daß Nelson Mandela der erste schwarze Präsident Südafrikas wurde. Ein Jahr zuvor, 1993, waren Mandela und de Klerk mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden - doch warum? Dem vorherrschenden Konsens, dem der Film in aller Ausschließlichkeit Rechnung trägt, gemäß würde diese Frage damit beantwortet werden, daß beide Politiker durch ihren Versöhnungskurs einen Krieg zwischen weißen und schwarzen Menschen mit womöglich sehr vielen Todesopfern verhindert hätten. Aus Sicht vieler (schwarzer) Menschen Südafrikas stellte sich dies mit Sicherheit anders dar, und so darf vermutet werden, daß die blutigen Auseinandersetzungen, die in jenen Jahren losbrachen, nicht auf verschiedene Volkszugehörigkeiten wie eben Zulu und Chosa und deren etwaige Feindschaft kausal zurückzuführen, sondern damit zu erklären sind, daß die große Einigung des ANC mit dem alten Regime gegen massive Widerstände innerhalb der eigenen Reihen sowie generell der schwarzen Bevölkerung durchgesetzt werden mußte.

Der Film enthält ein Originalzitat Mandelas aus dem Jahr 1992, als die "Welle der Gewalt" bereits zu Tausenden Toten geführt hatte, in dem dieser sagte, es sei den Menschen nicht mehr zu erklären, mit einer Regierung zu verhandeln, "die Krieg gegen uns führt". Dann allerdings - und dies wird in dem Film durchaus deutlich gemacht - führte Mandela entgegen seiner eigenen, vorherigen Stellungnahme die Verhandlungen weiter und sprang damit angeblich über seinen Schatten, wofür er mit dem Friedensnobelpreis belohnt wurde. Viele Menschen in Südafrika allerdings wird dieser Versöhnungskurs in helle Wut versetzt haben, weil sie nach den vielen Jahren und Jahrzehnten entwürdigendster und grausamster "Apartheid" nicht akzeptieren konnten, daß die alte Ordnung nur mit einem neuen Farbanstrich versehen werden sollte.

Es sei mittlerweile erwiesen, so erzählt der Film, daß die Weißen in der sogenannten Übergangszeit eine "Doppelstrategie" verfolgt hätten. Bei diesem im Grunde nichtssagenden Begriff läßt der Filmautor es bewenden, hätte es doch den vorherrschenden Konsens um Nelson Mandela und Südafrika verletzt, hier in aller Deutlichkeit klarzustellen, daß von einem Sturz oder politischen Ende des alten Regimes nicht die Rede sein konnte. Mandela, der vor seiner Inhaftierung Gründungsmitglied und erster Oberkommandierender der Untergrundarmee des ANC "Umkhonto we Sizwe" (Zulu-Bezeichnung für "Speer der Nation") gewesen war, hatte - noch in Gefangenschaft - die Bereitschaft zur Einstellung des bewaffneten Kampfes erklärt, wodurch die vielgerühmte Verhandlungslösung von 1990 erst ermöglicht worden war. Es war ein Friede von Gnaden des Apartheidregimes sowie unter latenter Putschandrohung der äußersten (weißen) Rechten, so diese ihre Privilegien über Gebühr angetastet sehen sollte. So wurde die sogenannte Wahrheits- und Versöhnungskommission, die von vielen Opfern und Hinterbliebenen nicht von ungefähr wie eine zweite Entwürdigung empfunden wurde, eingesetzt, um den Handlangern des alten Regimes einen nahtlosen Übergang in die angeblich neue Gesellschaft zu ermöglichen.

Diese insofern äußerst problematischem und fragwürdigen Aspekte der sogenannten Nachapartheid-Ära werden in der filmischen und aus westlicher Sicht erzählten Lebensgeschichte Mandelas allerdings nicht tangiert. Klugs Beitrag dokumentiert im Grunde nur die Position der führenden kapitalistischen Staaten und der von ihnen dominierten sogenannten internationalen Gemeinschaft hinsichtlich eines Südafrikas, so wie sie es sehen und wie sie es gerne hätten - mag dies auch korrespondieren mit den Interessen der neuen, nun mehrheitlich schwarzen Elite des Landes. Dies zu verwechseln mit dem Denken und Fühlen der in Südafrika lebenden Menschen wäre ein von den Filmemachern wohl durchaus beabsichtigter Trugschluß.

Namentlich die große Armut - heute lebt die Hälfte der Bevölkerung Südafrikas unter dem Existenzminimum und hat keine Chance auf einen Arbeitsplatz - wird in dem Film unter konkreter Nutzanwendung des Mandela-Mythos auf nahezu beschämende Weise bagatellisiert. So werden Menschen, die in der Provinz Eastern Cape, aus der Mandela stammt und in der noch heute die allergrößte Armut herrscht, vor die Kamera gesetzt oder beim Wäschewaschen im Fluß vorgeführt wie um zu zeigen, daß sich in Südafrika in Armut gut leben ließe.

Dabei tritt unweigerlich der postkoloniale Standpunkt zutage, der auch mit dem von PHOENIX anläßlich des 90. Geburtstages Mandelas produzierten Filmbeitrag transportiert wird. Die armen Menschen im Eastern Cape, so erzählt der Film, "schämten" sich heute nicht, Fremde in ihre einfachen Wohnungen zu lassen. Schämen? Welch eine Idee in einem Land, dessen Regierung behauptet, die schlimmen Jahre der Apartheid, um von der jahrhundertealten Kolonialgeschichte gar nicht erst zu reden, hinter sich gelassen zu haben, obwohl deren Früchte den Kern einer gesellschaftlichen Ordnung bilden, in der nur eine verschwindend kleine Minderheit ihren auf Raub gegründeten und nach wie vor zu Lasten der großen Mehrheit erwirtschafteten Wohlstand genießen kann.

Daß bis auf den heutigen Tag ein hochbetagter, gebrechlicher Mensch wie Nelson Mandela immer und immer wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gestellt und auch sein 90. Geburtstag zum Anlaß genommen wird, die um seine Person herum aufgebaute Botschaft der Versöhnung zu beleben, läßt erahnen, wie groß das Interesse der Mächtigen dieser Welt an einer an Unterwürfigkeit grenzenden Bereitschaft, sich mit ein paar Brosamen abspeisen zu lassen, nach wie vor sein muß. Der Film "Nelson Mandela - eine Legende wird 90" nimmt sich davon nicht aus, und so kann er nur unter der Maßgabe empfohlen werden, sich auf diese Weise einer höchst kontroversen Problematik zu stellen und der Frage nachzugehen, warum sich der unmittelbare Eindruck, bei dieser Produktion mit einem Heile-Welt-Produkt konfrontiert zu sein, das die höchst brisante aktuelle Krise des Landes konsequent ausblendet und noch dazu das Hohelied der Armut singt, bei näherem Nachfassen nur noch vertieft.


18. Juni 2008