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BERICHT/005: Borgia im ZDF - Opulenz und Dekadenz (SB)


Von der Ambivalenz historischer Deutungsmacht auf der Höhe der Zeit


Darstellerinnen und Darsteller der Serie Borgia in historischer Kostümierung - © 2013 by ZDF; Foto Schattenblick

Ausstattungspracht der Borgia in der Patina verwehter Zeiten
© 2013 by ZDF; Foto Schattenblick

Die Aufbereitung historischer Stoffe im Format der Fernsehserie erfreut sich immer größerer Beliebtheit. US-Produktionen wie "Rome", "Spartacus" oder "The Tudors" greifen gezielt auf bestimmte Epochen und Personen der Geschichte zu, um sie in ihrer fiktionalen Aufbereitung mit prallem, farbenprächtigem Leben zu füllen, ohne den Anspruch auf relative Authentizität aufzugeben. Serien wie "Boardwalk Empire", "Deadwood" und "Carnivàle" bedienen sich der jüngeren Geschichte eher im Sinne eines Lebensstil wie Sozialkultur nachzeichnenden Rahmens für packende Dramen und sind, wenn überhaupt, nur lose an historisch verbürgte Biografien angelehnt. Auch die in Europa produzierte, in der Bundesrepublik im ZDF ausgestrahlte Serie "Borgia" beansprucht, einen zeitlich wie geographisch klar umrissenen Ausschnitt der Geschichte in großen Zügen wirklichkeitsnah wiederzugeben. Sie entwickelt dabei eine spezifische Sicht auf die Geschichte des ausgehenden Mittelalters und der frühen Renaissance, die nicht minder als andere Produkte historisierender Unterhaltung einer folgenreichen Bedingung unterliegt - das Verhältnis zwischen beanspruchter Authentizität und notwendiger Fiktion wird aus der Sicht einer Zeit gestaltet, die von jeweils eigenen Prämissen gesellschaftlicher Existenz und damit geschichtlicher Reflexion bestimmt ist.

In das Bedürfnis, sich der eigenen Lage durch die Betrachtung und Bewertung analoger Verläufe in Politik und Gesellschaft früherer Jahrhunderte gewahr zu werden, fließen fast automatisch Interessen zur Legitimierung respektive Überwindung heute herrschender Verhältnisse ein. So kann ein Geschichtsverständnis, daß das Walten mächtiger Führer und genialer Denker zur zentralen Triebkraft historischer Veränderungen erhebt, zu ganz anderen Schlußfolgerungen hinsichtlich der vielzitierten Lehren, die aus der Geschichte zu ziehen wären, gelangen als der Versuch, soziale und ökonomische Widersprüche in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. In ersterem Fall wäre die weitere Ermächtigung sich durch Herkunft und Ausbildung für Führungszwecke empfehlender Eliten das Gebot der Stunde, in letzterem ginge es ganz im Gegenteil um die Emanzipation von den Schalthebeln der Macht ferngehaltener Menschen etwa durch die Stärkung demokratischer Partizipation oder gar revolutionäre Emanzipation.

Wirft man einen eher unkonventionellen, in den Seminaren bürgerlicher Geschichts- und Kulturwissenschaften unterrepräsentierten Blick auf die vermeintlich klar umrissene Zeitenwende zwischen ausgehendem Hochmittelalter und beginnender Neuzeit, dann stellt sich diese Epoche eher als ein Kontinuum des in sich ungleichzeitigen bis gegenläufigen Übergangs zwischen den Antipoden sakraler und weltlicher Macht, feudaler und bürgerlicher Ordnung dar. So griffen spätestens mit Franz von Assisi im 13. Jahrhundert von Gleichheitsidealen angetriebene soziale Bewegungen um sich, die, wenn sie nicht als Orden der Franziskaner durch die Römische Kirche institutionalisiert, von dieser als Häresien verfolgt wurden. Ein Beispiel dafür sind die Albigenserkriege zu Beginn des 13. Jahrhunderts, die bestätigten, daß die Kreuzzüge nicht etwa Glaubenskriege, sondern Ausdruck des nach außen wie innen gerichteten Unterwerfungsanspruchs der katholischen Universalmonarchie waren.

Die Gegenbewegungen gegen eine Kirche, die die Heiligkeit des Privateigentums predigte und bei allem Widerstreit zwischen Thron und Altar im Grundsatz stets die Sache der Herrschenden vertrat, beriefen sich schon Jahrhunderte vor Martin Luther auf einen Christus, der tatsächlich auf der Seite der Armen und Beladenen stand. Was Papst Johannes XXII. 1323 mit der dogmatischen Verfügung bekämpfte, die Ansicht, Jesus und die Apostel hätten kein Eigentum gehabt, sei als ketzerisch zu verdammen, wurde von Hussiten, Wiedertäufern, den chiliastischen Anhängern Joachim von Fiores und anderen pauperistischen Laienbewegungen mit bisweilen militanter Entschiedenheit verfochten. Der Versuch, die hinter den Horizont des Jüngsten Gerichts verschobene Heilserwartung schon dadurch zu verwirklichen, das Reich Gottes mit der radikalen Lebenspraxis etwa der Katharer, die kein Privateigentum kannten, Frau und Mann gleichstellten und keine Tiere verbrauchten, in die eigene Lebensgeschichte zu ziehen, kann im Christentum des Hochmittelalters anhand diverser christlicher Gegenbewegungen zur Paulinischen Kirche dokumentiert werden. Sie waren durch die niemals gänzlich verstummte Dichotomie der Gnosis inspiriert und wurden durch den Leidensdruck der versklavten Landbevölkerung befeuert. So bildete die bäuerliche Laienbewegung der Apostelbrüder unter Führung Fra Dolcinos in Norditalien eine wehrhafte Kommune, die erst durch einen von Papst Clemens V. ausgerufenen Kreuzzug bezwungen werden konnte. Arnold von Brescia wiederum, der in Rom eine gegen den Papst gerichtete sozialreformerische Kommunalverfassung etablierte, wurde vom Stauferkaiser Friedrich I. aus machtopportunen Gründen umgebracht.

Sicherlich nicht unbeeinflußt von diesen mittelalterlichen Sozialkämpfen setzte die politische Renaissance bereits im frühen 14. Jahrhundert in den italienischen Stadtstaaten ein. In diesen wirtschaftlich besonders entwickelten Republiken provozierte der Machtanspruch der Regnum-Christi-Doktrin, mit der der Papst die Reiche des Himmels wie der Erde zu beherrschen beanspruchte, die Entstehung einer ersten gegen die Totalität des Papsttums gerichteten Staatstheorie. Marsilius von Padua forderte 1324 in seiner Schrift "Defensor Pacis" das Prinzip der Volkssouveränität ein und verwarf damit den gottgegebenen Charakter aller Staatlichkeit. Widerstand gegen den Anspruch der päpstlichen Kurie, Staat und Kirche in der Herrschaft einer Universalmonarchie zu vereinen, ging auch von dem Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham aus. Er ordnete den Staat dem Wohl seiner Bürger unter und brachte die Trennung von Glauben und Wissen gegen die Zuständigkeit des Papsttums für die Belange weltlicher Herrschaft in Rechtsprechung, Finanzverwaltung und Machtpolitik in Stellung. Es ging Reformern der gebildeten Stände wie ihm um nichts geringeres als die zahlreichen Bürgerkriege zu beenden, die der Machtkampf zwischen Papstkirche und Königtum überall in Europa entfachte.

Die als Phase des historischen Umbruchs verstandene Zeit, in der die Borgia-Dynastie Rom beherrschte, stand mithin im Zeichen eines sozialen Aufbruchs, der die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Renaissance sicher nicht weniger befruchtete, als diese in der Besinnung auf die Ideale der Antike das epochemachende Zeichen humanistischer Philosophie und säkularer Staatstheorie setzte. Daß es sich bei den pauperistischen, Gleichheit und Gerechtigkeit einfordernden Laienbewegungen des Mittelalters um eine wenn nicht vergessene, dann häufig als Ausgeburt utopischen Wunschdenkens oder religiöser Schwärmerei herabgewürdigte Linie der Geschichte handelt, entspricht dem Verschwinden vieler sozialrevolutionärer Bewegungen im historischen Nirgendwo, wo gescheiterte Versuche, soziale Gleichheit und menschliche Emanzipation zu verwirklichen, vorzugsweise enden, wenn sie nicht zu Schlimmerem berufen sind und als warnendes Beispiel dafür herhalten müssen, den Blick über den Horizont gesellschaftlicher Bedingtheit gar nicht erst zu wagen.

Daß die geschriebene und archivierte Historie vor allem von gekrönten und gesalbten Häuptern bevölkert ist, liegt auch daran, daß nur sie eine institutionelle Kontinuität zu sichern wußten, für die die Papstkirche beispielhaft ist. Diese hatte zur Zeit der Borgia den Zenit ihrer weltlichen Machtfülle längst überschritten und war gerade stark genug, eine für ihren Bestand unvorteilhafte staatliche Einheit zu verhindern, keineswegs aber selbst eine solche zu schaffen. Hier bietet das in der Serie "Borgia" dargestellte Manövrieren zwischen Frankreich und Spanien und ihren italienischen Verbündeten durchaus interessantes Anschauungsmaterial.

Der Aufbruch in die Neuzeit, als der die Renaissance in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte gilt, war maßgeblich den wirtschaftlichen Unternehmungen der norditalienischen Stadtstaaten geschuldet. Sie begründeten ein System der feudalkapitalistischen Warenwirtschaft, das Hand in Hand mit der Ausbildung der souveränen Verfügungsgewalt ihrer Fürsten ging. Die erweiterte Akkumulation des expandierenden Handelskapitalismus brachte mit Nicholo Machiavelli einen Strategen dieses ökonomischen Aufstiegs hervor, dessen Relevanz für moderne Theorien der Gouvernementalität auch 500 Jahre später kaum geschmälert ist. Als pragmatischer Technokrat der Regierungskunst setzte er die Staatsräson absolut zur Frage ihrer Legitimation, die ohne weiteres mit Hilfe spektakulären Blendwerks und symbolpolitischer Winkelzüge erwirtschaftet werden konnte, wenn sie nur den Bestand des herrschenden Staatswesens sicherte. Machiavelli erhob den Souverän in den Stand eines Gesetzgebers, der selbst nicht an Gesetze gebunden war, und formulierte damit ein Prinzip staatlicher Verfügungsgewalt, das über die Gewaltenteilung des demokratischen Verfassungsstaates hinaus im potentiell jederzeit möglichen Ausnahmezustand fortdauert. In der Serie "Borgia", exemplarisch an der Auseinandersetzung zwischen dem Florentiner Dominikanermönch Girolamo Savonarola und Cesare Borgia dargestellt, verkörpert Machiavelli den Primat exekutiver Ermächtigung, der auch um den Preis massiver Unterdrückung gegnerischer Interessen durchzusetzen ist, wenn es das Interesse des Fürsten, das nicht das seiner Untertanen sein muß, gebietet.

Mit der Zweckrationalität seines zyklischen Geschichtsverständnisses, das von keiner irgendwie gearteten Überschreitung herrschender Verhältnisse ausging, hatte Machiavelli die kosmische Ordnungsprinzipien reflektierende Staatsidee der Antike schon hinter sich gelassen, als man in Philosophie, Kunst und Wissenschaft noch die Überwindung der aristotelischen Scholastik durch den Rückgriff auf die Quellen platonischer Erkenntnis und die Auseinandersetzung mit dem von klerikaler Dogmatik befreiten Naturzustand des Menschen feierte. Machiavelli antizipierte die machtpolitischen Erfordernisse der aufkommenden europäischen Nationalstaaten und bahnte der Staatsphilosophie Thomas Hobbes den Weg, dem der Mensch ein Wolf unter Wölfen war, dessen räuberische Gewalt nur durch seine strafbewehrte Unterwerfung unter das staatliche Gemeinwesen einzuhegen war. Auf dieser Linie konsequenter Herrschaftslogik, der insofern ein aufklärerisches Potential innewohnte, als öffentlich über sie verhandelt wurde, also Widerstand jederzeit möglich war, gelangt man auf kurzem Weg von den Ränkespielen der Borgia zur symbolpolitischen, mit Sachzwängen letztbegründeten Praxis heutigen Regierungshandelns. Im Antagonismus zweier Lesarten der Geschichte, der der Sieger und der der Klassenkämpfe, ist sie bei aller aufklärerischen Vernunft ersterer zuzuschreiben.

Nur aus dieser Sicht läßt sich in der Renaissance vorbehaltlos ein historischer Aufbruch verorten, dem die Befreiung des Menschen von den Fesseln religiöser Irrationalität, feudalistischer Ausbeutung und kultureller Rückständigkeit zu attestieren wäre. Die wissenschaftliche Durchdringung und technische Bemächtigung der Natur setzte bei aller emanzipatorischen Wirkung auch jene Kräfte kapitalistischer Akkumulation in Gang, die die Eroberung Amerikas mit Feuer und Schwert betrieben und mit dem atlantischen Sklavenhandel der industriellen Revolution den Weg bahnten. Der merkantilistische Handelsstaat forcierte die Proletarisierung der Bauern, deren ohnehin notdürftige Quellen der agrarischen Substitution versiegten, da sie nurmehr die Ware Arbeitskraft zu Markte tragen konnten. Die städtischen Handwerker wurden aus den sozialen Sicherungssystemen der Zünfte vertrieben, um sich in einer Marktgesellschaft zu bewähren, deren überschüssige Kräfte in Arbeitshäusern eine Vorform der Sweat Shops des kapitalistischen Weltsystems erleiden mußten. Der moderne Nationalstaat verfügte über die Menschen mit bevölkerungspolitischen Maßnahmen, um sie mit administrativem und ökonomischem Zwang auf die Verwertung durch Arbeit zuzurichten, bevor der Aufbruch in selbstbestimmte Formen kollektiven Lebens und Wirtschaftens die Hegemonie der Eigentumsordnung in Frage stellen konnte.

Die große Errungenschaft der Renaissance, den Menschen in den Mittelpunkt des Denkens gestellt und die Schöpfung ihres monotheistischen Primats enthoben zu haben, bergen zweifellos Qualitäten der Befreiung, die nicht hoch genug geschätzt werden können. Die empirische Realität der dadurch dynamisierten kapitalistischen Produktionssweise durchkreuzte allerdings alle Hoffnungen auf eine Gemeinschaft der Menschen, die in der urchristlichen Gleichheitsidee bereits lebenspraktische Früchte getragen hatte, in den Sozialutopien eines Thomas Morus und Tommaso Campanella die Organisationshöhe gesellschaftlicher Gemeinwesen erreichte und mit den Entwürfen anarchistischer und kommunistischer Revolutionäre weltbewegende Sozialkämpfe initiierte.

So läßt die eurozentrische Universalgeschichte bis heute vergessen, daß parallel zur Entwicklung der europäischen Zivilisation mit nicht minder großer Intensität und Entschiedenheit in anderen Weltregionen Fortschrittswege beschritten wurden, die durch den raumgreifenden Besitzanspruch des europäischen Kolonialismus und die imperialistische Aneignung der Welt jäh beendet wurden. Die heute in ihrem visionären Gehalt bestaunten technologischen Entwürfe eines Leonardo da Vinci oder Francis Bacon sind längst durch die ökologischen und sozialen Schattenseiten ihrer industriellen Verwirklichung eingeholt, wie überhaupt die in der Renaissance postulierte Sonderstellung des Menschen unter allen Lebewesen grausamste Ergebnisse der Ausbeutung anderer Lebensformen zeitigt. Die in Ermangelung technischer Fähigkeiten magisch konnotierte Indienstnahme der Naturkräfte, die im antiklerikalen Aufschwung der Renaissance bei Giordano Bruno und Theophrast Paracelsus die pantheistische Idee einer aus sich selbst heraus wirkenden Natur aufkeimen ließ, tritt in der nuklearen, molekularbiologischen und mikroelektronischen Innovation der Produktivität als qualifizierte Abhängigkeit von scheinbar autonom agierenden, in ihrer Funktionsweise zusehends numinosen Komplexen finanzwirtschaftlicher und großindustrieller, biotechnologischer und informationstechnischer Kontrollgewalt hervor. Vor allem jedoch wird der vor 500 Jahren als Befreiung erlebte Primat des Denkens den Maßgaben einer marktförmigen Sachzwanglogik, vulgärmaterialistischen Erkenntnistheorie und positivistischen Wissenschaftsdoktrin unterworfen, die die hochgradige Individuation des bürgerlichen Subjekts auf die Austauschbarkeit einer leistungs- und konsumoptimierten Monadenexistenz zurückwirft.

Weist man den ahistorischen Charakter neoliberaler Gesellschaftstheorie zurück und besteht darauf, daß der Mensch gerade als geschichtlich bedingtes Wesen zur Überwindung jeglicher Fremdbestimmung aufgerufen ist, dann kann die Rückschau ihr ganzes nach vorne gewandtes Potential entfalten. Vergangene Epochen menschheitlicher Entwicklung auf der Höhe der Zeit zu erkunden, bliebe ohne die daraus erwachsende Fähigkeit zum kritischen Umgang mit den Voraussetzungen und Bedingungen eigener Vergesellschaftung ohne jeden Nutzen, der über die bloße Unterhaltung hinausführte. Gegen diese ist nicht das geringste einzuwenden, könnte die Fallhöhe der Kritik an trivialem Entertainment doch kaum höher sein, wo die Fallstricke kulturpolitischer Identitätsbildung und Sinnstiftung in der medialen Vermittlung des Bildungskanons ignoriert werden. Wird erst einmal der Anspruch auf eine in großen Zügen authentische Wiedergabe historischer Verhältnisse erhoben, dann ist zumindest vor dem Hintergrund einer auf stetigen Erkenntniszugewinn abonnierten Geschichtsauffassung die Frage in der Welt, worin dieser Fortschritt besteht und von welchem Nutzen er für die Bewältigung der keineswegs geringen Probleme sein könnte, die sich den Menschen dieser Zeit stellen.

Gerahmtes Porträt zur Promotion der Serie Borgia - © 2013 by ZDF; Foto Schattenblick

Im Ornat des Renaissancepapstes - John Doman als Alexander VI.
© 2013 by ZDF; Foto Schattenblick

8. August 2013