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ALTERNATIVMEDIZIN/222: Alte Geheimnisse, neues Wissen - Traditionelle europäische Medizin (welt der frau)


welt der frau 1/2012 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Traditionelle europäische Medizin
Alte Geheimnisse, neues Wissen

von Susanna Sklenar



Während in Asien die TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) auch heute noch mit Erfolg angewandt wird, führt die TEM (Traditionelle Europäische Medizin) in Europa ein weit weniger populäres Dasein. Zu Unrecht, denn die fast 2.000 Jahre alte Heilkunde kennt zahlreiche wirkungsvolle Arzneien und Behandlungen von Erkrankungen aller Art.


Über TCM, Ayurveda oder Tibetische Medizin findet man zahlreiche Bücher im Handel, etliche Beiträge in Medien sowie laufend aktuelle Kurse ausgeschrieben. Nach Wissenswertem zur "Traditionellen Europäischen Medizin" (TEM) muss man schon gezielt suchen. Leider ist bei uns vieles aus dieser alten Medizin in Vergessenheit geraten, bedauern ExpertInnen aus dem Bereich der Naturheilkunde. TCM hingegen wird in China vom Staat gefördert und gilt als wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Dennoch hat auch Europa in dieser Hinsicht nach wie vor ein Wissen zu bieten, das vor allem bei leichteren Beschwerden den Griff zur synthetischen Tablette oft überflüssig macht. So kann ein frisch aufgebrühter Tee aus Lindenblüten den Körper ins Schwitzen bringen und aufkommende Erkältungen wieder verschwinden lassen, Baldrian kann bei Einschlafstörungen helfen und Schafgarbenkraut Menstruationsschmerzen lindern.


Körpersäfte und Lebensenergie

Fest steht: Die ursprünglichen "Heilungstheorien" Asiens und Europas sind sich durchaus ähnlich.

→ Viersäftetheorie: Nach TEM bestimmt der Mix aus vier Säften über das Wohlergehen des Einzelnen - schwarze und gelbe Galle, Blut und Schleim. Letzterer galt einst insbesondere bei Schnupfen als gefährlich. Denn ein Überschuss an kaltem, zähem Schleim wurde nicht nur als Ursache von Trägheit gesehen, sondern war nach der Viersäftelehre auch verantwortlich für eine Reihe ernsthafter Erkrankungen. Aus diesem Grund verordneten die alten Mediziner ihren Patientinnen gerne Schwitz- oder Trinkkuren, um die Konsistenz der Körpersäfte zu korrigieren.

→ Galen-Lehre: Die Ursprünge des alten TEM-Wissens gehen großteils auch auf den römischen Arzt Galen zurück, der im 1. Jahrhundert nach Christus lebte und neben Hippokrates der einflussreichste Arzt der Antike war. Er war es, der erstmals die Elemente mit Pflanzen in Verbindung brachte und ein Medizinsystem mit polaren Begriffen wie bei den Chinesen - Yin/Yang, warm/ kalt, trocken/feucht - entwickelte.

→ Klostermedizin: Vor allem jedoch waren es im Mittelalter die Klöster, die eine große Rolle im Gesundheitswesen spielten. Fast alle Ordensniederlassungen verfügten über einen eigenen Kräutergarten, viele betrieben ein Spital, eine reichhaltige Bibliothek und eigene Apotheke - daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit die sogenannte Klostermedizin - ein Kernstück der TEM, in der die Kräuterheilkunde eine zentrale Rolle spielt. Im 19. Jahrhundert schließlich setzte sich insbesondere die Methode des Seelsorgers und Naturheilers Sebastian Kneipp (1821-1897) durch, die der Erhaltung der Gesundheit sowie der Heilung von Körper, Seele und Geist dient und auf fünf Prinzipien - Wasser, Heilkräutern, Bewegung, Ernährung und Lebensordnung - beruht. Ebenso bedeutsam ist der Einfluss von Hildegard von Bingen (1098-1179), die als Äbtissin zwei Klöster errichten ließ, denen sie dann auch Vorstand. Sie war eine der bedeutendsten Frauen ihrer Zeit und hinterließ nicht nur ein umfangreiches theologisches Werk, sondern auch wertvolle naturkundliche und medizinische Sammlungen. Ihr Ansatz zur Gesundheit war damals schon ganzheitlich. Was ihre Heilkunde aber einzigartig macht, ist ihre visionäre Schau. Auf der Basis ihrer Visionen gab sie ein Bild des Menschen, das dessen körperliche und geistige Beschaffenheit, seine Tugenden und Laster sowie das Funktionieren seiner Organe ebenso wie deren Gebrechen erstmals in ein System brachte.

Prinzipiell gilt: Was dem Europäer sein Körpersaft, ist dem Chinesen die Lebensenergie (Chi), die im Körper kreist. Laut TCM geht es dem Menschen schlecht, wenn der Chi-Fluss im Körper gestört, also im Ungleichgewicht ist. Bestimmte (energetische) Massagetechniken bzw. Akupunktur sollen dann die Energie wieder harmonisch strömen lassen. Zudem verknüpfen beide Kulturen ihre Theorien mit Naturbeobachtungen - z. B. dem Stand der Gestirne bzw. den Jahreszeiten.


Schnittpunkte von Ost und West

Die Ähnlichkeiten von TCM, tibetischer Medizin, Ayurveda (indisches ganzheitlich orientiertes "Wissen vom Leben") und TEM sind kein Zufall. Denn so wie heute tauschten sich auch anno dazumal die Mediziner untereinander aus - nur auf anderen Kommunikationswegen. Medikamente und Ideen gelangten nicht via Internet oder Fachliteratur von Kontinent zu Kontinent, sondern via Karawanen auf der Seidenstraße von Ost nach West und umgekehrt. Leider ging viel überliefertes Wissen im Durcheinander von Völkerwanderungen und Pestwellen wieder verloren. Zum endgültigen Traditionsbruch kam es in Europa im 19. Jahrhundert, als die Naturwissenschaft die Medizin eroberte: Was nicht rational erklärbar war, galt als nicht wissenschaftlich und daher nicht förderungswürdig.


Wiederentdeckung alter Schätze

Heute bemüht man sich darum, all die alten Wissensschätze wieder zu heben, nach modernen naturwissenschaftlichen Kriterien zu überprüfen und in neue Gesundheitskonzepte einfließen zu lassen. Helmut Olesko, Gründer der TEM-Akademie zur Fortbildung für ÄrztInnen, PharmazeutInnen und TherapeutInnen, zu den Grundlagen der TEM: "Die Basis sind die Säftelehre sowie Pflanzen in allen Verarbeitungsformen. Wir arbeiten auch mit Mineralien (Spagyrik) und der Erde, etwa in Form von Tonerde. Ebenso gehören manuelle Methoden, das Schröpfen oder verschiedene Wickel, zur TEM. Sämtliche Volksheilweisen haben gemein, dass sie mit allen Sinnen diagnostizieren, mit Zungen-, Puls- und Augen-(Iris-)Diagnostik. Speziell in der TEM wird auch der Harn zur Diagnose herangezogen. Bei allen geht es darum, den Organismus auszubalancieren, Blockaden zu lösen, ihn wieder ins Lot zu bringen und die Selbstheilungskraft anzuregen."

Tatsächlich stammen viele der Arzneimittel, die heute chemisch hergestellt werden, ursprünglich aus der Pflanzenheilkunde - z. B. die Acetylsalicylsäure (ein schmerzlinderndes, fiebersenkendes, entzündungshemmendes Mittel) aus einem Wirkstoff der Weidenbaumrinde, stark schmerzlindernde Substanzen wie Opiate u. a. aus dem Milchsaft des Schlafmohnes. Doch TEM arbeite nicht nur mit der Phytotherapie aus unserer Gegend, so Olesko, sondern "legt auch größten Wert auf die mentalen und seelischen Prozesse". Sie bezieht sich u. a. auf die Vier-Archetypen-Lehre, welche die Menschen in unterschiedliche Temperamente einteilt. Je nach Zugehörigkeit und Konstitution wird man dann im Zuge der Säftelehre entsprechend behandelt.

1. SanguinikerIn: ist extrovertiert, eher RednerIn und OptimistIn.
2. CholerikerIn: ist extrovertiert, durchwegs MacherIn und OptimistIn.
3. MelancholikerIn: ist introvertiert, vermehrt DenkerIn und PessimistIn.
4. PhlegmatikerIn: ist introvertiert, vorwiegend BeobachterIn und PessimistIn.


Welches Mittel für welche Beschwerden?

Grundsätzlich werden Pflanzen in der Phytotherapie als Frischpflanzen, als Extrakte oder auch in Form von Tees, Kapseln, Tropfen und Salben verwendet. Hier einige Einsatzgebiete:

→ Unruhe, Schlaflosigkeit. Bewährt haben sich hier vor allem beruhigende Kräutertees und Bäder. Baldrian gilt als die pflanzliche Einschlafhilfe der allerersten Wahl. Bei chronischen Schlafstörungen mehrere Tassen Baldriantee über den Tag verteilt trinken (stärkere Wirkung erzielt man durch Kombination mit Hopfenzapfen). Beruhigende Wirkung bei nervöser Unruhe haben auch Melisse, Lavendelblüten und Johanniskraut. Mit Mandel- oder Weizenkeimöl können Sie Bäder zur Beruhigung und Schlafförderung bereiten: Etwa 1 TL Öl pro 100 l Badewasser in Verbindung mit einem geeigneten Lösungsvermittler (verquirltes Eigelb, Sahne oder Milch, die mit dem Öl vermischt werden).

→ Erkältungen. Die kuriert man in der TEM nach dem Prinzip der Erwärmung. Möglichst viel zu trinken (zwei bis drei Liter am Tag) ist dabei die beste Medizin. Als besonders bewährt gelten Pfefferminz-, Kamillenblüten- und Thymiankrauttee. Bei akuten Beschwerden kann 1 TL zerkleinerte Weidenrinde mit einer Tasse kochendem Wasser übergossen werden - etwa 20 Minuten ziehen lassen, abseihen und täglich fünf bis neun Tassen trinken.

→ Schnupfen. Zum Abschwellen der Nasenschleimhaut: Inhalationen mit Pfefferminz- oder Minzöl, am besten kombiniert mit den ätherischen Ölen von Eukalyptus oder Fichte: Je ein Tropfen auf ein Papiertaschentuch bringen und das Tuch zwischen den hohlen Händen vor die Nase halten. Probate Mittel sind auch ein Erkältungsbalsam auf der Basis von Kampfer (aus der Apotheke) sowie Inhalationen mit Kamillenblüten oder Salz in kochendem Wasser gelöst. Ebenfalls gegen Erkältungen empfohlen: Schwitzkuren mit Bädern mit ansteigender Temperatur, beginnend mit 35 Grad bis auf 42 Grad. Als Badezusatz sind Thymianöl, Eukalyptus, Fichtennadel oder Latschenkiefer geeignet. Zur Schwitzkur gehört auch ein schweißtreibender Tee aus Linden- oder Holunderblüten, der möglichst heiß getrunken werden soll.

→ Halsentzündung. Ratsam ist ein Tee mit Spitzwegerichblättern, der Schluckbeschwerden und Heiserkeit lindert - mehrmals am Tag gurgeln. Zusätzlich kann man Salbeiblätter als Tee, Tinktur oder ätherisches Öl zur äußeren Anwendung einsetzen.

→ Reizhusten. Hier haben sich ein Kaltwasserauszug von Spitzwegerichblättern, Eibischwurzeln oder Malvenblättern und -blüten bzw. ein klassischer Heißaufguss aus Königskerzenblüten bewährt.

→ Schleimhusten. Tees gegen Schleimhusten bestehen aus Thymiankraut, Fenchelfrüchten, Süßholzwurzel, Andornkraut, Bibernellwurzel, Brunnenkressekraut oder Quendelkraut.

→ Übelkeit und Erbrechen. Hilfreich sind Tees aus Pfefferminzblättern, Fenchelfrüchten und Kalmuswurzelstock. Ein Reizmagen lässt sich am besten mit Tee aus Kümmel- und Angelikawurzel, Melissenblättern, Erdrauch-, Schöllkraut, Lavendelblüten, Ingwerwurzel- oder Galgantwurzelstock behandeln.

→ Verdauung. Zur Therapie von akuten Problemen (sowie zur Vorbeugung bei Verdauungsstörungen) sind Artischockenblätter sehr wirksam. Da ihre volle Wirkung nur dann gewährleistet ist, wenn die Tagesdosis von sechs Gramm erreicht wird, empfiehlt es sich, auf Fertigpräparate aus der Apotheke zurückzugreifen.

→ Kopfschmerzen. Probates Mittel sind ein Tee aus Weidenrinde sowie kalte Kompressen mit Pfefferminz- und Lavendelöl (vier Tropfen Pfefferminz- und zwei Tropfen Lavendelöl auf ein mit kaltem Wasser angefeuchtetes Tuch träufeln und auf den Kopf legen). Dazu: eine krampflösende Teemischung aus 20 g Thymiankraut und 30 g Weißdornkraut bzw. Efeublätter-Präparate aus der Apotheke.

→ Niedriger Blutdruck. Dieser lässt sich in der Regel mit Bädern, Salben und Aromatherapie mit Rosmarinblättern und -öl, Kalmuswurzel und Lavendelblüten gut behandeln.

→ Bluthochdruck. Positiv oder gar blutdrucksenkend wirken ein Tee aus Mistelkraut und Vollbäder von einer halben Stunde bei 36 bis 38‍ ‍Grad. Danach die Beine sofort kalt abduschen. Melisse und Lavendel zur Beruhigung beigegeben.

→ Exzeme. Die meisten lassen sich mit Kamillenblütenöl, mehrmals täglich dünn aufgetragen, Beinwellwurzelsalbe, zwei- bis dreimal täglich dick aufgetragen oder mit zehn- bis fünfzehnminütigen Bädern mit Eichenrinde sowie mit Weißkohl-Umschlägen gut behandeln.

→ Warzen. Viele lassen sich mit in 40%igem Alkohol angesetztem Thymianöl (1:10), das zweimal täglich aufgetragen wird, beseitigen.

Was Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit anlangt, müssen Phytopharmaka heute die gleichen gesetzlichen Bestimmungen erfüllen wie chemisch produzierte Arzneimittel.

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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Jänner 2012, Seite 48-51
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2012