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GERIATRIE/313: Digitale Messgeräte optimieren Diagnose und Therapie (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2021

Digitale Messgeräte optimieren Diagnose und Therapie

von Uwe Groenewold

GERIATRIE. Die Altersmedizin gewinnt aufgrund der demografischen Entwicklung weiter an Bedeutung. Am virtuellen Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) waren auch Wissenschaftler aus Schleswig-Holstein maßgeblich beteiligt.


Im Blickpunkt der Kongressteilnehmer stand insbesondere das geriatrische Assessment, das mit standardisierten und reproduzierbaren Tests den physischen, kognitiven, emotionalen, ökonomischen und sozialen Zustand des älteren Patienten erfassen kann. Ziel des Assessments ist eine ganzheitliche Versorgung geriatrischer Patienten sowie die an die jeweiligen Lebensbedingungen angepasste adäquate Therapie der Erkrankungen.

Zur Beurteilung von Mobilität und Motorik des älteren Patienten wird als Test bevorzugt der Timed Up and Go (TUG) eingesetzt. Der Test sieht vor, dass der sitzende Proband aufsteht, drei Meter geht, umkehrt und sich wieder setzt. Je mehr Zeit hierfür benötigt wird, desto stärker sind die Mobilitätseinschränkungen ausgeprägt. "Doch längst nicht von allen geriatrischen Patienten kann der TUG bewältigt werden, viele scheitern schon am selbstständigen Aufstehen; insbesondere in Pflegeheimen sind viele Bewohner deutlich in ihrer Mobilität eingeschränkt", erläutert Dr. Sonja Krupp von der Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck, die kürzlich ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert hat (*). "Für diese Patientengruppen haben wir die Lübecker Skala der Basis-Mobilität(LSBM) entwickelt, mit der wir prüfen, welche Ressourcen bei dem Einzelnen noch vorhanden sind."

In der LSBM werden dem Patienten sieben Aufgaben gestellt: Bei fünf davon soll er in maximal 60 Sekunden seine Position wechseln, zum Beispiel von der Rücken- in die Seitenlage, vom Liegen zum Sitzen und vom Sitzen zum Stehen. Bei zwei weiteren Aufgaben soll eine Position 60 Sekunden lang gehalten werden. Jede Aufgabe wird fünfstufig bewertet. "Für die Validierungsstudie wurden im Geriatriezentrum am Krankenhaus Rotes Kreuz Lübeck 80 Patienten untersucht. Aktuell werten wir die Daten aus", sagte Krupp. "Erste Ergebnisse zeigen, dass wir mit der LSBM ein standardisiertes, verlässliches Instrument zur Mobilitätserhebung entwickelt haben. Wir hoffen, damit die Lücke unterhalb des TUG endlich zu schließen."

Geriatrisches Assessment findet zunehmend auch digital statt, erläuterte Prof. Walter Maetzler, Neurogeriater am UKSH-Campus Kiel. Eine Art Pflaster, mit Biosensoren versehen und auf dem Brustkorb unter dem linken Schlüsselbein verklebt, liefert kontinuierlich Informationen über Herz- und Atemfrequenz, Blutdruck oder Körperhaltung, ein digitales Stirnband, das die Schlafqualität analysiert, Armbänder, die Bewegungsdaten aufzeichnen - Geräte dieser Art, sogenannte Wearables, können insbesondere für das geriatrische Krankheitsmanagement von großem Nutzen sein, glaubt Neurologe Maetzler. "Das im medizinischen Kontext am weitesten entwickelte Wearable ist ein subkutanes kontinuierliches Blutzuckermessgerät, das auch als sogenanntes closed loop angewendet wird und für Typ-1-Diabetes zugelassen ist." Geräte dieser Art regulieren den Blutzucker, ohne dass der Nutzer etwas tun muss, etwa indem sie bei Bedarf Insulin ausschütten. "Das ist gerade im geriatrischen Bereich eine ausgesprochen interessante Behandlungsoption. Das Gerät erkennt frühzeitig gefährliche, vor allem nächtliche Hypoglykämien und kann diese mit entsprechender Gegenregulation automatisch verhindern."

Maetzler selbst untersucht mit seinem Team in verschiedenen EU-geförderten Projekten die Praktikabilität digitaler Messgeräte. Bereits vor vier Jahren ging ein multizentrisches Projekt (www.keep-control.eu) an den Start, das Gleichgewichts- und Gangdefizite bei älteren Erwachsenen analysiert. Die beteiligten Wissenschaftler wenden dabei neuartige technische Methoden an, um schon in Frühphasen von Gang- und Gleichgewichtseinschränkungen die entsprechende Diagnose zu stellen. Zusätzlich führen sie in Kooperation mit anderen Universitäten Therapiestudien mit sturzgefährdeten Personen im höheren Alter durch. Ein ungewöhnliches Beispiel hierfür ist eine in Wien durchgeführte Untersuchung, die Belege liefert, dass Sportklettern das Gleichgewicht bei Parkinsonpatienten mit leicht bis mäßig ausgeprägten Krankheitssymptomen verbessern kann (https://doi.org/10.1038/s41531-021-00193-8).

In einem weiteren Projekt (www.idea-fast.eu) mit 46 Partnern aus 14 europäischen Ländern wollen die Kieler Wissenschaftler mit digitaler Technik die Intensität belastender Begleitsymptome chronischer Krankheiten messbar machen. Zu diesen Begleitsymptomen zählen Schlafstörungen und Fatigue, eine häufige und quälende Form von Müdigkeit und Antriebslosigkeit. "In klinischen Studien werden diese Krankheitsfolgen bei der Beurteilung des Therapieerfolgs nur am Rande berücksichtigt", beklagte Maetzler. Denn bislang fehlen praktikable Methoden, um sie zuverlässig und objektiv messen zu können. Fragebogenbasierte Ansätze sind oft ungenau und stark von der Tagesform abhängig. Diese diagnostische Lücke wollen die Wissenschaftler in dem internationalen Forschungsprojekt schließen.

Ziel ist es, digitale Endpunkte zu identifizieren, mit denen Fatigue, Schlaf und Aktivitäten des täglichen Lebens bei verschiedenen neurodegenerativen und entzündlichen Erkrankungen beurteilt werden können. Hierfür werden tragbare Sensoren getestet, die kontinuierlich Daten im Alltag sammeln. "Wir glauben, dass es wesentlich relevanter ist, die Symptomatik im häuslichen Umfeld zu messen als in der Klinik oder in der Arztpraxis", sagte Maetzler. Im Fokus des Projekts stehen etwa das idiopathische Parkinsonsyndrom, die Huntington-Krankheit und rheumatoide Arthritis sowie chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. "Symptome wie Erschöpfung und Schlafstörungen beobachten wir über neurologische und internistische Erkrankungen hinweg", so Maetzler. "Jetzt wollen wir prüfen, ob das Symptom Fatigue bei den verschiedenen Erkrankungen technisch ähnlich gemessen werden kann."

Tragbare Sensoren etwa in Smartwatches oder Fitnessarmbändern bieten sich hierfür an, auch die Nachtschlafaktivität des Gehirns lässt sich mit digitaler Technik erfassen. Welche Sensoren tatsächlich geeignet sind, die belastende Symptomatik abzubilden, soll in der ersten Projektphase getestet werden. "Es wird wahrscheinlich eine Kombination aus verschiedenen Informationen sein, die wir zusammentragen", sagte Assistenzärztin Hanna Hildesheim aus der Kieler Arbeitsgruppe. Zum Beispiel könne es sinnvoll sein, Informationen zur Tagesaktivität und Gangqualität mit Hirnstromableitungen in der Nacht zu kombinieren, so Hildesheim.

Aktuell sind 141 Patienten in die Studie eingeschlossen, erste Auswertungen laufen. Diese zeigen, dass mit digitalen Endgeräten, die Kognition und Motorik erfassen, offensichtlich Aspekte von Fatigue detektiert werden können. "Wenn sich diese Daten bestätigen, ist davon auszugehen, dass wir bald digitale Parameter haben, die relativ unabhängig ein bis dato schwer erfassbares Symptom tatsächlich erfassen können", so Maetzler. Solche digitalen Endpunkte können die Effizienz klinischer Studien verbessern und den Zeit- und Kostenaufwand für die Einführung neuer Therapien reduzieren.

Stürze sind die Hauptursache für Verletzungen und verletzungsbedingte Todesfälle bei älteren Menschen - maßgeblichen Anteil daran haben nach Meinung vieler Experten auch Nebenwirkungen bestimmter Medikamente: Rund 90 Prozent aller Sturzpatienten nehmen sogenannte Fall risk increasing drugs, kurz FRIDs, ein, die zum Beispiel zur Behandlung von kardiovaskulären Erkrankungen oder Depressionen verschrieben wurden. Die Gründe dafür, warum FRIDs im klinischen Alltag dennoch zu selten abgesetzt beziehungsweise ihre Einnahme nicht modifiziert wird, sind vielfältig. Unter anderem fehlt es an Leitlinien zu diesem Thema und Medikamentennebenwirkungen sind sehr individuell.

Klare und strukturierte Guidelines und Vorhersagemodelle für den klinischen Alltag zu schaffen, die sturzgefährdete, ältere Menschen identifizieren helfen und individuelle Sturzprophylaxe ermöglichen - das ist das Forschungsziel einer europaweiten Arbeitsgruppe um Prof. Nathalie van der Velde, Geriaterin am Amsterdam University Medical Center. Sie haben ein Tool (STOPPFalls, https://doi.org/10.1093/ageing/afaa249) entwickelt und während des Kongresses vorgestellt, das Geriatern im Alltag eine Entscheidungshilfe zur Medikation von Patienten bieten soll. STOPPFalls beinhaltet eine Liste von 14 FRIDs, darunter vor allem psychotrope und kardiovaskuläre Medikamente. Außerdem wurden 18 pharmakologische Unterklassen in Bezug auf sturzrisikoerhöhende Eigenschaften identifiziert.

Um all diese Informationen anwendbar für den Geriateralltag zu machen, haben die Wissenschaftler sie in Übersichtstabellen zusammengefasst, die mithilfe von Entscheidungsbäumen pro Medikamentengruppe leicht interpretierbar sind. "Dieses Tool hilft dabei, ganz individuell bei einem Patienten oder einer Patientin abwägen zu können, ob ein bestimmtes Medikament abgesetzt werden soll oder nicht. Es geht also darum, im Hinblick auf die Sturzprophylaxe die sichersten Medikamente zu wählen", so van der Velde. Zum Beispiel listet das Tool für alle Medikamentengruppen auf, welche Symptome das Absetzen veranlassen sollten, und auch, welche Symptome nach dem Absetzen überwacht werden müssen. Die Auflistung von entsprechenden Leitlinien, evidenzbasierten Empfehlungen und Literaturangaben untermauert die Aussagen des Tools.

In eine ähnliche Richtung gehen die Untersuchungen der Kieler Forscher, die beim Kongress eigene Ergebnisse zum Einfluss kardiovaskulärer Medikamente auf Gang und Gleichgewicht älterer Patienten vorgestellt haben. Konkret wurde die Wirkung von Betablockern auf spezifische Mobilitätsbereiche wie den Transfer vom Sitz in den Stand untersucht. "Dieser Transfer gehört zu den essenziellen Bewegungsabläufen des täglichen Lebens. Transferschwierigkeiten sind mit einem erhöhten Sturzrisiko und daraus resultierenden Verletzungen assoziiert", sagte Dr. Philipp Bergmann, Geriater am UKSH-Campus Kiel.

Untersucht wurden 24 ältere Patienten zu Beginn und vor Abschluss einer frührehabilitativen geriatrischen Komplexbehandlung. Bei der Mobilitätsmessung kam auch hier eine tragbare Sensortechnik zum Einsatz. Die Messungen ergaben, dass die Transfergeschwindigkeit vom Sitz in den Stand bei akut geriatrisch erkrankten Patienten unter Betablockertherapie deutlich reduziert ist. "Durch derartige Analysen können wir individuellere Beratungen bei unseren geriatrischen Patienten durchführen, bevor sie überhaupt diese oder ähnliche Medikamente bekommen", bilanzierte Bergmann. "Und wir können mit den neuen digitalen Möglichkeiten die Effekte wie auch die Neben- und Wechselwirkungen besser und auch kontinuierlich beobachten. Es ist erfreulich, dass wir als Geriater und Neurogeriater durch Implementierung modernster Technologie möglicherweise bald helfen können, neue Standards auch im Verschreiben von Medikamenten zu setzen."

Geriatrie ist komplex und erfordert eine fachübergreifende Behandlung, konstatierte Prof. Ulrich Liener aus Stuttgart während des Kongresses. Als Blaupause könne hier die Alterstraumatologie fungieren. Angesichts von rund 800.000 osteoporotischen Verletzungen und 170.000 hüftgelenknahen Frakturen bei vornehmlich älteren Menschen im vergangenen Jahr sei eine enge Zusammenarbeit von Unfallchirurgen und Geriatern zwingend notwendig. Um die Funktionsfähigkeit der Patienten wiederherzustellen und gleichzeitig die Reintegration ins soziale Umfeld zu ermöglichen, müsse über Abteilungs- und Berufsgrenzen hinausgedacht und gehandelt werden, so Liener: Unfallchirurgische und geriatrische Ärzte, Pflegekräfte, Sozialdienstmitarbeiter sowie Physiotherapeuten müssten dafür an einem Strang ziehen - mit niedrigschwelliger Kommunikation auf Augenhöhe gemeinsam im Team. Diese interprofessionelle Zusammenarbeit sei richtungsweisend dafür, wie in den kommenden Jahrzehnten die zunehmend multimorbiden älteren Patienten grundsätzlich im Gesundheitssystem versorgt werden sollten.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Interview mit Sonja Krupp, der wissenschaftlichen Leiterin der Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck (FGL)
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GERIATRIE/314: Die Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck - "Geriatriezentrum ein ideales Forschungsareal" (SHÄB)

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2021
74. Jahrgang, Seite 10-12
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 26. Oktober 2021

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