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NEUROLOGIE/2068: Digitale Epilepsieberatung Nord - PD Dr. Nils Margraf im Gespräch (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 12, Dezember 2022

Schleswig-Holstein schließt eine Beratungslücke

Dirk Schnack sprach mit PD Dr. Nils Margraf, Leiter des Epilepsiezentrums Kiel für Erwachsene an der UKSH-Klinik für Neurologie


EPILEPSIE. Seit August 2022 gibt es die Digitale Epilepsieberatung Nord. Das maßgeblich vom Versorgungssicherungsfonds des Landes Schleswig-Holstein und anteilig aus der Industrie unterstützte Projekt soll dazu beitragen, die bestehende Informations- und Beratungslücke im Land zu diesem Thema zu verringern. Es wendet sich an Betroffene und Angehörige, aber auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die Patienten mit Epilepsie in ihren Praxen behandeln. PD Dr. Nils Margraf, Leiter des Epilepsiezentrums Kiel für Erwachsene an der UKSH-Klinik für Neurologie, erläutert im Interview mit Dirk Schnack, wie das neue Angebot helfen kann.


An wen richtet sich die Digitale Epilepsieberatung?

PD Dr. Nils Margraf: Jede und jeder mit einem Anliegen zum Thema Epilepsie kann sich an die Beratung wenden - nicht nur Patienten oder Angehörige. Es werden auch Fragen aus Berufsgruppen, die mit dem Thema zu tun haben, von uns beantwortet. Die Beratung ist kostenlos und ohne weitere Bedingungen, wie etwa Überweisung, möglich.


Wie ist der Zugangsweg?

Margraf: Über www.digitale-epilepsieberatung-nord.de. Wir haben das als Rückschluss aus der Pandemie rein digital eingerichtet. Neben der Beratung haben wir auch ein digitales Epilepsie-Schulungsprogramm entwickelt.


Wer ist wir?

Margraf: Wir sind ein Gemeinschaftsprojekt der Klinik für Neurologie am UKSH und des DRK-Norddeutschen Epilepsiezentrums für Kinder und Jugendliche in Schwentinental. Damit haben wir auch die Neuropädiatrie im Boot. Unser Anliegen ist es, u. a. mit den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen stärker ins Gespräch zu kommen. Wir bieten ihnen zum Beispiel gemeinsame Fallkonferenzen über therapieschwierige Patienten mit Epilepsie oder über Patienten mit schwieriger Diagnose an.


In Schleswig-Holstein gibt es rund 35.000 Betroffene, von denen rund ein Drittel als "therapieschwierig" gelten. Warum gibt es ein solches Angebot nicht längst?

Margraf: Tatsächlich ist das Beratungsangebot in Norddeutschland im Vergleich zu anderen Regionen extrem dünn. Wir haben eine schwache Infrastruktur für diese Erkrankung, u. a. haben wir auch nur sehr wenige Selbsthilfegruppen. Es gibt aber auch kein Landesverband, keine Geschäftsstelle - die Betroffenen sind weitgehend auf sich allein gestellt. Unser Ziel ist es deshalb, zur anerkannten Beratungsstelle der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie zu werden. Davon gibt es bei uns im Norden noch keine.


Damit gehen Sie in eine Mittlerrolle zwischen Patienten und Behandler. Wäre das nicht Aufgabe anderer Akteure?

Margraf: Vielleicht. Das stand für uns aber nicht im Vordergrund. Unsere Klinik ist das einzige Epilepsiezentrum in Schleswig-Holstein für Erwachsene und wir spüren die Beratungslücke. Wir hatten das Gefühl, dass etwas dagegen getan werden müsste und haben uns an das Ministerium gewandt. Das hat uns darin bestärkt, die Zusammenarbeit mit dem DRK-Norddeutschen Epilepsiezentrum für Kinder und Jugendliche und mit den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen zu intensivieren. Uns ist außerdem wichtig, dass die Patientinnen und Patienten über die Beratung besser aufgeklärt und stärker eingebunden werden können. Wir sehen ihre Einbindung als Teil des Behandlungsteams.

"Insbesondere junge Betroffene haben noch nicht das Bewusstsein dafür entwickelt, wie sie mit der Erkrankung umgehen können."
PD Dr. Nils Margraf

Welche Wissenslücken entdecken Sie in der Beratung?

Margraf: Wir bemerken eine oft geringe Therapietreue, weil es an Wissen mangelt. Viele glauben, Medikamente könnten die Epilepsie heilen und wissen nicht, dass Epilepsie das Potenzial hat, tödlich zu sein. Sie wissen nichts über die Entstehung ihrer Erkrankung oder über das vorhandene Behandlungsspektrum. Insbesondere junge Betroffene haben häufig noch nicht ausreichend das Bewusstsein dafür entwickelt, wie sie mit der Erkrankung umgehen können. Daraus resultieren oft Verhaltensweisen, die man als Behandler kritisch sieht.


Ist es nicht Sache der Betroffenen selbst, wie verantwortungsvoll sie damit umgehen?

Margraf: Doch, das sehe ich auch so. Ich kann auch mit jeder Entscheidung eines Patienten leben, wenn ich nur weiß, dass er diese Entscheidung getroffen hat, nachdem er umfassend informiert wurde. Nach meiner Wahrnehmung verhalten sich viele Betroffene aber aus Unwissenheit und wegen fehlender Aufklärung falsch oder fahrlässig. Hinzu kommt, dass auch in ihrer persönlichen Umgebung kaum jemand etwas über die Erkrankung weiß. Diese Lücken führen zum Beispiel dazu, dass sie nicht mehr zu den Betroffenen ins Auto steigen wollen oder sich wundern, dass junge Frauen mit Epilepsie ein Kind bekommen. Mit Informationen könnten wir auch zu einer Entstigmatisierung beitragen.


Wie offensiv gehen die Betroffenen selbst mit der Erkrankung um, weiß die Umgebung immer davon?

Margraf: Leider herrscht oft Intransparenz, häufig aus Scham. Für die Betroffenen ist insbesondere der damit verbundene Kontrollverlust nicht zu ertragen. Niemand möchte zuckend und mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden liegen und sich dabei einnässen. Wem das einmal passiert, der geht aus Angst, dass das noch einmal passieren könnte, kaum noch aus dem Haus. Mit guter medikamentöser Einstellung, gründlicher Aufklärung und entsprechender Adhärenz können solche Selbstbeschränkungen korrigiert werden. Medikamente wirken wie ein Schutzschild dagegen. Häufig machen wir den Fehler, Epilepsie nur auf solche starken Anfälle zu reduzieren. Dabei sind die Erscheinungsformen sehr vielfältig und tragen trotzdem zu den vielen Einschränkungen dieser Erkrankung bei.


Wen erreichen die Ratsuchenden bei Ihnen, wer berät sie?

Margraf: Drei Sozialarbeiterinnen, alles studierte Sozialpädagoginnen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen. Sie wurden und werden speziell für dieses Projekt geschult. Sie arbeiten eng mit unseren Ärztinnen und Ärzten zusammen. Wir möchten Mut machen und dazu beitragen, sich mit Epilepsie auseinanderzusetzen. Damit wäre den Betroffenen am meisten geholfen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 12, Dezember 2022
75. Jahrgang, Seite 26-27
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 3. Januar 2023

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