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PSYCHOSOMATIK/174: Forschung - Was wir sehen, beeinflusst, was wir fühlen (Uni Bochum)


Ruhr-Universität Bochum - 25. Februar 2020

PSYCHOSOMATIK
Was wir sehen, beeinflusst, was wir fühlen
Warum der Rücken weniger schmerzt, wenn wir ihn ansehen.


Wer Rückenschmerzen hat, der fühlt sich oft stark beeinträchtigt. Wenn der Schmerz chronisch ist, also länger als sechs Monate andauert, belastet er auf Dauer das ganze Leben, bestimmt den Alltag, hindert Patienten daran, zu arbeiten oder an sozialen Aktivitäten teilzunehmen. "Die Betroffenen kennen ihren Schmerz gut", sagt Prof. Dr. Martin Diers von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am LWL-Universitätsklinikum der RUB. "Sie können zum Beispiel genau sagen, wann im Laufe des Tages der Schmerz auftrat oder wie er sich anfühlt. Was sie aber schlecht eingrenzen können, ist der genaue Ort, an dem der Schmerz sich befindet." Manche Schmerzpatientinnen und -patienten lassen sogar beim Zeichnen ihres Körperumrisses an der entsprechenden Stelle eine Lücke.

Niemand weiß, wie der eigene Rücken genau aussieht

Diers und seine Kolleginnen und Kollegen wollten wissen, wie sich der Schmerz verändert, wenn die Betroffenen hinschauen. "Wir wissen nicht, wie der eigene Rücken genau aussieht, weil wir ihn nicht direkt sehen können", erklärt Martin Diers. Diesem Problem widmete er mehrere Studien sowohl mit Schmerzpatienten als auch mit Kontrollprobanden ohne Rückenschmerzen. Dabei kam jeweils eine Videokamera zum Einsatz, die hinter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern platziert war und das Bild ihres Rückens in Echtzeit auf einen Monitor übertragen konnte, vor dem die Personen saßen oder den sie im Liegen sehen konnten. Die Stärke des Schmerzes wird dabei gemessen, indem die Probanden sie auf einer Skala von null bis zehn selbst einschätzen.

Wir konnten zeigen, dass das alleinige Betrachten des Echtzeitvideos des eigenen Rückens nach einer Minute die Intensität des Schmerzes bei Patientinnen und Patienten mit chronischem Rückenschmerz senkt", fasst Martin Diers zusammen. Sahen die Patienten statt ihres eigenen Videos das eines anderen Patienten oder ein unbewegtes Bild oder ein Buch, veränderte sich die Intensität des Schmerzes nicht.

Die Auflösung visueller Informationen ist größer

In einer weiteren Untersuchung gaben die Forscher den Probanden einen schmerzhaften Reiz auf den Rücken, zum Beispiel einen elektrischen Reiz oder einen starken Druckreiz. Mal konnten die Personen ihren Rücken dabei auf dem Monitor sehen, mal nicht. "Wenn sie ihren Rücken während des Schmerzreizes gesehen hatten, gaben sie eine geringere Schmerzintensität an, als wenn sie währenddessen auf ihre Hand schauten, obwohl der Reiz am Rücken genau gleich stark gewesen war", berichtet Martin Diers.

"Schmerzreize werden von bestimmten Nervenzellen in der Haut registriert, ins Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet", erläutert der Psychologe. "Dieses System hat nur eine ziemlich grobe Auflösung." Zusammen mit der visuellen Information werden die Reize viel höher aufgelöst wahrgenommen. Das hilft bei der Eingrenzung des schmerzenden Bereichs: Wir können die Quelle des Schmerzes also räumlich viel spezifischer einordnen.

"Wir konnten zeigen, dass die Massage im Vergleich deutlich wirksamer war, wenn die Patienten dabei zuschauen konnten." (Martin Diers)  

Die Schmerzspezialisten setzen daher auch bei der Behandlung auf die sogenannte multisensorische Integration bei der Wahrnehmung von Sinnesreizen, an der mehrere Eingangskanäle für Reize beteiligt sind. In diesen Studien untersuchten sie die Wirksamkeit verschiedener Therapien auf chronische Schmerzen mit und ohne die Möglichkeit, den behandelten Bereich des Körpers dabei zu sehen. So zeigten sie Patientinnen und Patienten während einer Massage der schmerzenden Körperregion entweder das Echtzeitvideo der Behandlung oder Aufnahmen einer Massage bei einer anderen Person, ein Standbild des eigenen Rückens beziehungsweise von einem Buch, oder sie baten sie, die Augen geschlossen zu halten.

"Wir konnten so zeigen, dass die Massage im Vergleich deutlich wirksamer war, wenn die Patienten dabei zuschauen konnten", fasst Martin Diers zusammen. "Dasselbe galt für die manuelle Therapie, eine physiotherapeutische Behandlung, bei der es unter anderem um Mobilisation geht." Diers plädiert deswegen dafür, solche multisensorischen Prozesse in die Therapie zu integrieren.

Die Illusion der dritten Hand

Wie bedeutend visuelle Informationen für die Wahrnehmung des eigenen Körpers sind, belegen auch andere Studien eindrucksvoll, vor allem Arbeiten über das Phänomen der Gummihandillusion. Dabei legen Versuchspersonen ihre eine Hand in ihr Blickfeld, die andere hinter eine undurchsichtige Wand. Zwischen die beiden Hände wird eine Gummihand platziert, sodass die Versuchsperson eine eigene und die Gummihand so sieht wie normalerweise die eigenen beiden Hände.

Berührt man nun die versteckte echte und die Gummihand gleichzeitig, zum Beispiel mit einem Pinsel, erscheint die Gummihand der Versuchsperson als zum eigenen Körper dazugehörig. Diers und sein Team konnten zeigen, dass auch Licht- und Temperaturreize die Gummihandillusion hervorrufen können. Dabei legten die Personen die versteckte Hand auf eine Fläche, deren Temperatur einstellbar war. Unter der Gummihand befand sich ein Loch in der Tischplatte, durch das rotes Licht auf die Hand projiziert werden konnte.

Geteilter Schmerz ist geringerer Schmerz

Wurde die versteckte Hand erwärmt und die Gummihand synchron rot angeleuchtet, war die Gummihandillusion stärker ausgeprägt, als wenn Erwärmung und Licht asynchron dargeboten wurden. "Noch interessanter ist aber, dass bei der Erwärmung der versteckten Hand bis in den schmerzhaften Temperaturbereich der Schmerz weniger stark wahrgenommen wurde, wenn die Gummihandillusion bestand, als wenn sie nicht bestand", erklärt Martin Diers. "Diese Erkenntnisse könnten uns künftig bei der Behandlung von chronischen Schmerzen nützlich sein."

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Bei Spritzen hinschauen?

Wer den schmerzhaften Körperbereich anschaut, fühlt weniger Schmerz und hat einen größeren Erfolg von Therapiemaßnahmen. Das heißt aber nicht unbedingt, dass man hinschauen sollte, wenn man eine Spritze bekommt. "Kollegen fanden in einer Studie heraus, dass es in diesem Fall umgekehrt ist: Wer das Bild einer Injektion sieht, empfindet einen gleichzeitig dargebotenen, schmerzhaften Reiz als unangenehmer", sagt Martin Diers.
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Weitere Informationen finden Sie unter
https://news.rub.de/wissenschaft/2020-02-19-psychosomatik-was-wir-sehen-beeinflusst-was-wir-fuehlen - Beitrag mit Fotos zum Herunterladen

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Quelle:
Ruhr-Universität Bochum
Pressemitteilung vom 25. Februar 2020
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2020

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