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ONKOLOGIE/1062: Interview - Ist alternative Medizin in der Onkologie harmlos? (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2010

Ist alternative Medizin in der Onkologie harmlos?

Gespräch mit dem Hamburger Onkologen Prof. Dr. Ulrich R. Kleeberg, der sich mit der Überprüfung komplementärer und alternativer Heilverfahren beschäftigt.

Von Judith Eick


Herr Prof. Kleeberg, seit wann beschäftigen Sie sich mit komplementärer und alternativer Medizin? Was war ausschlaggebend?

Kleeberg: Ersten Kontakt mit komplementärer Medizin hatte ich schon während meines Studiums in den 1960er Jahren. Ich war damals Famulus, dann Assistent in der II. Medizinischen Klinik des UKE bei Prof. Dr. Arthur Jores, einem der Begründer der psychosomatischen Medizin. Danach wechselte ich an das Uniklinikum Ulm zu Prof. Dr. Thure von Uexküll, einem der Begründer der modernen Psychologie. Hier kam mein Interesse an den psychologischen Komponenten des Krankseins hinzu. Seit 1976 wieder in Hamburg, habe ich eng mit Prof. Dr. Margit von Kerekjarto zusammengearbeitet, viele Forschungsprojekte realisiert - und dabei von Anfang an und sehr bewusst die Grenze zur Esoterik beachtet. Das führte dann zu internationalen Studien über die Wirksamkeit von Alternativmedizin in der Onkologie, so z. B. zu einer Studie zur Misteltherapie beim Melanom.

Eigentlich wider Willen wurde ich dann von der Deutschen Krebsgesellschaft mit Aufgaben zur Bewertung von KAM (Komplementär- und Alternativmedizin) beauftragt und jüngst zum Gründungsvorsitzenden einer neuen wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft für Prävention und Integrative Medizin der DKG gewählt.

Warum ist dies unter Onkologen eher eine Ausnahme?

Kleeberg: Für jeden Naturwissenschaftler ist KAM ein Ärgernis. Man möchte sich nicht mit Unsinn befassen. Nach jüngeren Erhebungen ziehen aber ca. 80 Prozent der Deutschen KAM, also ungeprüfte Verfahren, zur Gesundung heran. Darum sehe ich es als Aufgabe der Naturwissenschaften an, komplementäre und alternative Heilverfahren auf ihren Wert hin zu überprüfen. Damit müssen wir also die Arbeit der Heilsapostel übernehmen, die dazu offensichtlich nicht in der Lage oder nicht willens sind - sicher aus pekuniären Gründen.

Die Erfolge der wissenschaftlich begründeten Krebstherapien sind der breiten Öffentlichkeit offensichtlich schwer zu vermitteln. Woran liegt das? Und warum ist das Interesse an alternativen Heilverfahren bei Krebspatienten so auffällig groß?

Kleeberg: Meine Kollegin Dr. Jutta Hübner hat dies kürzlich in einem Artikel anschaulich dargelegt: Der wissenschaftlichen Medizin gelingt es nicht ausreichend und nachhaltig genug zu vermitteln, dass der individuelle Patient als Mensch im Mittelpunkt des Bemühens steht. Und dass es auch in der modernen Onkologie um die Verbesserung von Lebensqualität geht, neben der Sicherung des Überlebens. Dieses Informationsmanko ist ein Auftrag, unter anderem auch für die Medien, denn die aktuellen Erfolge der Onkologie liegen genau dort, im Bereich der Lebensqualität unserer Patienten.

Krebspatienten sind in einer emotional extrem schwierigen Situation. Die Frage nach dem "Warum" bzw. "Warum ich?" lässt sich nicht eindeutig beantworten. Das Gefühl, keine Kontrolle zu haben über das, was in mir und mit mir geschieht, ist besonders groß. Deshalb werden so gerne die kausalen Konzepte herangezogen, wie das der "Krebspersönlichkeit" oder des immunologischen Versagens.

"Darum sehe ich es als Aufgabe der Naturwissenschaften an, komplementäre und alternative Heilverfahren auf ihren Wert hin zu überprüfen. Damit müssen wir also die Arbeit der Heilsapostel übernehmen, die dazu offensichtlich nicht in der Lage oder nicht Willens sind - sicher aus pekuniären Gründen."

[Anm. d. Red.: Artikel FAZ v. 30.12.2009, "Alternative Heilverfahren versus Schulmedizin". Dr. Jutta Hübner leitet seit November 2009 den Bereich Palliativmedizin, supportive und komplementäre Onkologie des UCT (Universitäres Centrum für Tumorerkrankungen) des Klinikums der J. W. Goethe-Universität Frankfurt.]

Wie beurteilen Sie den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen die Kostenübernahme für ärztlich angewendete Behandlungen zuzusagen, wenn keine allgemein anerkannte und den medizinischen Standards entsprechende Behandlung mehr zur Verfügung steht?

Kleeberg: Dieses Urteil hat zwei Seiten: Die positive erlaubt uns, Medikamente, die noch nicht für die Erstattung der Krankenkassen zugelassen sind, deren Wirkung aber wissenschaftlich gesichert ist, zum Nutzen der Krebskranken dann einzusetzen, wenn die Standardverfahren erschöpft sind oder unwirksam waren. Das sind vor allem die neuen sogenannten Signaltransduktionshemmer oder monoklonalen Antikörper, extrem teuer aber für eine streng selektierte kleine Gruppe von Krebskranken unter Umständen segensreich.

Die negative Seite: Diese vom Bundestag schon 1994 erlassene Regel erlaubt es nun auch Quacksalbern, ihre Produkte ungeprüft zu vermarkten. Dieser Markt ist groß. So wird nach älteren Zahlen (2006) für die gesamte ambulante medikamentöse Tumortherapie jährlich ca. eine Milliarde Euro zulasten der Krankenkassen ausgegeben, aber 4,5 Milliarden Euro für Medikamente mit umstrittener Wirksamkeit. Das BVG-Urteil vom 6.12.2006, das sogenannte "Nikolaus-Urteil", hat den Beschluss des Bundestags nochmal spezifiziert.

Welche Ziele wird die Arbeitsgemeinschaft für Prävention und integrative Medizin der DKG verfolgen?

Kleeberg: Es geht der AG darum, Behauptungen von Außenseitern, religiösen oder esoterischen Gruppen zu überprüfen und nützliche komplementäre Medikamente und Verfahren zu finden. Dazu wird dann zum Beispiel in randomisierten, doppelblinden Studien der Wert von Selen, Ingwer, Vitaminen, Thymus, Mistelextrakten etc. geprüft. Und dies alles ohne die sonst übliche Unterstützung der Pharmaindustrie - die dazu natürlich nicht bereit ist. Sie liefen ja Gefahr, ihre Verdienstquellen zu kompromittieren.

Gibt es eine systematische, unabhängige Forschung zu KAM?

Kleeberg: Ja, vereinzelt. So zum Beispiel meine o.g. Studie zur adjuvanten Therapie bei Melanompatienten oder auch bei Kopf-Hals-Karzinomen. Dagegen gibt es Abertausende Pseudostudien der Unternehmen oder ihrer Verfechter, die vorgeben, die Wirksamkeit zu belegen.

"Der Hang zum Esoterischen scheint ein deutscher Nationalzug zu sein übrigens dokumentiert seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. KAM ist ein typisch deutsches Phänomen und Problem. Romanen und Angloamerikaner sind da sehr viel nüchterner."

Lassen Sie uns einen Blick über Deutschland hinaus werfen: Wie stehen die European Society for Medical Oncology (ESMO) und die American Society of Clinical Oncology (ASCO) zu KAM? Gibt es wesentliche Unterschiede zu Deutschland?

Kleeberg: Der Hang zum Esoterischen scheint ein deutscher Nationalzug zu sein - übrigens dokumentiert seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. KAM ist ein typisch deutsches Phänomen und Problem. Im romanischen und angloamerikanischen Raum ist man da sehr viel nüchterner. International und in den von Ihnen genannten Gesellschaften spielt KAM so gut wie keine Rolle.

Wie lautet Ihr Rat an die Kollegen für den Umgang mit KAM bzw. mit Patienten, die KAM einnehmen?

Kleeberg: Zunächst gilt es, die Onkologen auf die Notwendigkeit hinzuweisen, ihre Patienten nach der (oft heimlichen) Einnahme von KAM zu befragen. Studien zeigen, dass 2/3 der Onkologen dies nicht tun und damit ihre Patienten durch mögliche Arzneimittel-Interaktionen gefährden. Denn viele der Phytotherapeutika und sogenannten Antioxidantien sind stoffwechselaktiv und verstärken oder mindern den Effekt tumorwirksamer Medikamente.


Zur Person

Prof. Dr. Ulrich R. Kleeberg (* 1938) ist Hämatologe und internistischer Onkologe mit Praxis in Hamburg-Altona. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen und wurde jüngst zum Gründungsvorsitzenden der wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft für Prävention und integrative Medizin der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. (DKG) gewählt.


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201002/h10024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Februar 2010
63. Jahrgang, Seite 32 - 33
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2010