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REPRODUKTIONSMEDIZIN/127: Schweiz - Fakten und Argumente zur Präimplantationsdiagnostik (SAMW)


Newsletter der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)
Donnerstag, 17. März 2011

Fakten und Argumente zur Präimplantationsdiagnostik


In der Schweiz bestehen schon lange Bestrebungen, das Verbot der Präimplantationsdiagnostik zu lockern. Ein erster Revisionsvorschlag 2009 wurde allerdings in der Vernehmlassung mehrheitlich als zu restriktiv beurteilt. Der Bundesrat plant, im Frühsommer 2011 die Vorlage für eine Verfassungsrevision und einen zweiten Entwurf zur Änderung des Fortpflanzungsmedizingesetzes zu veröffentlichen. Die SAMW hat im Hinblick darauf die aus ihrer Sicht relevanten Fakten und Argumente zum Thema Fortpflanzungsmedizin und Präimplantationsdiagnostik in einem Factsheet zusammengestellt; dieses wurde am 16. März 2011 der Parlamentarischen Gruppe "Gesundheit" vorgestellt.

Anmerkung der Redaktion Schattenblick:
Das mit freundlicher Genehmigung im folgenden im Schattenblick dokumentierte Factsheet ist auf der SAMW-Website abrufbar unter:
http://www.samw.ch/de/Publikationen/Factsheets.html


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Factsheet der SAMW zuhanden der Parlamentarischen Gruppe «Gesundheit», März 2011


FORTPFLANZUNGSMEDIZIN UND PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK

Fakten und Argumente

FAKTEN

In-vitro-Fertilisation (IVF) ist eine etablierte Therapie bei Unfruchtbarkeit

Unfruchtbarkeit ist häufiger als man denkt: 10 bis 15 Prozent aller Paare gelten in der Schweiz als unfruchtbar. Für diese Paare ist eine künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF) meist die einzige Chance, ein Kind zu bekommen. Heute werden in der Schweiz jedes Jahr ungefähr 1800 Kinder geboren, die mit Hilfe der IVF-Technik gezeugt wurden. Das entspricht etwa 2,4 Prozent aller Geburten - Tendenz steigend (Quelle BfS). Diese Zahl wiederum ist im europäischen Vergleich relativ tief, was unter anderem auf die restriktive Gesetzeslage in der Schweiz zurückzuführen ist und auf die Tatsache, dass die Paare einen Grossteil der Kosten selbst übernehmen müssen.


Wie funktioniert die Präimplantationsdiagnostik (PID)?

Unter dem Begriff PID werden verschiedene Analyseverfahren zusammengefasst, die dazu dienen, einen künstlich befruchteten Embryo zu untersuchen, bevor er in die Gebärmutter übertragen wird. Mit Hilfe der PID können Ärzte feststellen, ob der Embryo schwer erkrankt ist, und die Ergebnisse helfen dem Paar zu entscheiden, ob der Embryo eingepflanzt werden soll oder nicht. Bei der PID wird im Allgemeinen drei Tage nach der Befruchtung eine Zelle vom Embryo abgetrennt, um einen Teil von dessen Erbgut zu analysieren. In gewissen Ländern ist die PID nur für Paare zugelassen, bei denen familiär bedingt eine schwere Erbkrankheit befürchtet werden muss. In anderen Ländern ist die PID für alle Paare zur Abklärung einer schweren, unheilbaren Erbkrankheit zugelassen.


Welches sind die aktuellen rechtlichen Regelungen in der Schweiz?

Die Schweiz hat (gemeinsam mit Deutschland) eines der restriktivsten Fortpflanzungsmedizingesetze in Europa. Techniken, die in vielen europäischen Ländern seit Jahren routinemässig durchgeführt werden, sind hierzulande verboten, so auch die PID. Gemäss Art. 119 Bundesverfassung und Fortpflanzungsmedizingesetz gilt:

• Es dürfen pro Zyklus maximal drei Eizellen befruchtet und weiterentwickelt werden (Dreier-Regel). Alle daraus entstehenden Embryonen müssen in die Gebärmutter der Frau übertragen werden - egal wie gross oder klein die Erfolgschancen sind.

• Die PID ist verboten: Es dürfen keine Zellen vom Embryo abgetrennt werden, was Grundlage für eine PID ist. Embryonen dürfen nicht für einen weiteren Behandlungszyklus aufbewahrt werden.

• Die Samenspende ist zwar erlaubt, die Eizellspende aber verboten.


Welche Auswirkung haben die strengen rechtlichen Regelungen?

Der Zwang, alle entnommenen Eizellen in die Gebärmutter der Frau einpflanzen zu müssen, vergrössert die Zahl an Mehrlingsschwangerschaften. Bei solchen Schwangerschaften ist das Komplikationsund Sterberisiko für Mutter und Kind erhöht (siehe auch Abschnitt «Argumente»).
Weil PID und Eizellspende verboten sind, bleibt vielen Paaren nur die Möglichkeit, sich im Ausland behandeln zu lassen.


Welche Anpassungen im Bereich Reproduktionsmedizin/PID stehen zur Diskussion?

Im Jahre 2009 stand eine Änderung des Fortpflanzungsmedizingesetzes zur Vernehmlassung. Der Bundesrat schlug vor, die PID unter engsten Voraussetzungen zuzulassen. Der Gesetzesvorschlag wurde jedoch in der Vernehmlassung mehrheitlich als zu restriktiv beurteilt; in 78 Prozent der Stellungnahmen wurde die Zulassung der PID in der Schweiz grundsätzlich bejaht.

Gestützt auf diese Ergebnisse entschied der Bundesrat, eine neue Vorlage auszuarbeiten. Künftig soll es möglich sein, nur einen Embryo zu transferieren: den mit den besten Entwicklungschancen. Die anderen dürfen für spätere Transferzyklen aufbewahrt werden (dieses Verfahren ist bekannt als elektiver Single-Embryo-Transfer, eSET). Der Bundesrat möchte aber auch in Zukunft an der Dreier-Regel festhalten: Es dürfen nicht mehr als drei befruchtete Eizellen pro Zyklus weiterentwickelt werden. Nur im Falle einer PID darf von dieser Regel abgewichen werden. Die PID darf nur bei erblich schwer belasteten Paaren durchgeführt werden, nicht aber bei routinemässigen IVF-Behandlungen, so der neue Vorschlag des Bundesrates, der im Frühjahr 2011 in die Vernehmlassung geht. Die anvisierte Gesetzesänderung setzt eine Revision von Art. 119 Bundesverfassung voraus.


ARGUMENTE

Rechtliche Regelungen sollten mit den medizinischen Standards übereinstimmen

Die heutigen medizinischen Standards umfassen vereinfacht ausgedrückt folgende Schritte (Vorgehensweise mit den besten Erfolgsaussichten, d.h. gute Schwangerschaftsraten bei gleichzeitig niedriger Komplikationsrate):

• Der Arzt entnimmt der Frau mehrere Eizellen und befruchtet sie im Reagenzglas.

• Die befruchteten Eizellen werden im Reagenzglas während bis zu fünf Tagen zu einem Embryo weiterentwickelt. In diesen Tagen zeigt sich meist deutlich, welche Embryonen sich gut entwickeln werden und welche nicht. Der Embryo mit den besten Erfolgschancen wird eingepflanzt, die anderen werden eingefroren für eine allfällige weitere Behandlung.

• Wenn eine schwere erbliche Krankheit befürchtet werden muss, wird eine PID durchgeführt. Eine PID kann auch bei Paaren ohne erbliche Vorbelastung durchgeführt werden, um eine Erkrankung des Embryos auszuschliessen.

• Einige Frauen können keine Eizellen mehr produzieren, zum Beispiel aufgrund einer überstandenen Krebserkrankung. Denn die Strahlen- und Chemotherapien, mit denen der Krebs bekämpft wird, führen häufig zu Unfruchtbarkeit. Für diese Frauen ist die Eizellspende die letzte Chance: Ein Familienmitglied oder auch eine unbekannte Person spendet eine Eizelle, die dann befruchtet wird.

Die aktuelle Regelung verunmöglicht das beschriebene Verfahren.


Mehrlingsschwangerschaften sind Risikoschwangerschaften

Der Zwang, alle entnommenen Eizellen in die Gebärmutter der Frau einpflanzen zu müssen, führt zu Mehrlingsschwangerschaften. Bei Mehrlingsschwangerschaften ist das Sterberisiko der Mutter bei der Geburt zwei- bis dreimal erhöht (Quelle: Olivennes F., Human Reproduction, 2000); Zwillinge werden viermal häufiger zu früh geboren, müssen entsprechend viel häufiger auf die Intensivstation.

Durch die Mehrlingsschwangerschaften entstehen bei der Geburt und bei der kurz- und evt. langfristigen Betreuung der frühgeborenen Kinder enorme Mehrkosten. Verschiedene Studien zeigen, dass eine Zwillingsgeburt etwa dreimal teurer ist als eine Einlingsgeburt (Quelle: Connolly et al., Human Reproduction Update, 2010).


Der psychische Druck für Paare mit einer erblichen Vorbelastung ist gross

Wenn ein Paar erblich schwer vorbelastet ist und nicht ins Ausland reist, um eine PID durchzuführen, so bleibt einzig die Hoffnung. Falls innerhalb eines Behandlungszyklus nicht mehr als drei Embryonen entwickelt werden dürfen, sind die Chancen für ein erblich vorbelastetes Paar allerdings gering, einen gesunden Embryo zu finden. Im schlimmsten Fall droht eine Abtreibung, da genetische Untersuchungen in der Gebärmutter (in utero) erlaubt sind.


Der elektive Single-Embryo-Transfer ist eine kostengünstige und effektive Methode

In Ländern, wie z.B. Schweden, in denen der elektive Single-Embryo-Transfer seit einigen Jahren praktiziert wird, ist die Zahl der Mehrlingsschwangerschaften nahezu auf ihren natürlichen Wert zurück gegangen. Im Jahre 2009 waren 5,7 Prozent aller IVF-Schwangerschaften in Schweden Zwillingsschwangerschaften (zum Vergleich: In der Schweiz beträgt dieser Wert 23,1 Prozent). Studien haben zudem gezeigt, dass bei Patienten mit guter Prognose eine durchaus zufriedenstellend Geburtenrate mit eSET erreicht werden kann. Werden befruchtete Eizellen in flüssigem Stickstoff konserviert, so wirkt sich dies laut Studien nicht negativ auf die Geburtenrate aus (Quelle: McLernon D.J et al. BMJ. 2010).


Gesellschaftliche Entwicklungen sind zu berücksichtigen

Das Stimmvolk hat sich mehrmals für Selbstverantwortung in der Fortpflanzungsmedizin ausgesprochen, im Bereich Schwangerschaftsabbruch, aber auch im Bereich IVF: Im Jahre 2000 wurde die Volksinitiative «Für eine menschenwürdige Fortpflanzung», welche effektiv die IVF verbieten wollte, mit über 70 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Das Stammzellforschungsgesetz wiederum, das auf dem Prinzip «Regeln statt Verbote» basiert, wurde deutlich angenommen.


Regeln sind besser als Verbote

Die Vernehmlassung zur ersten Überarbeitung des Fortpflanzungsmedizingesetzes in den Jahren 2009/2010 hat klar gezeigt, dass eine Mehrheit der Befragten ein moderneres Gesetz und die Zulassung der PID für schwere, unheilbare Erkrankungen wünscht. Der Grundsatz «Regeln statt Verbote» soll auch für die Fortpflanzungsmedizin gelten - mit einigen Ausnahmen: Niemand möchte Missbrauch tolerieren, niemand möchte geklonte Menschen, niemand möchte eine PID im Sinne einer Wunschliste, um die Haar- oder Augenfarbe des Kindes auswählen zu können.


Die SAMW hat deshalb folgende Anliegen:

• Es braucht eine rechliche Regelung, die mit den medizinischen Standards übereinstimmt.

• Die PID soll zugelassen werden, wenn eine klare medizinische Indikation dafür besteht (z.B. Verdacht auf Vorliegen einer Erbkrankheit). Die PID soll verboten sein, wenn sie darauf abzielt, Eigenschaften des Embryos zu ermitteln, die dessen Gesundheit nicht beeinträchtigen.

• Es sollten nicht mehr alle Embryonen eingepflanzt werden müssen. Überzählige Embryonen dürfen eingefroren werden für eine weitere Behandlung. Wenn die Embryonen nicht mehr verwendet werden, können sie vernichtet oder der Stammzellforschung zugänglich gemacht werden.

• Die Eizellspende soll analog der Samenspende zugelassen werden.


Relevante rechtliche Bestimmungen:

Bundesverfassung
Art. 119

Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich
1 Der Mensch ist vor Missbräuchen der Fortpflanzungsmedizin und der Gentechnologie geschützt.
2 Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit menschlichem Keim- und Erbgut. Er sorgt dabei für den Schutz der Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Familie und beachtet insbesondere folgende Grundsätze:


a. Alle Arten des Klonens und Eingriffe in das Erbgut menschlicher Keimzellen und Embryonen sind unzulässig.

b. Nichtmenschliches Keim- und Erbgut darf nicht in menschliches Keimgut eingebracht oder mit ihm verschmolzen werden.

c. Die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dürfen nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann, nicht aber um beim Kind bestimmte Eigenschaften herbeizuführen oder um Forschung zu betreiben; die Befruchtung menschlicher Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau ist nur unter den vom Gesetz festgelegten Bedingungen erlaubt; es dürfen nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als ihr sofort eingepflanzt werden können.

d. Die Embryonenspende und alle Arten von Leihmutterschaft sind unzulässig.

e. Mit menschlichem Keimgut und mit Erzeugnissen aus Embryonen darf kein Handel getrieben werden.

f. Das Erbgut einer Person darf nur untersucht, registriert oder offenbart werden, wenn die betroffene Person zustimmt oder das Gesetz es vorschreibt.

g. Jede Person hat Zugang zu den Daten über ihre Abstammung.


Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG
Art. 5

Indikationen

1 Ein Fortpflanzungsverfahren darf nur angewendet werden, wenn:
a. damit die Unfruchtbarkeit eines Paares überwunden werden soll und die anderen Behandlungsmethoden versagt haben oder aussichtslos sind; oder
b. die Gefahr, dass eine schwere, unheilbare Krankheit auf die Nachkommen übertragen wird, anders nicht abgewendet werden kann.

2 Durch die Auswahl von Keimzellen dürfen das Geschlecht oder andere Eigenschaften des zu zeugenden Kindes nur beeinflusst werden, wenn die Gefahr, dass eine schwere, unheilbare Krankheit auf die Nachkommen übertragen wird, anders nicht abgewendet werden kann. Vorbehalten bleibt Artikel 22 Absatz 4.

3 Das Ablösen einer oder mehrerer Zellen von einem Embryo in vitro und deren Untersuchung sind verboten.


Art. 17
Entwicklung von Embryonen

1 Ausserhalb des Körpers der Frau dürfen nur so viele imprägnierte Eizellen zu Embryonen entwickelt werden, als innerhalb eines Zyklus für die Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich sind; es dürfen jedoch höchstens drei sein.

2 Der Embryo darf ausserhalb des Körpers der Frau nur so weit entwickelt werden, als für die Einnistung in der Gebärmutter unerlässlich ist.

3 Das Konservieren von Embryonen ist verboten.


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Quelle:
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)
Petersplatz 13, CH-4051 Basel
Telefon: +41 061 269 90 30, Fax: +41 061 269 90 39
E-Mail: mail@samw.ch
Internet: www.samw.ch

Die SAMW ist Mitglied der Akademien der Wissenschaften Schweiz


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2011