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ARTIKEL/837: Kongress - "Gefährlichster Ort ist das eigene Zuhause" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2018

Kongress
"Gefährlichster Ort ist das eigene Zuhause"

von Uwe Groenewold


Stürze und Knochenbrüche sind oft verantwortlich für Pflegebedürftigkeit. Häufiger Ort für Unfälle ist das eigene Zuhause. Fast 10.000 tödliche Haushaltsunfälle im Jahr.


Stürze und Knochenbrüche im Alter haben häufig weitreichende Konsequenzen und sind maßgeblich für Krankenhausaufenthalte und Pflegebedürftigkeit verantwortlich. Darauf verwiesen Experten der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie beim Jahreskongress der Orthopäden und Unfallchirurgen in Berlin (DKOU 2018).

Mehr als 400.000 Senioren werden pro Jahr nach einem Sturz ins Krankenhaus eingeliefert, insgesamt erleiden über 700.000 betagte Menschen Brüche an Oberschenkeln, Wirbeln oder Armen. "Damit zählen Altersbrüche zu den häufigsten Ursachen für Krankenhauseinweisungen und spätere Pflegebedürftigkeit", sagte Prof. Ulrich Liener, Unfallchirurg im Marienhospital Stuttgart.

Besonders groß ist die Gefahr in den eigenen vier Wänden. Unfälle im Haushalt führen zu beinahe dreimal so vielen Todesopfern wie Verkehrsunfälle. 2015 starben 9.818 Frauen und Männer nach Haushaltsunfällen, im Straßenverkehr im gleichen Zeitraum 3.622 Menschen. Staubsaugen, Fensterputzen und Heimwerken sind unterschätzte Gefahren, wie DKOU-Kongresspräsident Prof. Joachim Windolf aus dem Uniklinikum Düsseldorf erläuterte. Er präsentierte bei dem mit über 10.000 Teilnehmern größten europäischen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie aktuelle vom Robert Koch-Institut (RKI) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) herausgegebene Zahlen. Demzufolge verletzten sich im Erhebungsjahr 2015 insgesamt 3,15 Millionen Menschen im Haushalt, 9.818 Unfälle verliefen tödlich. Die Zahlen steigen seit 2007 kontinuierlich an. Windolf: "Der gefährlichste Ort im Leben ist das eigene Zuhause."

Wackelige Leitern beim Fensterputzen und Stolperfallen wie Teppichkanten und Staubsaugerkabel führen häufig zu Stürzen. Diese seien mit mehr als 80 Prozent die häufigste Ursache tödlicher Haushaltsunfälle, vier von fünf Unfällen gehen auf menschliches Fehlverhalten zurück. Unfallchirurg Windolf: "Insbesondere bei älteren Menschen kann bereits der einfache Stolpersturz zu gravierenden Konsequenzen führen. Reduzierte Sehkraft, herabgesetzte Reflexe und geringere Muskelkraft führen zu erhöhter Sturzgefahr. Vorerkrankungen wie Osteoporose und blutverdünnende Medikamente verstärken dann noch die Unfallfolgen."

Um die Behandlung älterer Patienten zu verbessern, hat die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie nationale Empfehlungen für die optimale Versorgung erarbeitet, die im "Weißbuch Alterstraumatologie" zusammengefasst sind. Eine solche Versorgung sehe die interprofessionelle Behandlung durch Unfallchirurgie, Altersmedizin, Physiotherapie, Sozialdienst und Pflege vor, die aktuellen Studiendaten zufolge zu einer deutlichen Verbesserung der Ergebnisse in Bezug auf die Rückkehr in das alte soziale Umfeld und die Verringerung der Komplikationen und vor allem zur Senkung der Sterblichkeit führt, so Liener. Nur durch eine auf diese Weise strukturierte Versorgung können Patienten rasch operiert, gefährliche Medikamentenkombinationen vermieden und die Delir-Rate gesenkt werden. In Alterstraumazentren werde ein solcher Ansatz umgesetzt. Aktuell seien deutschlandweit fast 80 dieser Alterstraumazentren zertifiziert; über 180 hätten sich bereits zur Zertifizierung angemeldet. Liener: "Wir hoffen, dass auf diese Weise immer mehr alte Menschen nach dem Unfall wieder in ein selbstständiges Leben zurückkehren können."

Zu den Kernthemen des Kongresses, bei dem aus schleswig-holsteinischer Sicht vor allem Experten aus Kiel (unter anderem Prof. Andreas Seekamp, Prof. Sabine Fuchs und Prof. Sebastian Lippross, alle UKSH) vertreten waren, zählte die Digitalisierung in Orthopädie und Unfallchirurgie. "Smarte Implantate, Wearables und Big-Data-Anwendungen haben das Potenzial, unsere therapeutischen Möglichkeiten enorm zu erweitern und sind eine große Chance für die Zukunft", sagte Co-Kongresspräsident Dr. Gerd Rauch aus Kassel. So sei die dreidimensionale Bildrekonstruktion von CT- und MRT-Datensätzen von erheblichem Wert. "Je besser wir die Topografie einer komplexen Fraktur auf den dreidimensionalen Bildern erkennen können, desto vorausschauender kann die Rekonstruktion geplant und durchgeführt werden." Das gelte auch für die Implantation von Gelenkprothesen.

Auch digitale Unterstützungssysteme für die Chirurgie und maßgeschneiderte Implantate aus dem 3D-Drucker seien interessante Entwicklungen für Orthopädie und Unfallchirurgie. Apps und Wearables (kleine, vernetzte Computer, die am Körper getragen werden und zum Beispiel Blutzucker oder Blutdruck messen), die zur Unterstützung konservativer Therapien eingesetzt werden und Patienten während ihrer Rehabilitation begleiten, würden ebenfalls einen festen Platz finden, so Rauch. "Allerdings müssen diese Produkte den noch genau zu definierenden Standards an Sicherheit und Datenschutz genügen und ihren Nutzen belegen."

Insgesamt könnten dank Digitalisierung Doppel- und Mehrfachuntersuchungen vermieden und Therapien besser gesteuert werden; Schnittstellen ließen sich besser organisieren, die Kommunikation zwischen Arzt und Patient vertiefen. Gleichzeitig seien die Umsetzung im medizinischen Alltag, die Finanzierung und die Sicherung persönlicher Patientendaten eine Herausforderung. "Wir als Ärzte sollten deshalb diese dynamische Entwicklung mitgestalten", so das Fazit des niedergelassenen Orthopäden und Unfallchirurgen.

Weiteres wichtiges Thema: mit Implantaten assoziierte Infektionen. Mehr als 100 Vorträge befassten sich während der Kongresstage in Berlin mit der gefürchteten Komplikation. Siedeln sich Keime auf Implantaten wie etwa Kunstgelenken, Metallplatten, Schrauben oder Nägeln an, beeinträchtigt dies das Behandlungsergebnis und erfordert häufig invasive Maßnahmen. Dabei muss das Implantat entfernt und die Eingriffsstelle von Keimen befreit werden. Bei besonders schwerwiegenden bakteriellen Knochenentzündungen ist ein interdisziplinärer Therapieansatz erforderlich. Gemäß aktueller S2-Leitlinie sollte der Operateur in solchen Fällen einen Infektiologen, Mikrobiologen und gegebenenfalls einen plastischen Chirurgen in die Behandlung einbeziehen. Um das Auftreten implantatassoziierter Infektionen zu verhindern, werden heute vielfältige Präventionsmaßnahmen (antimikrobiell beschichtetes Fadenmaterial, antibiotikahaltiger Knochenzement) angewendet.


INFO

Die nationalen Empfehlungen für die optimale Versorgung von älteren Patenten sind im "Weißbuch Alterstraumatologie" zusammengefasst. Sie können auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie www.dgu-online.de heruntergeladen werden.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201812/h18124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
71. Jahrgang, Dezember 2018, Seite 34
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2019

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