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BILDUNG/734: Basiskurs Palliativmedizin - Bericht eines Teilnehmenden (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2011

Akademie-Veranstaltung
Basiskurs Palliativmedizin bietet Übersicht über die Versorgung

Von Dr. Udo Hennighausen


Dr. Udo Hennighausen aus Heide schildert seine Eindrücke vom Basiskurs, der Anfang des Jahres in der Akademie stattfand.


Der diesjährige Basiskurs Palliativmedizin der Akademie für medizinische Fort- und Weiterbildung der Ärztekammer Schleswig-Holstein fand an zwei Wochenenden in Bad Segeberg statt. Es hatten sich 27 Ärzte aus Praxen und Kliniken angemeldet. Neben dem internistischen, allgemein- und hausärztlichen Bereich waren auch die Fächer Anästhesie, Augenheilkunde, Chirurgie und Gynäkologie vertreten.

Über die Grundlagen und Aktuelles aus der stationären und ambulanten Palliativmedizin referierte Dr. Susanne Naß, Chefärztin des Palliativzentrums am St. Elisabeth-Krankenhaus, Eutin. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin definiert die Palliativmedizin als "die Behandlung von Patienten mit nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankungen mit begrenzter Lebenserwartung, für welche das Hauptziel der Begleitung die Lebensqualität ist".

Wichtig zu wissen ist, dass die Palliativbetreuung nicht nur dem kranken Menschen, sondern auch seiner Familie gilt, für letztere auch während der Trauerphase. Eine großangelegte, statistisch ausgewertete onkologische Studie in Amerika hat ergeben, dass bei frühzeitig einsetzender Palliativbetreuung nicht nur die Lebensqualität während der Krebserkrankung höher, sondern auch die Überlebenszeit im Vergleich mit einer erst spät einsetzenden Betreuung verlängert ist. In Deutschland ist die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) seit 2007 gesetzlich geregelt, seit 2009 gibt es Verträge mit Palliative Care Teams, bestehend aus sechs bis acht Mitarbeitern, Ärzten, Pflegenden und Koordinationskräften.

Juliane Dürkop, Diplom-Psychologin und Psychologische Therapeutin in Kiel, behandelte das Thema Kommunikation, Prinzipien der Mitteilung und der Gesprächsführung und händigte hierzu eine "Checkliste - Kommunikation mit Palliativpatienten" aus.

Die noch vor 40 Jahren weitverbreitete Auffassung, ein an Krebs erkrankter Patient dürfe diese schwere Diagnose nicht erfahren, lediglich seine Angehörigen, ist heute weitgehend Geschichte. Die enormen Fortschritte in Diagnose und Therapie in der gesamten Medizin, aber auch mehr Offenheit im Umgang mit der eigenen Person sowie demokratisches Denken und Handeln dürften die Gründe für diese Entwicklung sein. Dennoch soll/darf man keinem Patienten, der eine derart schwere Diagnose nicht erfahren will, eine "Aufklärung" aufdrängen, so der in der Diskussion und dem Erfahrungsaustausch gefundene Konsens.

Dr. Dieter Mustroph, Oberarzt der Medizinischen Klinik, Hämatologie, internistische Onkologie und Palliativmedizin, WKK Heide, sprach über onkologitsche Therapieoptionen in der Palliativmedizin. Er betonte, dass Palliativmedizin nicht nur die Betreuung in der letzten Lebensphase, sondern eine Aufgabe bereits für die Zeit der onkologischen Behandlung ist. Unter diesem Aspekt sollte auch der Wunsch mancher Patienten, welche lediglich ein Gespräch mit dem Onkologen suchen, zu würdigen sein. Bisphosponate werden heute erfolgreich gegen Knochenschmerzen und bei Hyperkalzämie eingesetzt, sie bergen aber das Risiko einer Kieferknochennekrose (unter einem Prozent). Deshalb sollte/muss, abgesehen von Notfällen, vor Anwendung dieser Medikamente ein Zahn-/Kieferstatus erhoben werden.

Beeindruckend waren auch die gezeigten Möglichkeiten der palliativen Behandlung von obstruierenden Bronchialtumoren mit dem Argon-Laser und mittels eines Stents, aber auch die partielle Pleurektomie und anschließende Verstäubung von Talkum-Puder im Pleuraspalt bei Pleuritis carcinomatosa. Ein Beispiel für Palliativmedizin ohne somatisch-kurativen Anteil war der Bericht über eine Patientin, die keine Nahrung mehr oral aufnehmen konnte und deshalb der parenteralen Ernährung bedurfte: Um gemeinsam mit ihrem Ehemann morgens Kaffee trinken zu können, erhielt sie eine PEG-Sonde, über welche der genossene Kaffee wieder abgeleitet wurde. Im Rahmen der "evidence based medicine" haben die Onkologen als Palliativmediziner in ihrer Entscheidung einen gewissen Spielraum. Der Vortragende sprach sich für den Onko-Palliativmediziner als "Trainer" des Patienten aus, der den Patienten motiviert und zur Therapie anspornt.

Zweieinhalb Stunden waren am nächsten Vormittag für Kommunikationsübungen reserviert: In zwei Gruppen, unter Supervision von Juliane Dürkop und Ingemar Nordlund, ehemals leitender Arzt des Katharinenhospizes in Flensburg, wurde versucht, "schwierige Gesprächssituationen" aus der Praxis im Rollenspiel nachzustellen und in der anschließenden Diskussion aufzuarbeiten. Sowohl für das Gespräch in der Praxis als auch für das Rollenspiel ist es wichtig, dass die Unterhaltung in einem "geschützten Raum", nach Möglichkeit ohne Einflussnahme von außen, stattfindet. Dieser "geschützte Raum" ist im Rollenspiel z.B. die Anordnung der Sitzgruppe, in der Praxis ist es in der Regel das Arztzimmer, es kann auch eine ruhige Ecke sein, aber auch ein Ort in der Wohnung des Kranken.

Über die Behandlung der gastrointestinalen Symptome Übelkeit/Erbrechen, Obstipation, gastrointestinale Obstruktion und Diarrhoe aus palliativmedizinischer Sicht sprach Dr. Susanne Naß: Übelkeit und Erbrechen werden von den Patienten oft als stärker beeinträchtigend empfunden als der Schmerz, sie treten bei 30-60 Prozent aller Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung und bei 40 Prozent der Patienten mit einer Tumorerkrankung in den letzten Wochen des Lebens auf. Als Ergänzung zur medikamentösen Behandlung können Entspannungsübungen und eine Klangschalltherapie hilfreich sein.

Zur Diagnostik der Obstipation steht an zweiter Stelle, nach der Anamnese, die körperliche Untersuchung, welche immer eine rektale Untersuchung, Auskultation sowie eine Palpation des Abdomens (Colon descendens) beinhalten muss. Häufiger flüssiger Stuhlgang bei totaler Verstopfung kann als "paradoxe Diarrhoe" diagnostisch in die Irre führen. Insbesondere bei Diarrhoe muss man einer etwaigen Dekubitusbildung und dem Entstehen von Wundsein im Analbereich vorbeugen.

Dem Symptom Dyspnoe, bildhaft ausdrucksvoller "Luftnot" oder "Atemnot", verbunden mit der Angst des Patienten zu ersticken, war der Vortrag von Dr. Isabel Kriegeskotten-Thiede, hausärztlich tätige Internistin in einer Gemeinschaftspraxis in Lübeck, gewidmet. Sie fasste zusammen: Das Symptom Luftnot hat immer eine starke subjektive Komponente und ist fast immer mit dem Symptom Angst kombiniert. Beide Symptome müssen bei der Therapie berücksichtigt werden. Morphin, oral oder parenteral gegeben, und ggf. Lorazepam sind in der symptomatischen Therapie meist unverzichtbar.

Morphium in zwei Prozent Lsg. (vier Tropfen enthalten fünf mg) wird in kleinstverfügbarer Menge mit 20 ml als "Oramorph" angeboten. Lorazepam (Tavor expidet) "aut idem", 0,5-2,5 mg zur buccalen Gabe, sollte als Notfallmedikament zu Hause bereitliegen; die buccale Gabe gewinnt insbesondere beim Unvermögen zu schlucken eine große Bedeutung. Physiotherapeutisch assistierte Verbesserung der Atemtechnik ist meistens hilfreich.

Bei ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) führt der CO2-Anstieg zu einer Eintrübung des Bewusstseins, vor dem befürchteten Ersticken setzt meist Bewusstlosigkeit ein. Bei 88-98 Prozent der Erkrankten kommt der Tod "friedlich" auf dem "Teppich" einer nächtlichen CO2-Narkose.

Ingemar Nordlund sprach über Moral und Ethik, wobei Ethik, im Gegensatz zur Moral, eher als "kulturneutral" interpretiert werden sollte. Bei der Hilfe "zum" Sterben ist es ärztliche Absicht, das Leben des todkranken Menschen zu verkürzen, wohingegen durch die Hilfe "beim" Sterben dem leidenden Menschen die verbleibende Zeit kurz vor seinem zu erwartenden Tode möglichst erträglich gestaltet werden soll. Zur palliativen Sedierung, die Risiken birgt, werden zurzeit Richtlinien erarbeitet.

Ziel der kurativen Wundversorgung ist die Wundheilung, der Wundverschluss, dasjenige der palliativen, ein Fortschreiten der Wunde nach Möglichkeit zu verhindern oder zu verzögern, eine Wundheilung ist hier die Ausnahme: Carola Neugebohren, Kranken- und Gesundheitspflegerin mit einer Zusatzausbildung in Palliatve Care und Wundmanagement im Palliatvnetz Travebogen, Lübeck tätig, gab eine umfassende Übersicht über die aktuellen Möglichkeiten. Sie demonstrierte verschiedene Materialien und Produkte für die Wundbehandlung: So zeigte sie u.a., wie man ein Hydrocolloid abzieht (Abb. 1). Sie ist für Fortbildungen im Wundmanagement vorbereitet, ihre E-Mail-Adresse ist: carola.neugebohren@travebogen.de.

Das Feld der neuropsychiatrischen Symptomkontrolle, die in der Palliativmedizin allerdings eine Ausnahme bleibt, behandelte Dr. Volker Lindner, Neurologische Klinik UK S-H, Campus Kiel: Die amyorophe Latet ralsklerose (ALS) ist die einzige Erkrankung im Bereich der Neurologie und Psychiatrie, welche per se zu einer Palliativsituation führt. An den nervenärztlichen Konsiliarius hingegen werden vielfältige Anforderungen gestellt, z.B. durch Psychosyndrome einschließlich der Beschwerden durch Bewältigungsdefizite, Krampfanfälle, motorische Störungen sowie die Symptomatik des erhöhten Hirndruckes. Er berichtete eingehend über die medikamentöse Therapie, insbesondere über die praktische Anwendung von Psychopharmaka, die Dosierung von Antikonvulsiva sowie die Behandlung von Krampi/Spastik, Myoklonien und erhöhtem Hirndruck. In einem anschließenden persönlichen Gespräch betonte der Vortragende, dass die Medizin durch die Palliativmedizin wieder mehr Menschlichkeit gewonnen habe, welche auch die emotionale Situation der behandelnden und betreuenden Personen, Ärzte eingeschlossen, einbezieht und berücksichtigt. Nach der Erfahrung des Autors ist die Medizin noch durch militärisch orientiertes Denken geprägt und es wird nicht selten nach dem Motto gehandelt: "Der Auftrag muss erfüllt werden".

Für die Betreuung des kranken Menschen in der Palliativsituation ist das soziale Umfeld als patientenorientiertes Betreuungsnetz, als Unit of Care, unabdingbar, so Maren Scholtyssek, Kranken- und Gesundheitspflegerin mit Zusatzausbildung in Palliative Care im Palliative Care Netz Nord, Flensburg. Die "soziale Unterstützung" stellt die positiv bewertete, erlebte oder erhoffte Funktion sozialer Netzwerke dar.

Praktisch relevante Fragen zur Beantragung von Hilfen, Hilfsmitteln etc. wurden besprochen und vor dem Hintergrund z.T. unterschiedlicher Erfahrungen diskutiert. Als Abschluss wurde in einem kurzen Rollenspiel verdeutlicht, wie viele Personen dem in seine häusliche Umgebung zurückkehrenden kranken Menschen, der im Krankenhaus die Prognose seiner schweren Krankheit erfahren hat, helfen müssen. Die Koordination der Aktivitäten sollte Aufgabe des Hausarztes sein und auch bleiben (Abb. 2).

Den Vortragsreigen des zweiten Fortbildungswochenendes eröffnete Dr. Silke Bothmann-Gräber mit zwei Referaten über rechtliche Fragestellungen: Betreuungsverfügung, Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung, aktive/passive und indirekte Sterbehilfe, assistierter Suizid und Sterbebegleitung wurden insbesondere auf der Basis der bestehenden Gesetze und der Grundsätze der Bundesärztekammer behandelt. Gut zu wissen ist, was der Schweizer Verein "Dignitas", welchem man mit dem Ziel, aktive Sterbehilfe zu erhalten, beitreten kann, in einer aktuellen Vereinsstatistik berichtet: 70 Prozent der Mitglieder des Vereins nehmen, wenn es zur endgültigen Entscheidung kommt, Abstand von ihrem Vorhaben.

Dr. Klaus Wittmaack, Anästhesist, Schmerztherapeut und Palliativmediziner am Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster, referierte über Notfälle in der Palliativmedizin. Er unterschied zwischen der "Krise" und dem "Notfall". Krisen sind im Krankheitsverlauf wiederkehrende Problemsituationen, die in der Regel beherrschbar und behandelbar sind, Handeln ist in diesem Fall notwendig, aber nicht umgehend erforderlich. Notfälle dagegen sind Akutsituationen, die mit einer akuten Gefährdung des Patienten einhergehen und zum umgehenden Handeln zwingen. Wichtig ist es, im Palliativteam für jeden Patienten einen individuell angepassten Notfallplan unter Einbeziehung des Patienten und seiner Angehörigen zu entwickeln, der schriftlich fixiert vorliegen sollte. So kann man z.B. eine Handlungsstrategie für eine zu befürchtende massive Blutung aus einem inoperablen Tumor des Nasenrachenraumes erarbeiten. Sollte der Patient in der akuten Situation einen dieser Vereinbarung konträren Wunsch äußern, muss diesem selbstverständlich entsprochen werden.

Die spirituelle Begleitung des unheilbar erkrankten Menschen, der weiß: "Ich muss sterben", war das Thema von Jutta Bilitewski, Pastorin am St. Elisabeth-Krankenhaus, Eutin. Der Bogen der Spiritualität überspannt die Religion, den Glauben und alle vergleichbaren Gedanken- und Empfindungswelten, denen insbesondere die Frage gemeinsam ist: Was kommt nach dem Tode? So ist es die Aufgabe der Seelsorge im palliativen Bereich, dem oft verzweifelt nach einem Sinn des Lebens suchenden und mit seinem Schicksal hadernden Menschen gemäß seiner eigenen Lebensauffassung zu helfen - was auch empathische Hilfe bei der Suche in der eigenen Lebensgeschichte beinhaltet. Die Seelsorge beginnt heutzutage in der Regel erst mit Eintreten in die Palliativsituation; besser wäre es, wenn die Patienten bereits während der onkologischen Behandlung die Möglichkeit erhielten, spirituell Rat zu suchen, so die Pastorin.

Biographiearbeit ist ein wesentlicher Teil des Weges, den die betreuenden Personen des Palliativteams gemeinsam mit dem Patienten gehen müssen. Ein schematisch gezeichneter Stammbaum sollte die Basis für die Dokumentation des Patienten im sozialen Geflecht seiner Familie und weiterer wichtiger Bezugspersonen sein, war die Botschaft von Ingemar Nordlund.

Der Schmerz und die Schmerztherapie unter besonderer Berücksichtigung der Opioide war der Themenkreis der Referate von Dr. Sabine Schulzeck, Oberärztin an der Klinik für Anästhesie und Operative Intensivmedizin UK S-H, Campus Kiel. Die Schmerzanalyse ist Voraussetzung für die Einordnung der Schmerzart (neuropathisch, nociceptiv ...) und der darauf ausgerichteten speziellen Schmerztherapie ("Vor die Therapie des Schmerzes haben die Götter die Schmerz-Diagnose gestellt"). Auch während der laufenden Schmerztherapie muss dieselbe kritisch überprüft werden, insbesondere, wenn neue Schmerzen hinzukommen, z.B. durch nicht tumorbedingte Ursachen. Wichtig ist, die Analgetika strukturiert entsprechend den Leitlinien des WHO-Stufenschemas einzusetzen. Die Therapie nach festem Zeitschema ist der Gabe "nach Bedarf" eindeutig überlegen. Auch in der Palliativmedizin haben Koanalgetika wie z.B. Antidepressiva oder Antikonvulsiva bei neuropathischen Schmerzen einen hohen Stellenwert.

Allgemein wenig bekannt ist, dass es paradoxe Reaktionen auf Opioide geben kann. Die opioidinduzierte Hyperalgesie (OIH) ist gekennzeichnet durch gesteigerte Schmerzen trotz rasch ansteigender Opioiddosis und häufig verbunden mit diffuser Allodynie, Myalgien sowie Myokloni. Eine Besserung der Schmerzen zeigt sich bei Dosisreduktion. Bei gravierender Symptomatik ist in Einzelfällen vorübergehend der Einsatz des Narkotikums Ketanest hilfreich, der allerdings Erfahrung mit dieser Substanz erfordert.

Das Thema Durst und Mundtrockenheit einschließlich der Frage der Flüssigkeitsgabe in der Präterminal- und in der Terminalphase wurde von Susanne Preuss, Ärztin für Anästhesie, Palliativmedizin und spezielle Schmerztherapie im Lübecker Palliatvnetz Travebogen im Sinne von Pro und Kontra dargestellt: Durstgefühl und Mundtrockenheit hängen nicht von der gegebenen Flüssigkeitsmenge ab. In der Präterminal- bzw. Terminalphase kann zugeführte Flüssigkeit unter Umständen die den Kranken belastenden Symptome verstärken, z.B durch verstärkte Bildung von Bronchialsekret. Eine Allroundentscheidung gibt es nicht, der Wille des Patienten, sofern bekundet, hat Vorrang; erforderlich ist die individuelle Abwägung der Wünsche und Symptome, eine abgesprochene limitierte Flüssigkeitsgabe ist möglich.

Ein weiteres Thema von Susanne Preuss war "Fatigue", die Erschöpfung, die sich bei 60-90 Prozent aller Tumorpatienten in allen Stadien, darüber hinaus aber auch bei anderen Erkrankungen, z.B. bei HIV, bei kardialen und pulmonalen Erkrankungen findet. Dieses Syndrom, gekennzeichnet durch schnelle Ermüdbarkeit, generalisierte Schwäche und mentale Reduzierung (verminderte Gedächtnisleistung), kann aufgrund der Nebenwirkungen der möglichen medikamentösen Therapie (u.a. Kortikosteroide und Psychostimulantien, z.B. Ritalin®) oft nur begrenzt behandelt werden.

John Sanger, Kranken- und Gesundheitspfleger in der Interdisziplinären Schmerz- und Palliativstation des UK S-H, Campus Kiel, zeigte und erklärte beispielhaft an Situationen des Alltags praktische Fatigue-Behandlungsstrategien: Diese reichen vom zeitlich geordneten Tagesablauf über die Wahl der Speisen, gezielte gymnastische Übungen, Einkaufen mithilfe einer Einkaufsliste sowie des "Lageplanes" der Produkte in einem Supermarkt bis hin zu einem Mahl zu zweit in harmonisch-romantischer Atmosphäre.

Die Trauer als Prozess war das Thema von Lars Mandelkow, Dipl.-Psychologe und Dipl.-Theologe und als Systemberater tätig: Die vier Dimensionen des Leidens nach Cicely Saunders (das körperliche, das psychische, das soziale und das spirituelle Leiden) sowie Phasenmodelle für Trauerprozesse einschließlich der späten Trauer wurden besprochen. Einzelne Teilnehmer des Kurses berichteten über eigene Erfahrungen.

Die Besonderheiten der Finalphase des Kranken aus ärztlicher und aus pflegerischer Sicht wurden von Carola Neugebohren und Susanne Preuß behandelt: Die Medikamente sollten auf das Wesentliche reduziert werden, betr. Analgetica: Opioide der Stufe III nach WHO, betr. Sedativa: Diazepam und Lorazepam. Stark wirksame Opioide dürfen wegen der Gefahr der Entzugssymptomatik nur schrittweise abgesetzt werden, beim Absetzen von Antikonvulsiva muss auf Diazepam rectal oder Tavor expidet umgestellt werden. Angehörige sollten keine Spritze geben, damit keine Schuldgefühle entstehen, falls der Tod in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Injektion eintreten sollte.

Mit dem Thema Selfcare-Heilung schloss der Grundkurs Palliativmedizin. Ingemar Nordlund sprach zu der Frage, ob es ein "gesundes Sterben" gebe, und bejahte diese. Denkmodelle von Hippokrates über Äskulap, Cicely Saunders, Michael Kearny und Aaron Antonovyky ("Salutogenese") weisen in dieselbe Richtung und sind eine Aufforderung, sich mit dem Sterben über das rein Medizinische hinaus zu befassen. H. Keupp definierte 2008 die Botschaft der Saltogenese: Gesundheit ist nur teilweise ein "Geschenk" der Natur oder der "Segnungen" der Medizin. Sie ist vielmehr auch Ausdruck gelingenden Lebens. Wir müssen lernen, Gesundheit nicht als einen Zustand der Abwesenheit von Krankheit zu definieren, sondern als einen eigenständigen Prozess der Lebensbewältigung, in dem es um Lebenssinn, soziale Verortung und Ressourcen geht. Dieser Prozess gelingt längst nicht immer perfekt, aber Gesundheit als Lebenskunst bedeutet, den aktiven kreativen Gestaltungsprozess des eigenen Lebens ernst zu nehmen.

Fazit und Ausblick: Der Grundkurs Palliativmedizin bot eine gute Übersicht über die palliativmedizinische Versorgung des kranken Menschen am Ende seines Lebens und kann somit allen empfohlen werden, die kurative Medizin ausüben. Aber auch im Hinblick auf das eigene Leben, insbesondere für die Fragen des Umgangs mit der Trauer, kann er Hilfen geben. Dieser Kurs ist ein erster Schritt zur Erlangung der Zusatzbezeichnung Palliativmedizin. Auf den Basiskurs folgt das Fallseminar, das in drei Module einschließlich Supervison aufgeteilt ist. Der Teilnehmer kann sich darauf hin bei der Ärztekammer zur Prüfung anmelden und nach Bestehen derselben palliativmedizinische Leistungen gesondert abrechnen.

Dr. Udo Hennighausen, Heide


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201106/h11064a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Das Lösen des Hydrocolloids wird demonstriert.

Abb. 2: Das Rollenspiel "Der kranke Vater kehrt heim" hatte eine daseinsbejahende Grundstimmung und trotz Trauer auch heitere Augenblicke.

Ingemar Nordlund referierte zur Frage, ob es ein "gesundes Sterben" geben kann.


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juni 2011
64. Jahrgang, Seite 41 - 45
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2011