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ETHIK/938: Migration und Gesundheit (8) "Migranten ohne Pass" beim Arzt (Deutscher Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung

"Migranten ohne Pass" beim Arzt: Realität und politische Konsequenzen

Von Bettina Schlemmer


Die Malteser Migranten Medizin in München besteht seit 2006, sie ist eine von inzwischen elf Anlaufstellen des Malteser Hilfsdienstes in Deutschland für Menschen ohne Krankenversicherung.

Im März 2001 gab der Stadtrat der Landeshauptstadt München eine Studie in Auftrag, mit dem Ziel, mehr über das Leben von Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus zu erfahren. Dr. Philip Anderson, der bereits ähnliche Untersuchungen in London durchgeführt hatte, legte seine Ergebnisse im August 2003 vor. Es zeigte sich, dass Menschen ohne Aufenthaltsstatus teilweise unter menschenunwürdigen Lebensumständen lebten. Somit war diese Studie die Grundlage für die Notwendigkeit, humanitäre Standards im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.

Daraus möchte ich zitieren: "Krankheit ist für einen Menschen in dieser Lebenssituation so etwas wie eine Folie, auf deren Hintergrund sich die bedrohliche Unsicherheit der eigenen Lage auf einmal in überdeutlicher Schärfe abzeichnet."[1]

Im Herbst 2005 wurden die Malteser vom Stadtrat beauftragt, nach dem Berliner Vorbild der Malteser Migranten Medizin eine Anlaufstelle zur medizinischen Versorgung für nicht krankenversicherte Menschen einzurichten. Diese Anlaufstelle wurde im Juli 2006 eröffnet und war nach Berlin und Köln die dritte in Deutschland. Generell behandeln und beraten wir Menschen, die keinen gültigen Aufenthaltsstatus haben oder aufgrund einer sozialen Notlage nicht krankenversichert sind.

Einmal pro Woche bieten wir eine Sprechstunde an, in Kürze werden wir eine zweite einrichten. Da die Patientinnen und Patienten der Zielgruppen auch soziale und rechtliche Probleme haben, gehört auch eine Sozialpädagogin zu unserem Team.

Die Räumlichkeiten entsprechen denen einer normalen Arztpraxis. Behandlung und Beratung sind kostenlos und erfolgen unter Wahrung der Anonymität. Informationsmaterial über unsere Anlaufstelle liegt bei allen Sozialbehörden, karitativen Beratungsstellen und den fremdsprachigen Missionen aus. Außerdem finden die Patientinnen und Patienten unsere Adresse im Internet.

Zur Gewährung einer möglichst hochwertigen medizinischen Versorgung wurde ein Netzwerk von niedergelassenen Fachärztinnen und -ärzten aus allen Fachbereichen und mehreren Kliniken aufgebaut. Hierhin werden die Patientinnen und Patienten vermittelt, wenn wir sie nicht vor Ort behandeln können. So ist auch eine schnelle und unbürokratische Hilfe in Notfällen möglich.

Zu unserem Netzwerk gehören auch ehrenamtlich arbeitende Psychotherapeuten, Hebammen sowie ein Labor, das unentgeltlich Blutuntersuchungen vornimmt.

Besonders wichtig für unser Projekt ist die Zusammenarbeit mit anderen Beratungsstellen in München, wie zum Beispiel der Caritas, der Diakonie, verschiedenen Frauen- und Schwangerenberatungsstellen, dem Gesundheitsamt, sowie dem Café 104. Dies ist eine Initiative engagierter Menschen, die seit 1998 ausländerrechtliche Beratung und eine Vermittlung medizinischer Versorgung für Menschen ohne Aufenthaltsstatus anbietet. Das Café 104 hat in Kooperation mit den Ärzten der Welt im Jahre 2006 ebenfalls eine Anlaufstelle für Menschen ohne Krankenversicherungsschutz (open med) eröffnet.

Gute Kontakte bestehen auch zu den Behörden der Stadt: dem Sozialreferat und dem Amt für Migration und Wohnen. Hier hat die Landeshauptstadt eine Sonderstelle für die medizinische Versorgung nicht krankenversicherter Menschen eingerichtet. Sie verfügt über einen aus der Haushaltskasse der Stadt bereitgestellten Notfallfonds in Höhe von 100.000 Euro. Weiterhin haben wir Ansprechpartner in der Ausländerbehörde, die uns beraten, ohne dass wir die Namen unserer Patientinnen und Patienten nennen müssen.

Was wir zu Beginn unserer Tätigkeit nicht erwartet hätten, war die Tatsache, dass auch viele deutsche Staatsbürger unsere Hilfe benötigen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der letzten Jahre haben viele Selbstständige in soziale Not und Armut gebracht, sodass sie ihre Krankenversicherungsbeiträge nicht mehr bezahlen können.

Die größte Patientengruppe, die Hilfe in unserer Anlaufstelle sucht, sind Menschen mit Migrationshintergrund. Ein Teil davon sind EU-Bürger, die zu Beginn unserer Arbeit zum großen Teil noch ohne Aufenthaltsstatus waren, sich aber seit der EU-Osterweiterung legal in Deutschland aufhalten. Sie melden oft ein Gewerbe an, sind aber nicht verpflichtet, sich zu versichern. Weiterhin betreuen wir Migrantinnen und Migranten, die ohne Arbeitserlaubnis arbeiten und ebenso in medizinische Notlagen kommen, in denen es unmöglich ist, sie in ihr Heimatland zurückzuschicken.

Zu den Hilfesuchenden gehören auch Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Sie besitzen keine nach deutschem Recht gültigen Papiere für den Aufenthalt in Deutschland. Anhand einiger beispielhafter Fälle aus meiner Praxis möchte ich von der Realität und der sich daraus ergebenden Problematik dieser Patientengruppe berichten.

Im Dezember 2006 stellte sich eine 26-jährige Togolesin in unserer Anlaufstelle vor, deren Touristenvisum schon längere Zeit abgelaufen war. Bei der körperlichen Untersuchung fiel ein Lymphknoten im Halsbereich auf. Weitere Symptome wiesen auf eine bösartige Erkrankung hin, sodass eine feingewebliche Untersuchung durch eine chirurgische Lymphknotenentfernung erfolgte. Der Verdacht bestätigte sich, die Patientin war an einem Morbus Hodgkin erkrankt. Da sich ihr Allgemeinzustand innerhalb weniger Tage zunehmend verschlechterte, wurde mit einem ärztlichen Attest, das die lebensbedrohliche Erkrankung beschrieb, bei der Ausländerbehörde eine Duldung für zwei Monate erwirkt. Duldung bedeutet: die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung aufgrund eines Abschiebehindernisses. Im Falle unserer Patientin war das die lebensbedrohliche Erkrankung. Eine Duldung kann verlängert werden, nach Ablauf der Duldung besteht jedoch eine Pflicht zur Ausreise.

Wichtig für diese Patientin war, dass sie mit der Duldung einen Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten konnte.

Damit wiederum die Kostenübernahme im Krankenhaus gewährleistet war, wurde über eine Sonderstelle im Sozialreferat der Stadt ein Kontakt zum Sozialamt hergestellt, das die Krankenhauskosten übernahm. Somit stand der stationären Aufnahme und Einleitung der chemotherapeutischen Behandlung nichts mehr im Wege.

Bei der nächsten Patientin, von der ich berichten möchte, handelt es sich um eine 37-jährige Frau aus Ecuador. Sie war in Ecuador verheiratet und hat dort zwei Kinder. Die Patientin war mit einem Touristenvisum nach Deutschland eingereist und hatte nach dessen Ablauf wegen Arbeitslosigkeit in Ecuador begonnen, in einem Haushalt zu arbeiten. Sie berichtete uns von zwei Krampfanfällen mit Sprachstörungen und Erinnerungslücken. Ihre Zimmermitbewohnerin, die sie begleitete, konnte uns genauere Angaben dazu machen. Die Patientin hatte als Kind ein Schädelhirntrauma erlitten und einige Zeit im Koma gelegen. Sie wurde im weiteren Verlauf nach einer radiologischen Untersuchung des Kopfes zu einem Neurologen vermittelt, der eine antiepileptische Therapie einleitete. In unserer Anlaufstelle stellte sich die Patientin in regelmäßigen Abständen zur Kontrolle der Blutwerte vor. Sie erzählte uns, dass sie regelmäßig Geld nach Hause schickte, aber nicht mehr lange in Deutschland bleiben wolle. Sie war insgesamt psychisch sehr belastet: Einerseits litt sie unter der Angst vor Polizeikontrollen, andererseits unter der Trennung von ihrer Familie. Dass sie ihre Kinder nicht selbst versorgen konnte und anderen überlassen musste, löste Schuldgefühle in ihr aus. Wir schlugen ihr die Rückkehrmöglichkeit mit Coming Home vor. Coming Home ist ein Projekt der Landeshauptstadt München, das unter anderem Menschen ohne Aufenthaltsstatus finanzielle Unterstützung anbietet, wenn sie sich bei der Ausländerbehörde zur Ausreise verpflichten und in ihr Heimatland zurückkehren. Die Patientin geriet circa zwei Monate vor ihrer beabsichtigten Rückkehr in eine Polizeikontrolle und kam in Abschiebehaft.

Etwa 30 Prozent unserer Patienten sind schwangere Frauen, ein großer Teil von ihnen hat keine Aufenthaltserlaubnis. Dazu nochmals ein Zitat aus der Studie von Dr. Anderson: "Erwartet eine Frau ohne Status ein Kind [...], hat die Schwangerschaft für die 'illegalen' Frauen eine besondere Schwere."[2]

In München wird schwangeren Frauen drei Monate vor der Geburt und drei Monate nach der Geburt von der Ausländerbehörde eine Duldung erteilt. Damit sind sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezugsberechtigt. Vielen Frauen, die unsere Hilfe suchen, ist diese Möglichkeit nicht bekannt, das heißt, sie kommen erst im achten oder neunten Schwangerschaftsmonat, einige von ihnen ohne jegliche Vorsorgeuntersuchung zu uns. Wir versuchen, eine umfassende Betreuung anzubieten, und vermitteln sie, bis die Duldung erwirkt werden kann, an einen Frauenarzt zur Vorsorgeuntersuchung.

Eine 26-jährige Südamerikanerin, deren Visum im Juni letzten Jahres abgelaufen war, kam im vierten Schwangerschaftsmonat in unsere Sprechstunde. Ihr Freund, ebenfalls Brasilianer, lebt seit 16 Jahren in Deutschland. Er besitzt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Die Patientin wurde zu einem Frauenarzt vermittelt. Mittlerweile hat der Kindsvater eine notarielle Vaterschaft- und Sorgerechtserklärung vorgenommen. Es liegt jedoch im Ermessensbereich der Ausländerbehörde zu entscheiden, ob durch die notariellen Erklärungen ein Aufenthaltstitel nach der abgelaufenen Duldung erteilt wird beziehungsweise ob diese Erklärungen ausreichen, die Abschiebung bei einer Polizeikontrolle vor dem sechsten Schwangerschaftsmonat zu verhindern. Die berechtigte Angst der beiden Brasilianer bleibt, dass die Schwangere ohne Aufenthaltsstatus bis zum sechsten Monat nach einer Polizeikontrolle ausgewiesen wird. Um einen Aufenthaltstitel zu bekommen, müsste die Patientin den Kindsvater heiraten, der eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung hat.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Problematik des Asylbewerberleistungsgesetzes hinweisen. Leistungsberechtigt sind Asylbewerber, Menschen mit Duldung sowie Menschen ohne Aufenthaltsstatus bei: akuten Erkrankungen, Schmerzzuständen, Schwangerschaft und Geburt, amtlich empfohlenen Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Jedoch besteht von jeder öffentlichen Stelle, das heißt auch von jeder Sozialbehörde, bei der ein Krankenschein beantragt wird, eine Datenübermittlungspflicht an die Ausländerbehörde. Diese Datenübermittlungspflicht ist nur im medizinischen Notfall aufgehoben, dann steht das Recht des Betroffenen über der Übermittlungspflicht.

Die Ärzteschaft wiederum und ihre Berufshelfer unterliegen der Schweigepflicht. Übermittelt ein Arzt oder eine Ärztin Daten von Patientinnen und Patienten ohne Aufenthaltsstatus an öffentliche Stellen (z.B. Sozialbehörden), dürfen diese sie ebenfalls nicht an die Ausländerbehörde übermitteln. Dies bezeichnet man als verlängerten Geheimnisschutz. Da die Abrechnungsstellen der Krankenhausverwaltungen im medizinischen Notfall zum schweigepflichtigen Personenkreis gehören, müssen Menschen ohne Aufenthaltsstatus in diesem Fall keine Angst vor Aufdeckung ihres Status beziehungsweise drohender Abschiebung haben.

Zusammenfassend gesagt, betreuen wir Menschen aus der Ersten bis Dritten Welt, die aus sozialer und politischer Not dringlich ärztliche Hilfe benötigen. Neben der menschlichen Notwendigkeit gibt es dafür auch eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit. Das Krankheitsspektrum ist vielfältig und umfasst alle Bereiche der Medizin. Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel haben ein Recht auf eine medizinische Behandlung. Sie genießen in der Bundesrepublik Deutschland Grundrechte, können aber nicht in allen Belangen gleichberechtigt wie Bundesbürger behandelt werden. Nach der Neuregelung der Verwaltungsvorschriften im Jahre 2009 besteht - wie oben erwähnt - nur im medizinischen Notfall keine Datenübermittlungspflicht an die Ausländerbehörde. Es stellt sich deshalb die berechtigte Frage, ob auch bei einer akuten Erkrankung, bei der Behandlungsbedarf besteht, diese Datenübermittlungspflicht nochmals neu geregelt werden sollte. Zur Wahrung des Menschenrechtes auf Gesundheit wäre eine Erweiterung der rechtlichen Grenzen sinnvoll. Menschen ohne Aufenthaltsstatus wären damit im Erkrankungsfall nicht mehr der ständigen Angst vor Abschiebung ausgesetzt.


Bettina Schlemmer, geb. 1955, Dr. med., Ärztin für Allgemeinmedizin, Leiterin der Malteser Migranten Medizin in München.


Anmerkungen
[1] Anderson 2003, 34.
[2] Anderson 2003, 67.

Literatur
Anderson, Philip (2003): "Dass Sie uns nicht vergessen ...". Menschen in der Illegalität in München. München.


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INHALT

Axel W. Bauer - Vorwort
Maria Böhmer - Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik
Oliver Razum - Gesundheit von Migranten: Hintergründe
Ilhan Ilkilic - Medizinethische Aspekte des interkulturellen Arzt-Patienten-Verhältnisses
Theda Borde - Frauengesundheit und Migration: Bedürfnisse - Versorgungsrealität - Perspektiven
Alain Di Gallo - Risiken und Chancen der Migration aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht
Andreas Spickhoff - Spezielle Patientenrechte für Migranten? Juristische und rechtsethische Überlegungen
Bettina Schlemmer - "Migranten ohne Pass" beim Arzt: Realität und politische Konsequenzen
Ulrike Kostka - Die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten zwischen Solidarität und Eigenverantwortung


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung
für die medizinische Versorgung
© 2010 - Seite 79 - 83
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2011