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ETHIK/1293: Abtreibung und Selbstbestimmung - Drei Positionen (APuZ)


APuZ - Aus Politik und Zeitgeschichte
20/2019 - 13. Mai 2019
Abtreibung

Abtreibung und Selbstbestimmung: Drei Positionen


Die Debatte um die Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist geprägt von unterschiedlichen Positionen, von denen drei im Folgenden versammelt sind (in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen). Kirsten Achtelik, problematisiert pränatale Tests, die nach "Normabweichungen" suchen und von denen die meisten nur die Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung eröffnen. Liane Bednarz kritisiert, dass Positionen radikaler Abtreibungsgegner wie -befürworterinnen die mediale Debatte dominieren, und plädiert für einen seriösen Lebensschutz. Sarah Diehl schließlich argumentiert, dass Verbote in der Frauengesundheit kontraproduktiv sind, und fordert, Abtreibung ins Ermessen derjenigen zu stellen, deren Körper und Leben betroffen sind.

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Eingeschränkte Entscheidungsfreiheit

von Kirsten Achtelik

Schwangere Personen müssen selbst entscheiden können, ob sie ein Kind bekommen wollen oder nicht, das ist eine alte und immer noch aktuelle feministische Forderung, die auch aus menschenrechtlicher und gesundheitspolitscher Perspektive unterstützt wird. In Deutschland wird eine selbstbestimme Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch weiterhin erschwert, da dieser im Strafgesetzbuch im Abschnitt der Straftaten gegen das Leben verhandelt wird. Dies hat negative Folgen: Beispielsweise sind Abtreibungen kein regulärer Teil ärztlicher Lehrpläne, Mediziner*innen durften bis vor Kurzem noch nicht einmal öffentlich darauf hinweisen, dass sie Abbrüche vornehmen, und obwohl weltweit jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens eine Abtreibung hatte, ist das Thema tabuisiert und schambesetzt. Restriktive Gesetze, religiöse Traditionen und Stigmatisierung veranlassen jedes Jahr weltweit Frauen und Mädchen zu unsachgemäßen und gefährlichen Schwangerschaftsabbrüchen, rund sieben Millionen Patientinnen werden laut Ärzte ohne Grenzen jährlich weltweit aufgrund von daraus resultierenden Komplikationen in Krankenhäuser eingeliefert. Selbsternannte Lebensschützer sorgen dafür, dass dies so bleibt.

Aber was ist, wenn die Entscheidung, die Schwangerschaft auszutragen, bereits getroffen wurde, und die schwangere Person sich entschieden hat, aus dem Fötus ein Kind werden zu lassen? Dann gibt es - normalisiert und als Teil der Schwangerschaftsvorsorge wahrgenommen - viele Untersuchungen, die scheinbar sicherstellen sollen, dass mit dem werdenden Kind "alles in Ordnung" ist. Wenn das nicht der Fall ist, wenn eine Normabweichung oder Beeinträchtigung festgestellt wird, dann wird diese Entscheidung häufig revidiert und eine Abtreibung vorgenommen. Auch solche Entschlüsse müssen Frauen treffen können, allerdings spielen die gesellschaftliche Behindertenfeindlichkeit, fehlende sozialstaatliche Absicherungen und ableistische Annahmen über Behinderung bei diesen Entscheidungen oft eine so große Rolle, dass sie schwerlich als selbstbestimmt zu qualifizieren sind.

Wenn eine Abtreibung wegen einer erwarteten Beeinträchtigung des werdenden Kindes erwägt wird, ist das in vielen Ländern nach "embryopathischer Indikation" legal. In Deutschland wurde diese Sonderregel mit der letzten Reform des in §§ 218ff. geregelten Abtreibungsrechts Mitte der 1990er Jahre abgeschafft. Dies war ein Erfolg der Behindertenverbände, die eine Sondergesetzgebung als diskriminierend kritisierten. Die Abschaffung dieser Indikation bedeutet allerdings nicht, dass Abtreibungen nach pränataler Beeinträchtigungsdiagnose nicht mehr möglich sind. Solche Fälle sollten künftig von der medizinischen Indikation aufgefangen werden, vermerkt der Kommentar zum Gesetzentwurf: Die medizinische Indikation erlaubt Schwangerschaftsabbrüche, wenn durch die Schwangerschaft das Leben oder die Gesundheit der Frau gefährdet werden. Durch die Integration der embryopathischen in die medizinische Indikation wird den indikationsausstellenden Ärzt*innen die Annahme nahegelegt, dass das Austragen der Schwangerschaft und das Leben mit einem behinderten Kind die psychische Gesundheit der Frau gefährden könnten und ihr deswegen nicht zugemutet werden kann.

In dieser Annahme der Unzumutbarkeit steckt ein großes Problem, da sie an das gesellschaftlich dominante Bild von Behinderung andockt, das körperliche, geistige und seelische Beeinträchtigungen mit Leiden, Schmerzen und Autonomieverlust gleichsetzt. Diese Meinung ist so omnipräsent, dass es schwerfällt, sie als behindertenfeindliches und ableistisches Vorurteil wahrzunehmen - Ableism bezeichnet die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer angenommenen unterdurchschnittlichen Fähigkeiten, mit dem Begriff sind gesellschaftliche Dimensionen besser zu erfassen als mit dem älteren Begriff der Behindertenfeindlichkeit. Menschen mit Behinderung kämpfen jedoch schon seit Jahrzehnten gegen die Vorstellung, dass ihre Lebensqualität durchweg schlechter wäre als die von Menschen ohne Beeinträchtigungen. Die Fokussierung auf das vermeintliche Defizit und die unterschiedliche Bewertung von Menschen aufgrund von angenommener geringerer Funktions- und Leistungsfähigkeit lässt ein Leben mit Behinderung als reduzierten menschlichen Zustand erscheinen und ist daher diskriminierend.

Diese Denkweise findet sich eben auch in der pränatalen Diagnostik: Das werdende Kind wird mit dem Defizit identifiziert und unzumutbar - in der Vorstellung der werdenden Eltern wegen der Gleichsetzung von Behinderung und Leiden auch für das werdende Kind selbst. Die normalisierte defizitorientierte Pränataldiagnostik wiederholt und verstärkt also das ableistische Vorurteil und damit die Diskriminierung behinderter Menschen.

Die Kritik an der strukturellen Behindertenfeindlichkeit der pränatalen Suche nach Normabweichungen und Beeinträchtigungen richtet sich nicht gegen die einzelne Frau oder die Abbruchsentscheidung. Sie richtet sich gegen ein Gesundheits- und Sozialsystem, das die Angst vor einer möglichen Behinderung mit immer mehr und genaueren Tests zu bekämpfen vorgibt, statt das Leben mit Behinderung und das Leben mit einem behinderten Kind zu unterstützen und zu erleichtern. In einer behindertenfeindlichen Gesellschaft, in der Inklusion als Kosten- und Störfaktor statt als Menschenrecht wahrgenommen wird, ist die Sorge darum, was eine mögliche Behinderung des späteren Kindes für das Kind und die Familie bedeuten könnte, verständlich. Das ist allerdings kaum als ein gesundheitliches Problem zu sehen, das mit pränatalen Untersuchungen und einem Schwangerschaftsabbruch "behandelt" werden kann, sondern eher als gesellschaftliches Problem, dem mit gesellschaftlicher Normalisierung eines Lebens mit Behinderung begegnet werden sollte.

Der defizitorientierte Blick auf Behinderung hat nicht nur negative Auswirkungen auf behinderte Menschen, sondern schränkt auch die Entscheidungsfreiheit von Schwangeren und werdenden Eltern ein: Eine Entscheidung, die aus Angst und in Unkenntnis ihrer möglichen Konsequenzen getroffen wird, ist nicht sonderlich selbstbestimmt. Die Angst-Kontroll-Spirale der pränatalen Untersuchungen lässt wenig Raum für die Frage, wozu das Wissen dient. In einer Dynamik, in der Frauen mit Kinderwunsch ihren Körper schon vor der Schwangerschaft optimieren, um dem späteren Kind die besten Startchancen zu bieten, kann es als Verantwortungslosigkeit wahrgenommen werden, nicht alle Untersuchungen in Anspruch genommen zu haben. Wenn die Untersuchungen von der Krankenkasse bezahlt werden und die Ärzt*innen dazu raten, dann sind sie scheinbar notwendig und medizinisch sinnvoll. Wenn die Schwangere dennoch Zweifel hat, können Nachfragen im Freundeskreis oder die in der ärztlichen Praxis geforderte Unterschrift, dass sie auf eigenes Risiko auf den Test verzichtet, als Druck wahrgenommen werden. Dazu kommt der Wunsch der Schwangeren selbst, zu wissen, ob "alles in Ordnung" ist.

Dass die meisten Tests und ihre Ergebnisse keine positive Auswirkung auf die Lebensqualität des späteren Kindes haben und nur die Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung eröffnen, ist den wenigsten Schwangeren bewusst. Nur ein kleiner Teil der pränatalen Untersuchungen trägt zur Gesundheit des werdenden Kindes bei, kann als Geburtsvorbereitung lebensrettend sein oder eine pränatale Therapie des Fötus ermöglichen. Die meisten Tests suchen nach körperlichen und genetischen Abweichungen von einer gedachten und festgelegten Norm. Werden hierdurch Hinweise auf Beeinträchtigungen gefunden, folgen weitere Untersuchungen, um die Ursache zu finden und einen Schweregrad abschätzen zu können. In der Wartezeit auf die Ergebnisse erhöht sich die Angst der Schwangeren enorm. Bestätigt sich der Verdacht, gibt es für die meisten diagnostizieren Beeinträchtigungen keinen Behandlungsvorschlag. Schwangere stehen nach so einer Diagnose vor der Entscheidung, ob sie das werdende Kind, dessen Wohlergehen die Tests dienen sollten, unter diesen Umständen überhaupt noch bekommen wollen.

Statt diese fatale Dynamik weiter anzuheizen, ist es an der Zeit, die Ängste der Schwangeren statt mit Pränataldiagnostik mit einer inklusiven, geschlechtergerechten und behindertenfreundlichen Politik zu bekämpfen und so auch die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Frauen zu vergrößern.


Kirsten Achtelik

ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet beim Gen-ethischen Netzwerk e.V. in Berlin sowie als freie Journalistin und Autorin.
www.kirsten-achtelik.net

Link zum Artikel:
http://www.bpb.de/apuz/290800/eingeschraenkte-entscheidungsfreiheit

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Für einen seriösen Lebenschutz
von Liane Bednarz

Anm. der Redaktion Schattenblick:
Den vollständigen Text des Artikels der promovierten Juristin, freien Publizistin und Buchautorin Liane Bednarz ist im Internet unter dem folgenden Link zu finden:
http://www.bpb.de/apuz/290802/fuer-einen-serioesen-lebensschutz

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Die Paragrafen 219 und 218 Strafgesetzbuch machen Deutschland zum Entwicklungsland

von Sarah Diehl

Seit vier Jahren unterstütze ich mit der Organisation Ciocia Basia (polnisch für "Tante Barbara") Frauen aus Polen, einen Schwangerschaftsabbruch in Berlin vornehmen zu lassen. Denn in ihrer Heimat ist das Abtreibungsrecht noch restriktiver als bei uns. In diesem Zusammenhang habe ich Frauengruppen in Polen kennengelernt, die den Abbruch in freundlicher solidarischer Atmosphäre unter fachkundiger Anleitung - mithilfe der Organisationen Women on Web oder Women help Women - mit der Abtreibungspille selbst organisieren.

Als ich zum ersten Mal davon hörte, war ich schockiert. Nicht, weil ich dieses Vorgehen für unverantwortlich hielt, sondern, weil es mir verrückt erschien, dass wir Frauen so sehr in einem patriarchalen (Denk-)System gefangen sind, dass wir nicht einfordern, eine zutiefst private und intime Erfahrung wie einen Schwangerschaftsabbruch selbst gestalten zu können. Und dass Frauen ausgerechnet in der Illegalität, wenn sie den Abbruch eigenständig organisieren müssen, Strukturen aufbauen, mit denen sie diese Erfahrung zu ihren Bedingungen machen, indem sie sich dem Zerrspiegel von Kirche und Politik mit ihrer Psychologisierung, ihrem Paternalismus, ihren Schuldzuweisungen und normativen Moralvorstellungen entziehen.

Das beeindruckende an Organisationen, die Frauen den Zugang zur Abtreibungspille ermöglichen und in denen viele Ärztinnen mitarbeiten, ist nicht nur, dass sie Hilfe zur Selbsthilfe geben, sondern auch, dass sie durch diese Praxis, auch wenn sie klandestin begann, Wege eröffnen, das selfmanagment der Abtreibungspille und Telemedizin, also Arztkonsultationen via Skype, in der Medizin zu etablieren. Ihre Erkenntnisse veröffentlichen sie in wissenschaftlichen Studien und ermöglichen Techniken, die vor allem für sogenannte Entwicklungsländer als Abhilfe gesehen werden - für Gegenden also, in denen es einen Ärztemangel gibt.

Weltweit zeigt sich, dass Länder mit liberalen Abtreibungsgesetzen auch die Länder mit den wenigsten Schwangerschaftsabbrüchen sind. Verbote in einem Feld wie Frauengesundheit bringen im Wesentlichen Einsamkeit, Schweigen, gefährliche Falschinformation und Todesfälle hervor. Denn nicht Zwang, Scham und Kontrolle verhindern ungewollte Schwangerschaften, sondern umfassende Sexualaufklärung, günstige oder kostenlose Verhütungsmittel und Selbstbestimmung in den Händen der Betroffenen. Wenn die Komplexität der Frauengesundheit anerkannt wird, funktioniert sie auch am besten.

Die §§ 219 und 218 im Strafgesetzbuch verhindern das und verschlechtern die Versorgungslage. Immer mehr ÄrztInnen schrecken im Angesicht der Kriminalisierung und des damit verbundenen Stigmas zurück, einen Schwangerschaftsabbruch anzubieten, und das Thema wird in der ärztlichen Ausbildung ausgespart. Doch so halten sich stereotype Vorbehalte gegenüber den Betroffenen auch in der ÄrztInnenschaft, weshalb jüngere ÄrztInnen keine Abbrüche mehr anbieten und ältere sich nicht über die neuesten Methoden weiterbilden lassen. Dabei gilt der Eingriff als sehr sicher, sogar sicherer als eine Geburt. Ciocia Basia bekommt bereits Anfragen von Frauen aus Deutschland, die Möglichkeiten für einen Abbruch suchen. In Deutschland ist die Zahl der Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, seit 2003 um 40 Prozent zurückgegangen, und die wenigsten von ihnen bieten die Abtreibungspille an. Ist Telemedizin also auch bei uns von Nöten?

Gerade die freie Wahl der Abtreibungsmethode ist essenziell für die Frau, und es ist unhaltbar, dass in Deutschland die Abtreibungspille so schwer zu finden ist, die laut Weltgesundheitsorganisation sehr sicher ist, eine geringe Fehlerquote hat und auch außerhalb von Kliniken sicher angewendet werden kann. Zudem machen die Frauen die Erfahrung, dass ein früher Abbruch vor der zehnten Schwangerschaftswoche eher einer Menstruation gleicht als, wie gern dargestellt, einer "Kindstötung" - und ich frage mich, ob es diese alternative Wahrnehmung eines Abbruchs ist, die man den Frauen nicht ermöglichen will. Die genannten Pro-Choice-Selbsthilfeorganisationen berücksichtigen die Lebensrealität von Frauen, während viele Politiker und Ärzte, unter anderem aus Angst vor Karriereknick und Rufschädigung, Klischees bedienen, die wissenschaftlich unhaltbar sind. So suggerierte etwa Jens Spahn (CDU) 2014 anlässlich der Debatte um die rezeptfreie Vergabe des Notfallverhütungsmittels Levonorgestrel, Frauen würden diese "Pille danach" wie "Smarties" essen, sollte sie rezeptfrei erhältlich sein. Dass jemand, der Aussagen tätigt, die mangelndes Fachwissen und Ressentiments bezeugen, Gesundheitsminister wird, kann auch als Hinweis gelesen werden, dass viele Aspekte der Frauengesundheit einen geringen Stellenwert haben.

Viele ungewollte Schwangerschaften entstehen trotz Verhütung. Die Vorstellung, Frauen seien zu verantwortungslos und unbedarft zum Verhüten, speist sich aus der Unwissenheit über die Fehlerquote, Kosten und Unverträglichkeit der gängigsten Verhütungsmethoden und die mangelnde Kooperation von Männern. Verhütungsmittel für Männer werden nicht weiter entwickelt, allein, weil sie ähnliche Nebenwirkungen haben, wie die, die Frauen seit Jahrzehnten ertragen. Warum halten wir den Frauen das Narrativ der Verantwortungslosigkeit und Schuldigkeit dennoch genüsslich vor? Warum erscheint es uns überhaupt akzeptabel, dass Staat und Gesellschaft Zugriff auf die Frau bekommen, sobald sie schwanger wird? Weil wir Zugriff auf die Frau als Ressource haben wollen, die selbstlos Fürsorge und Liebe in unserer Gesellschaft spendet, allerdings unbezahlt und unsichtbar durch die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Kleinfamilie, die bis heute ihre Wirkungsmacht nicht verloren hat.

Eine einfache Zahl hilft, um die Lebensrealität von Frauen ins rechte Licht zu rücken: In Deutschland haben mehr als 60 Prozent der Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, bereits Kinder. Sie lassen einen Abbruch vornehmen, weil sie wissen, wie viel Zeit, Geld und Fürsorge Kinder benötigen, die sie unter ihrem Nachwuchs aufteilen müssen. Doch diese Perspektive, dass Abtreibung eine verantwortungsvolle Entscheidung ist, die Frauen für sich und ihre Familien treffen, hat im gängigen Gruselnarrativ keinen Raum.

Zu diesem gehört auch die Vorstellung, Frauen würden nach einer Abtreibung unvermeidbar psychische Probleme bekommen. Christliche AbtreibungsgegnerInnen sprechen gar von einem "Post-Abtreibungs- Syndrom" (PAS). Tatsächlich ist das PAS weltweit von keiner einzigen wissenschaftlichen Institution als Krankheitsbild anerkannt. Natürlich können Frauen ambivalente Gefühle und Traurigkeit über ihren Schwangerschaftsabbruch verspüren, und es ist wichtig, dass sie darüber sprechen können. Eine Langzeitstudie der American Psychological Association (APA), die 2008 veröffentlicht wurde, ergab jedoch, dass die größte psychologische Belastung und Angst vor der Abtreibung liegt, also in der Zeit der Ungewissheit, wie und wo man Hilfe bekommt. Laut APA haben Abtreibungen keinen negativen Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit von Frauen. Hingegen könne es sehr wohl Traumata auslösen, eine ungewollte Schwangerschaft austragen zu müssen. Meine Erfahrung ist: Viele Frauen gehen gestärkt aus diesem Prozess hervor, weil sie sich ihrer Handlungsfähigkeit und ihres Rechts auf eigene Bedürfnisse bewusst werden.

Aber statt einer wissenschaftlichen Betrachtung über die embryonale Entwicklung werden Frauen genüsslich Fantasien von hilflosen empfindsamen Babys im Mutterleib vorgehalten. In der emotionalen Erpressung von Frauen haben sich AbtreibungsgegnerInnen professionalisiert. Das Internet ist voll mit Websites, die sich auf den ersten Blick als Hilfsangebote an ungewollt Schwangere darstellen, aber mit einseitigen oder falschen Informationen Frauen Angst und Schuldgefühle machen wollen. Organisierte, radikale AbtreibungsgegnerInnen machen Angebote für den Schulunterricht und haben Stände auf Messen für Jugendliche. Sollte der Staat nicht eher dort eingreifen, wo manipulative Falschinformationen über medizinische Methoden an Schutzbefohlene verbreitet werden?

Unsere christlich-männlich und technokratisch geprägte Kultur macht aus einer Stärke der Frau, ihrer Gebärfähigkeit, eine Schwäche. Ein Gesundheitssystem, das Abtreibung stigmatisiert, hat ein generelles Problem mit der Qualität der Frauengesundheit. Ein sensibler Umgang mit Abtreibung würde sich gut auf die Frauengesundheit auswirken, da er eine Atmosphäre schafft, in der die Bedürfnisse aller Schwangeren berücksichtigt werden. Einen Raum, in dem Abtreibung, Fehlgeburten, postnatale Depression, selbstbestimmte Geburt, Pannenanfälligkeit von Verhütungsmitteln, eben allen Aspekten der Gebärfähigkeit mit Kenntnis und Empathie begegnet wird - anstatt Schwangerschaft und Mutterschaft zum Glückszustand zu verklären und Frauen damit mundtot zu machen.


Sarah Diehl

ist Aktivistin und Publizistin und drehte 2008 den preisgekrönten Dokumentarfilm "Abortion Democracy: Poland/South Africa". Ihr Sachbuch über gewollte Kinderlosigkeit "Die Uhr, die nicht tickt - Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift" erschien 2014 im Arche Literatur Verlag.
http://sarah-diehl.de

Link zum Artikel:
https://www.bpb.de/apuz/290804/die-paragrafen-219-und-218-strafgesetzbuch-machen-deutschland-zum-entwicklungsland

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Quelle:
APuZ - Aus Politik und Zeitgeschichte 20/2019 - 13. Mai 2019, S. 27-33
Schwerpunktthema: Abtreibung
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorinnen
Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2019

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