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VORSORGE/711: Nachlässigkeit und Sorglosigkeit senkt hierzulande die Impfquote (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2015

Impfen
Die Kehrseite des Erfolgs: Nachlässigkeit senkt Impfquote

Von Anne Mey


Die Wirksamkeit von Impfungen ist unbestritten, trotzdem haben wir es nicht geschafft, die Masern auszurotten. Wo liegen die Stolpersteine?


Gesundheitsministerin Kristin Alheit forderte im Rahmen der Europäischen Impfwoche im April die schleswig-holsteinische Bevölkerung auf, den eigenen Impfschutz und den der Kinder zu überprüfen und Impflücken schnell zu schließen: "Erkrankte gefährden nicht nur sich, sondern auch andere, die sich selbst nicht schützen können. Keine andere medizinische Maßnahme hat so zum Erhalt und zum Schutz der Gesundheit beigetragen wie Impfungen", betonte die Ministerin. Das Thema war in der Impfwoche so aktuell wie selten und verschaffte den Impfbefürwortern viel Aufwind: Der Masernausbruch in Berlin sorgte dafür, dass bundesweit in vielen Medien über Impfungen berichtet und über Maßnahmen zur Erhöhung der Impfquoten diskutiert wurde.

Schon 2010 war klar, dass das WHO-Ziel, die Masern bis 2015 in Deutschland auszurotten, scheitern würde - die Durchimpfungsrate ist nicht hoch genug. Bei der Frage nach den Gründen wurde neben den Impfgegnern, die ihre kruden Thesen besonders über das Internet verbreiten, auch die Nachlässigkeit und Sorglosigkeit vieler Menschen ausgemacht. Was unter dem Begriff "Kinderkrankheiten" geführt wird, halten viele Menschen inzwischen irrtümlich für weniger gefährlich. Der Erfolg des Impfens droht damit dazu beizutragen, dass die Gefahren der bekämpften Erkrankungen unterschätzt werden. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe brachte zwischenzeitlich schon eine Impfpflicht ins Spiel. Doch kann ein Zwang das Problem lösen? Welche Fachgruppen sind besonders gefragt? Wie sollte informiert und aufgeklärt werden? Verschiedene Akteure aus dem Gesundheitswesen versuchen, darauf in unserer Titelgeschichte Antworten zu finden.

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Kleiner Pieks - großer Schutz

Impfskeptiker, Sorglosigkeit und Nachlässigkeit als Folge des Erfolgs - Deutschland erreicht seine Impfziele nicht.

Ein Paketbote, der nicht nur die Grüße der Verwandtschaft oder die neuesten Schuhe vom Versandhandel vorbeibringt, sondern gleich eine Ladung Viren frei Haus liefert: Was wie die Einleitung zu einem Hollywood-Katastrophenfilm klingt, sorgte vor einigen Wochen in Hamburg für Schlagzeilen und bei 300 Paketempfängern für Post vom Gesundheitsamt Altona. Der Zusteller war an Masern erkrankt und somit potenzieller Überträger der Krankheit für die belieferten Kunden. Durch den kurzen Kontakt war die Ansteckungsgefahr zwar gering, doch ist dieser Fall nur eine von vielen Infektionsmeldungen in diesem Winter, die ihren traurigen Höhepunkt im Tod eines anderthalbjährigen Kindes in Berlin fand. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) wurden bis zum 28. April 2015 insgesamt 1.865 Masernfälle in Deutschland gemeldet - und damit in vier Monaten schon mehr als in jedem der vergangenen acht Jahre. Die Meldungen sorgen nicht nur für ein breites Presseecho, sondern stoßen auch die Diskussion um das Impfen allgemein erneut an.

Der kleine Junge aus Berlin war nicht geimpft. Er wurde Opfer des Masern-Virus, das laut Vorgaben der WHO bis zum Jahr 2015 in Deutschland eigentlich ausgerottet sein sollte. Laut Dr. Anne Marcic, Referentin für Infektionsschutz beim Schleswig-Holsteinischen Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung, gelten die Masern in einem Land als eliminiert, wenn eine endemische Mensch-zu-Mensch-Übertragung über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten nicht mehr nachgewiesen werden kann. Als Indikator gelte eine dauerhafte Impfquote von mindestens 95 Prozent für zwei MMR-Impfungen im Rahmen von Routineimpfungen auf nationaler, regionaler sowie lokaler Ebene. In Schleswig-Holstein wurde eine Durchimpfungsrate in der Altersgruppe der Schulanfänger 2013 für die 1. Masern-Impfung von 96,4 Prozent gemessen. Die zweite Impfung war aber nur bei 93, 9 Prozent der betroffenen Kinder zu verzeichnen und das WHO-Ziel damit knapp verfehlt.

"Der soziale Gedanke beim Thema Impfen ist nicht weit verbreitet."

"Die Entscheidung zu impfen oder nicht zu impfen wird immer noch von den Eltern auf der gleichen Ebene getroffen, ob man nun ein größeres oder ein kleineres Auto kauft. Dabei wird die Dimension dieser Entscheidung vor allem für die betroffenen Kinder und auch die eigene Erwachsenengesundheit nicht gesehen. Der Staat kommt seiner Informationspflicht nicht nach. Es gibt zwar gute Seiten im Internet. Die findet man jedoch nicht so leicht, während kritische Seiten bei Google als erstes auftauchen", so Dethleff Banthien, Landesverbandsvorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Gibt man bei Google das Stichwort "Impfung" ein, erhält man gut 3,5 Millionen Treffer. Bereits als drittes Ergebnis wird die Seite "impfkritik.de" angezeigt, die sich selbst als "Portal für unabhängige Impfaufklärung" bezeichnet. Auf der Internetpräsenz, deren Inhalte u.a. von der Zeitschrift "impfreport" gespeist werden, sind sämtliche Einwände gegen das Impfen zu finden, die in der Öffentlichkeit und im Internet kursieren, so z. B. dass die Wirksamkeit von Impfungen niemals belegt worden sei. "Eigentlich dürfte es keine kommerziell vertriebenen Impfstoffe geben, wenn diese These tatsächlich zuträfe. Denn nach geltendem Arzneimittelrecht erhält ein Impfstoff nur dann eine Zulassung, wenn nachgewiesen ist, dass er auch wirksam ist. [...] Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Einführung der Schluckimpfung gegen Kinderlähmung Anfang der Sechzigerjahre. Während in der Bundesrepublik im Jahr 1961 noch fast 4.700 Kinder an Kinderlähmung (Poliomyelitis) erkrankten, waren es 1965 bereits weniger als 50 Kinder." So argumentiert das RKI auf seiner Homepage, wo die 20 häufigsten Argumente gegen das Impfen widerlegt werden. Als 1962 die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung in Westdeutschland eingeführt wurde, wurde die Impfung gegen Poliomyelitis und andere Erkrankungen noch überwiegend durch das Öffentliche Gesundheitswesen durchgeführt. Heute erfolgen die Routineimpfungen vor allem in der Arztpraxis: "Dafür finden sich durchaus gute Gründe, z.B. weil der behandelnde Hausarzt seinen Patienten, seine Krankenvorgeschichte kennt und genau weiß, ob eine Impfung nicht intramuskulär injiziert werden darf", erklärt Dr. Boris Friege, Facharzt für Innere Medizin und Anästhesiologie, tätig im Öffentlichen Gesundheitsdienst in Bad Segeberg. Das Gesundheitsamt Segeberg selbst nimmt heute nur noch anlassbezogene Impfungen (z.B. 2009 bei der Neuen Influenza H1N1) oder die jährliche Grippeimpfung im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge der Kreisverwaltung vor. "Der kinder- und jugendärztliche Dienst prüft im Rahmen der Schuleingangsuntersuchungen routinemäßig nach Impflücken. Werden Impflücken erkannt, empfehlen wir, diese bei seinem Hausarzt, Kinderarzt oder Gynäkologen schließen zu lassen."


GIFT IM IMPFSTOFF?

"Impfstoffe enthalten gefährliche Chemikalien, mit denen die Kinder wissentlich vergiftet werden", so ein Einwand gegen Impfungen im Allgemeinen.

Tatsächlich sind laut RKI in einigen Impfstoffen Formaldehyd, Aluminium, Phenol oder Quecksilber enthalten - allerdings in äußerst geringen Konzentrationen, die weit unterhalb toxikologischer Grenzwerte liegen. So dient Formaldehyd dazu, Impfviren abzutöten, Aluminiumhydroxid soll die Immunantwort verstärken und Phenol den Impfstoff haltbar machen.

Die These, dass ein in den USA registrierter Anstieg von Autismusfällen mit dem quecksilberhaltigen Konservierungsmittel "Thiomersal" zusammenhänge, das in manchen Impfstoffen enthalten ist, wurde sowohl von der WHO, dem US-amerikanischen "Institute of Medicine" wie von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA unabhängig voneinander zurückgewiesen. Dennoch hätten die Pharmahersteller auf die heftige Debatte reagiert: Für alle generell empfohlenen Schutzimpfungen sind inzwischen quecksilberfreie Impfstoffe verfügbar.


Insgesamt spreche der Trend für eine zunehmende Impfbereitschaft der Eltern für ihre Kinder, speziell bei Masern. Einen ähnlich ansteigenden Trend gebe es für andere Routineimpfungen wie gegen Windpocken, Mumps, Röteln oder Meningokokken. "Dieser Trend spricht also eher gegen vermehrt impfkritische Eltern, aber: 'Impfvernünftige' Eltern gibt es leider immer noch nicht genug." Eltern erklärten die eigenen Impflücken bei Standardimpfungen oder der ihrer Kinder häufig mit einer gewissen Sorglosig- oder Nachlässigkeit. Sätze wie "Das habe ich wohl vergessen" oder "Das sollte ich wohl nachholen" bekommt Friege daher immer mal wieder zu hören. Manchmal wurde auch einfach der Impfpass nicht mit zur Impfung mitgenommen. Diese Sorglosigkeit mag dem Erfolg der Impfungen geschuldet sein: Viele Infektionskrankheiten seien gerade durch die Schutzimpfungen aus dem Bewusstsein der Bevölkerung und auch einiger Ärzte verschwunden und würden nun fälschlicherweise für harmlos gehalten. Dass sie das aber nicht sind, zeigt nicht nur das Beispiel aus Berlin. Friege erinnert in solchen Fällen an die Komplikationen der vermeintlich unschädlichen Kinderkrankheiten: "Für das Jahr 2012 hat die WHO über 100.000 Masern-Tote weltweit veranschlagt. Ist das wenig oder klingt es harmlos? Auch Mumpsfolgen wie Hodenentzündungen (bis zu 30 Prozent der Fälle, teils mit bleibender Sterilität) oder Rötelnembryopathie kommen dann zur Erwähnung." Insgesamt seien die allermeisten Menschen im ärztlichen Kontakt gesprächsbereit, was ihre Impflücken oder die ihrer Kinder angeht. "Seltener sind Impfskeptiker, die nicht generell ablehnend sind, sich aber auf Komplikationen einzelner Impfungen fokussieren und deswegen Standardimpfungen nicht oder verzögert bei ihren Kindern durchführen lassen. Mit vielen Impfskeptikern kann man aber reden. Echte Impfgegner, also Personen, die eine Impfwirkung generell leugnen, Verschwörungs- und anderen Theorien anhängen oder Masernpartys propagieren, habe ich bewusst noch niemals beraten. In gewisser Weise vielleicht sogar leider nicht. Entweder sind also echte Impfgegner selten oder sie bleiben mit ihren Ansichten gegenüber dem Öffentlichen Gesundheitswesen im Verborgenen."

Kinder- und Jugendarzt Banthien hat in seiner Praxis in Bad Oldesloe immer mal wieder mit Skeptikern, Kritikern und auch Verweigerern zu tun. "Wir versuchen immer wieder, in sachliche Gespräche mit diesen Eltern zu kommen, offen auf deren Fragen zu antworten und ihren Argumenten unsere entgegenzusetzen." Die Argumente indes seien gar nicht das Problem, vielmehr die Zeit für solche aufwendigen Gespräche in der Praxis: "Wir haben kaum Zeit in der Sprechstunde für ein ausführliches Gespräch. Das dauert dann locker mal 30 Minuten." Nach Banthiens Erfahrungen glauben viele Impfgegner, die Immunität durch Wilderkrankung sei besser als durch die Impfung, denn sie halte länger und effektiver. Auch fragliche Langzeitnebenwirkungen führten besorgte Eltern als These gegen das Impfen an. Immer wieder werden auf der ganzen Welt Impfungen mit Autismus in Zusammenhang gebracht. Dieser Mythos ist auf einen einzigen Mann zurückzuführen: Andrew Wakefield verkündete 1998, dass die Kombi-Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln Autismus auslösen könne.

Die Untersuchung des Arztes beruhte auf gerade einmal zwölf Kindern und wurde seitdem durch zahlreiche nachfolgende Studien widerlegt. Dennoch wird das veraltete Ergebnis des Mediziners, dem zwischenzeitlich seine Zulassung entzogen wurde, im Internet immer wieder belebt. Auch die Veranstaltung sogenannter "Masernparties" ist ein Relikt aus längst vergangenen Tagen: Sie nahmen ihren Beginn als "Rötelnparties" in den 1950er und 1960er Jahren und waren vor der Einführung einer entsprechenden Impfung üblich. Seit den 2000ern erleben nun die "Masernparties" einen Aufschwung und sind immer wieder Bestandteil diverser medialer Berichterstattungen. Banthien verurteilt derartige Zusammenkünfte scharf: "Das ist Kindesmisshandlung." So zeitraubend und anstrengend die Auseinandersetzung mit Impfkritikern auch sein mag, letztendlich machten sie laut Banthien aber nur einen sehr kleinen Teil der Gesamtpatientenzahl aus: "Die meisten Eltern empfinden Impfungen als hochrelevant und sind dankbar und glücklich, ihre Kinder auf diese Weise schützen zu können."


Tabelle über Impfschutz bei Aufnahme in eine Kindertagesstätte in SH in Prozent


Auch die Zahlen des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung belegen, dass die Hysterie um Impfungen und eventuell daraus resultierende Schäden unbegründet ist. Von 2010 bis einschließlich 2014 erreichten das Landesamt für soziale Dienste als zuständige Behörde gerade einmal 35 Anträge auf Entschädigung infolge von Impfschäden. Anerkannt wurden davon lediglich sechs Anträge.

Offenbar stellen die Impfkritiker also nicht die Hürde zum Erreichen der Impfziele dar. Woran aber hapert es dann? "Seit einigen Jahren wird in Deutschland - und auch in Schleswig-Holstein - eine Verschiebung der Masernerkrankungen in die Altersgruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen beobachtet", so Marcic. Ungeimpfte Jugendliche oder junge Erwachsene spielten bei Ausbruchssituationen eine bedeutende Rolle, da bei ihnen Impflücken bestünden, die "mitgewachsen" sind. Diese Situation habe u.a. 2010 zur geänderten STIKO-Empfehlung zur Impfung (nach 1970 geborener) Erwachsener gegen Masern geführt. Im Gegensatz zu Kindern, die durch regelmäßige U-Untersuchungen gut erreicht werden, haben Jugendliche und junge Erwachsene keine oder sehr wenige Arztkontakte. Impfungen sind nach Auskunft von Dr. Svante Gehring, hausärztlich tätiger Internist in Norderstedt, vor allem noch Jugendschutzuntersuchungen (J1) oder Gesundheits-Checks ein Thema. Doch den Impfpass habe davon kaum einer griffbereit.

Vor allem junge Männer sehen bis auf akute Beschwerden keine Veranlassung, einen Arzt aufzusuchen. Bei den Mädchen und jungen Frauen besteht zumindest die Möglichkeit, über die Gynäkologen Einfluss auf das Impfverhalten zu nehmen. "Frauenärzte sind häufig die Hausärzte der Frauen und sehen Frauen und Mädchen regelmäßig im Rahmen der Empfängnisregelung, Schwangerschaftsbetreuung und Früherkennung bis ins hohe Alter. Wenn bei diesen Gelegenheiten alle Möglichkeiten zur Impfpasskontrolle, Impfberatung und Impfung genutzt werden, haben Frauenärzte einen großen Einfluss auf die Erhöhung des Impfschutzes der Bevölkerung", so Doris Scharrel, Landesvorsitzende des Berufsverbandes der Frauenärzte e.V. "Spätestens bei den ersten Gesprächen wegen Kinderwunsch werden Frauen aktiv und fragen nach dem Impfschutz für die Schwangerschaft. Es ist im Praxisalltag die Aufgabe des behandelnden Frauenarztes, nach dem Impfpass zu fragen und den Impfschutz zu überprüfen. Geschulte Praxismitarbeiterinnen und eine gute Impfsoftware erleichtern den Aufwand." Die Frauen fungierten als Gesundheitsmanager ihrer Familien, als Multiplikatoren für den Impfschutz der eigenen Familie - und das über verschiedene Generationen. So beschäftigen sich Schwangere auch mit der Gefährdung durch eventuelle Kontaktpersonen und sprechen ihre nähere Umgebung auf den Impfschutz, z.B. gegen Röteln oder Keuchhusten an. So schützen Mütter auch ihre Säuglinge vor den Gefahren einer Infektion. Zusätzlich geben geimpfte Mütter ihren Neugeborenen und gestillten Säuglingen über den sogenannten "Nestschutz" einen zeitlich begrenzten natürlichen Schutz vor Infektionserkrankungen durch Antikörper mit, die von der Mutter auf das Kind übertragen werden. "Der Nestzschutz ist eine besondere Form der passiven Immunisierung. Dieser Schutz wird vor der Geburt für z.B. Masern, Mumps und Röteln aufgebaut und gibt einem reifen Neugeborenen einen gewissen Schutz für etwa vier Monate", so Scharrel. "Eine mütterliche Keuchhusteninfektion führt jedoch nicht zu übertragbaren Antikörpern und somit nicht zu einem Nestschutz des Babys. Da Erwachsene mehrfach im Leben an Keuchhusten erkranken können, stecken sie dabei unbemerkt die Kinder an. Eltern und enge Verwandte sind dabei die häufigste Infektionsquelle für die Babys."

"Aus Überlegungen zum Kindeswohl kann eine Impfpflicht sinnvoll sein."

Angesichts der hohen Zahl von Maserninfektionen drohte Bundesgesundheitsminister Herrmann Gröhe zwischenzeitlich mit einer Impfpflicht. Wer ohne medizinische Notwendigkeit seinem Kind den Impfschutz verweigert, schade nicht nur diesem Kind, sondern auch Kindern, die für die Impfung beispielsweise zu klein seien. Doch kann ein Impfzwang die Lösung sein? Banthien plädiert aus Überlegungen zum Kindeswohl dafür. Auch Friege vom Öffentlichen Gesundheitsdienst würde sich dafür aussprechen: "Ich ganz persönlich halte eine Wiedereinführung der Impfpflicht für sinnvoll. Derzeit ist es so, dass de facto Eltern entscheiden, ob ihre Kinder geimpft werden. Oder härter ausgedrückt: In Deutschland dürfen Erziehungsberechtigte entscheiden, ob ihr Kind an einer impfpräventablen Infektionskrankheit erkranken darf und unter Umständen sterben muss. Die Impfung in den ersten Lebensjahren bzw. den ärztlichen Rat dazu lehnt jedoch nicht der Impfling selbst ab, weil er es in den ersten Lebensmonaten und -jahren eigenverantwortlich überhaupt nicht kann. Und die von den Eltern vorgebrachten Gründe sind in der Regel keine medizinischen, sondern weltanschauliche oder medizinisch unbegründete Befürchtungen und Ansichten, die die Kinder ebenfalls nicht selbst vertreten können bzw. entwickelt haben." Einige Kinder dürften aufgrund eines Immundefektes nicht mit Lebendimpfstoffen geimpft werden. Diese profitierten aber von einer durchgeimpften Bevölkerung durch die Herdenimmunität. Anderer Meinung ist in diesem Zusammenhang Anne Marcic: "Die Einführung einer Impfpflicht würde der Gesamtidee aus meiner Sicht eher schaden, da insgesamt mehr Widerstand provoziert würde. Bei Einführung einer generellen Impfpflicht ist eine massive Mobilisierung der Impfgegnerschaft zu erwarten, dies wäre im Ergebnis voraussichtlich kontraproduktiv. Zudem müsste einer Impfpflicht ein Impfzwang folgen, dessen Durchsetzung fraglich ist." Stattdessen schlägt die Referentin für Infektionsschutz den Ausbau der Informationen zum Impfen und möglichst niedrigschwellige Impfangebote vor. Auch Regelungen in Satzungen von Einrichtungen oder Arbeitsverträgen könnten ihrer Meinung nach eine Alternative zur Impfpflicht sein. Einen ersten Schritt ist Schleswig-Holstein bereits im Jahr 2000 gegangen: Damals wurde die ärztliche Bescheinigung bei Aufnahme in Kindertageseinrichtungen eingeführt. Sie beinhaltet laut Marcic Angaben zu relevanten Erkrankungen, einschließlich Infektionserkrankungen, und zum Impfstatus. Mit dem Ausstellen der ärztlichen Bescheinigung soll den Ärzten die Möglichkeit zur Überprüfung und Vervollständigung des Impfschutzes gegeben werden. Außerdem erhält die jeweilige Kita eine Information über bestehende (chronische) Infektionserkrankungen und den bestehenden Impfschutz der Kinder. "In der Regel werden die Kinder trotz fehlenden Impfschutzes aufgenommen. Die Kitas haben jedoch die Möglichkeit, in ihren Satzungen zu regeln, dass nur geimpfte Kinder aufgenommen werden. Von dieser Möglichkeit machen nach meinen Informationen z.B. Waldkindergärten Gebrauch", so die Referentin für Infektionsschutz. Auch auf Bundesebene soll nachgezogen werden. Im ersten Entwurf des Präventionsgesetzes, das im März vorgestellt wurde, ist die Überprüfung und Beratung zum Impfstatus vor Besuch einer Kita als Mittel zur Gesundheitsförderung aufgenommen worden. Die Entscheidung, ob und gegen welche Erkrankungen ein Kind geimpft wird, obliegt dann jedoch immer noch den Eltern.


Erst besondere Situationen wie der aktuelle Masernausbruch sensibilisieren die Bevölkerung für das Thema: "Im Rahmen des Masernausbruchs 2014 war unser Gesundheitsamt gehalten, das Betretungsverbot einer Grundschule für alle Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer ohne Immunschutz gegen Masern auszusprechen. Wir haben dabei beobachtet, dass einige Eltern dann sehr bemüht waren, die Schutzimpfung gegen Masern bei ihren Kindern schnell nachzuholen", berichtet Friege. Doch müssen erst solche Extremsituationen auftreten, um die Menschen zur Schutzimpfung zu bewegen? "Nicht erst eine Masernwelle in Berlin sollte zum Impfen motivieren. Der soziale Gedanke beim Thema Impfen - durch meine Impfung schütze ich auch andere - ist nicht weit verbreitet", meint Scharrel dazu.

Einig sind sich die Akteure im Gesundheitswesen, dass die Information der Bevölkerung der Schlüssel zu einer höheren Impfquote in Deutschland sein muss: "Dafür müssten alle an einem Strang ziehen. Vor allem müsste die Öffentlichkeit intensiv von offizieller Seite über Wirkungen und Nebenwirkungen und den Wert der Impfungen informiert werden", so Kinderarzt Banthien. "Zur Verbesserung des Impfstatus muss ein Informationsangebot mit einem Impfangebot Hand in Hand gehen", meint Marcic. Das Land hat sich vorgenommen, das Informationskonzept der Impfkampagne Schleswig-Holstein zu überarbeiten. Kernelement wird eine Internetplattform sein, die dazu beitragen soll, das Verständnis für und die Akzeptanz von Impfungen sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der Bevölkerung zu erhöhen. Zusätzlich wird die Zielgruppe junger Erwachsener durch Impfaktionstage an Hochschulstandorten angesprochen. Außerdem müssen laut Marcic auch Impfhindernisse beseitigt werden, z.B. die Vorgabe, dass Betriebsärzte aktuell keine Standardimpfungen zulasten der GKV verabreichen dürfen. Dadurch werde eine gute Möglichkeit verpasst, junge Erwachsene zu erreichen, die kaum andere Arztkontakte hätten. Zudem sollte jeder Arztbesuch von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen dazu genutzt werden, die Impfdokumentation zu überprüfen und ggf. den Impfschutz zu vervollständigen. Immerhin gebe es in Schleswig-Holstein keine abrechnungstechnischen Hindernisse. Kinder- und Jugendärzte könnten die Eltern mitimpfen und Gynäkologen die Ehemänner ihrer Patientinnen.


DER KAMPF MIT DEM IMPFPASS

Der internationale Impfausweis wird in Deutschland nach § 22 Infektionsschutzgesetz für jedes Neugeborene ausgestellt und soll durchgeführte Impfungen dokumentieren. Doch kaum jemand bei hat nach Auskunft von Dr. Svante Gehring, Facharzt für Innere Medizin, seinen Impfpass griffbereit, um anstehende Impfungen kontrollieren zu lassen. Doch ist ein Papierausweis noch zeitgemäß? "Das wäre etwas für die elektronische Gesundheitskarte, aber bis dahin haben wir nichts Besseres. In den Praxen ist im Praxis-EDV-System ein Recall-System integriert, es muss nur genutzt werden", meint Gehring. Wenn man seinen Impfpass nicht mehr findet, bleibe einem derzeit nur, bei den entsprechenden Haus- und Kinderärzten nachzufragen, denn diese müssten die Impfungen dokumentieren, so der Internist aus Norderstedt. Wann welche Impfungen notwendig sind, können Patienten auch selbst in Erfahrung bringen und ihren Arzt gezielt darauf ansprechen: "Die KBV hat einen neuen Flyer zu Impfungen herausgegeben (www.kbv.de/html/5505.php), der gibt jedem einen guten Überblick."


Friege zieht insgesamt eine vorsichtig positive Bilanz: Einiges sei bisher mit Aufklärung und Informationen, vor allem bei den Kindervorsorgeuntersuchungen, im Schwerpunkt bei U4 bis U9, erreicht worden. Außerdem gebe es inzwischen viele Infobroschüren zu impfpräventablen Erkrankungen in mehreren Sprachen. "Pfiffige Aktionen wie die 'Deutschland sucht den Impfpass' Plakate der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung halte ich für geeignet, humorvoll daran zu erinnern, dass die eigenen Schutzimpfungen nicht erst hinterfragt werden sollten, wenn eine geplante Fernreise ansteht."


Randnotizen

1.865 Masernfälle wurden bis Ende April in ganz Deutschland gemeldet.

93,9 % der Schulanfänger im Jahr 2013 in Schleswig-Holstein haben die Masern-Impfung wie empfohlen zwei Mal erhalten.

12 Monate darf eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung von Masern nicht mehr nachgewiesen werden, damit die Krankheit als eliminiert gilt.

- Die Krankenkassen in Schleswig-Holstein informieren ihre Mitglieder regelmäßig zum Thema Impfen: z.B. über Newsletter und Kundenmagazine (DAK), Broschüren und Pressearbeit (TK) oder auch Beteiligungen an Aufklärungs- und Impfaktionen der AG Impfen unter Federführung des Landes Schleswig-Holstein (AOK).

STIKO
Die Ständige Impfkommission hat derzeit 17 Mitglieder, die als wissenschaftlichen Standard akzeptierte Impf-Empfehlungen entwickeln.

RKI
Das Robert Koch-Institut übernimmt die Aufgabe, medizinische Maßnahmen zu entwickeln, um die Verbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern. In § 4 des Infektionsschutzgesetzes sind die Aufgaben des RKI festgeschrieben.

PEI
Die staatliche Zulassung und Überwachung von Impfstoffen sowie die Erfassung von Impfkomplikationen übernimmt in Deutschland das Paul-Ehrlich-Institut. Es handelt sich dabei um das Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201505/h15054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die Durchimpfungsrate bei Kindern ist verhältnismäßig hoch - Knackpunkt sind Jugendliche und junge Erwachsene.

- Dr. Svante Gehring ist hausärztlich tätiger Facharzt für Innere Medizin in Norderstedt. Er hat bisher noch keinen Fall von sogenannten "Kinderkrankheiten" bei Erwachsenen in seiner Praxis.

- Für Doris Scharrel spielen die Frauenärzte eine wesentliche Rolle bei der Erhöhung des Impfschutzes in der Bevölkerung.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Mai 2015, Seite 1 + 6-10
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-127, -119, Fax: -188
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2015

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