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ADRESSEN/098: Sprechstunde für Contergangeschädigte - Stärkerer Austausch erwünscht (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2015

Contergan
Stärkerer Austausch erwünscht

Von Dirk Schnack


In der Hamburger Schön-Klinik hat Dr. Rudolf Beyer eine Sprechstunde für Contergangeschädigte eingerichtet.


Je kleiner eine Patientengruppe, desto schwieriger ist oft die medizinische Versorgung. Bei Contergangeschädigten kommt hinzu, dass das Thema zunehmend aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwindet. Dabei werden die Probleme auch mehr als 50 Jahre nach dem Skandal für die rund 2.500 Betroffenen nicht geringer.

Im Gegenteil: Je älter die Betroffenen werden, desto stärker haben sie mit den Folgen ihrer Dysmalien zu kämpfen, wie der Bundesverband der Contergangeschädigten auf seiner Homepage deutlich macht. "Zu den ursprünglich bereits zum Teil schweren Conterganschädigungen stellen sich durch die jahrzehntelange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken und hat in Muskulatur heute zusätzlich Folgeschäden ein, die einen ständig steigenden Bedarf z.B. an pflegerischen und therapeutischen Leistungen erfordern", heißt es dort.

Einer, der sich mit diesem Problem auseinandersetzt und die Folgeschäden behandelt, ist der Hamburger Anästhesist und Schmerztherapeut Dr. Rudolf Beyer. An der Schön-Klinik in Hamburg-Eilbek hat Beyer vor wenigen Monaten eine Anlaufstelle in Form einer Sprechstunde für diese Patientengruppe eingerichtet - in dieser Form ist das Angebot nach seinen Angaben bundesweit derzeit einmalig. Das liegt auch daran, dass die Sprechstunde aufwendig ist und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachdisziplinen erfordert. "Ich wünsche mir einen stärkeren Austausch", sagt Beyer, der jeden Mittwoch in seinem Sprechzimmer in der Eilbeker Klinik für Conterganopfer da ist. Die Sprechstunde für einen neuen Patienten dauert allein bei ihm rund 90 Minuten, anschließend kommen weitere 60 bis 90 Minuten für eine orthopädische Untersuchung hinzu. In Folgeterminen werden dann andere Fachdisziplinen nach Bedarf eingebunden.

Der hohe Zeitaufwand ist erforderlich, weil viele der Patienten lange Zeit nicht mehr beim Arzt waren. Aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung und der Folgeerscheinungen sind sie in einen normalen Praxisablauf schwer integrierbar. "Die Patienten haben zum Teil zwei Ordner mit zehn Zentimeter dicken Krankenakten dabei. Das sprengt jede normale Praxisorganisation", sagt Beyer. Nun kommen weitere Probleme auf die Betroffenen zu. "Was wird aus uns, nun da wir älter werden? Wie können wir ein würdevolles Leben weiterführen mit den wachsenden Einschränkungen aufgrund von Folgeschäden? Wer kommt für unsere entstandenen Rentenausfälle - angesichts einer zum Teil völlig abweichenden Erwerbsbiografie - auf? Wer tritt an die Stelle der Eltern, die seit Jahrzehnten unsere Pflege und Versorgung sichergestellt haben, nun aber selbst hilfe- und pflegebedürftig werden?" Diese offenen Fragen stellt der Verband auf seiner Homepage.

Beyer wurde durch eine Kollegin, die von einem Conterganopfer auf die schwierige medizinische Versorgung hingewiesen wurde, auf die Situation aufmerksam. Andere Kliniken hatten schon abgewunken. In Absprache mit der Klinikleitung und der Gesundheitsbehörde führte Beyer nach einjähriger Vorarbeit und Absprachen die mit der orthopädischen Untersuchung gekoppelte Sprechstunde ein. Er erhielt eine kassenärztliche Zulassung für die Sprechstunde, was er nicht als Konkurrenz zu den niedergelassenen Kollegen verstanden wissen will. Bei vielen Patienten muss er zunächst ein aufwendiges Schmerzassessment voranstellen, für das in einigen Fällen auch ein kurzstationärer Aufenthalt erforderlich ist. Verbessern könnte Beyer die Versorgung aus seiner Sicht, wenn er auch mit niedergelassenen Kollegen aus Fachgruppen zusammenarbeiten könnte, die nicht an seiner Klinik vertreten sind. Insbesondere mit HNO-Ärzten, Augenärzten, Psychologen, Zahnärzten und Kardiologen würde er gerne kooperieren. "Mein Ziel ist ein stärkerer Austausch und ein kleines Netzwerk", sagt Beyer, der auch ein Symposium zur Versorgung von Contergangeschädigten organisieren möchte.

Beyer strebt darüber hinaus eine bessere Dokumentation der Beschwerden an, weil die Betroffenen damit ihre Ansprüche etwa gegenüber Rentenversicherungsträgern besser durchsetzen können. Dies ist bislang für viele schwierig, eben weil die medizinische Versorgung und deren Dokumentation nicht optimal sind und viele Folgeschäden erst jetzt auftreten.

Wie wichtig Information über diese Patientengruppe ist, zeigen Wissenslücken auch unter Ärzten. So ist vielen heute nicht mehr bekannt, dass es rund 5.000 durch Contergan missgebildete Kinder in Deutschland gab, von denen rund 40 Prozent kurz nach der Geburt starben. Auch das breite Spektrum an Fehlbildungen ist vielen unbekannt. Neben Dysmalien gehören u.a. Hörschädigungen oder Lähmungen der Augenmuskulatur dazu. Unbekannt ist zumindest in der Öffentlichkeit auch weitgehend, dass der Wirkstoff Thalidomid nicht vom Arzneimittelmarkt verschwunden ist und in einigen Ländern u.a. zur Behandlung einer speziellen Form von Brustkrebs eingesetzt wird. Für Beyer sind diese Wissenslücken Grund genug, sich stärker mit dem Thema auseinanderzusetzen und den Austausch mit Kollegen zu intensivieren.


Vita

- Medizinstudium in Hamburg
- Tätigkeit als Taucharzt am Druckkammerzentrum Hamburg und auf den Malediven; u.a. Expeditionen in der Antarktis und rund um Spitzbergen
- Facharztausbildung in Hamburg, Reading, Walsrode und Elmshorn
- Promotion 2004
- Seit 2007 Facharzt an der Schön-Klinik Eilbek


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Rudolf Beyer hat in Hamburg eine Sprechstunde für Conterganopfer eingerichtet.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201504/h15044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, April 2015, Seite 20
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Telefon: 04551/803-127, -119, Fax: -188
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2015

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