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ETHIK/798: Der Hirntod - Kein sicheres Todeszeichen! (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 93 - 1. Quartal 2010
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Der Hirntod: Kein sicheres Todeszeichen!

Von Rainer Beckmann


Der folgende Beitrag setzt die Debatte über den Hirntod fort, die in "LebensForum" seit einigen Ausgaben geführt wird. Nachdem in der Ausgabe Nr. 91(3/2009) zuletzt ein Neuropathologe und Theologe den Hirntod "medizinisch-pragmatisch als Kriterium zum Nachweis des Todes des ganzen Menschen" verteidigt hat, kommt hier nun ein dezidierter Kritiker des Hirntod-Konzeptes zu Wort.


Die Befürworter des Hirntod-Konzepts, welches den irreversiblen Ausfall aller Gehirnfunktionen mit dem Tod des Menschen gleichsetzt, erschleichen sich die Zustimmung vieler Menschen in erster Linie mit einer Mystifizierung des Gehirns. Das Gehirn ist sicherlich ein besonderes Organ des Menschen, aber keineswegs "das übergeordnete Steuerorgan aller Lebensvorgänge", wie Prof. Dr. Stephan Patt zu Beginn seines Artikels im Lebensforum Nr. 91, S. 26ff, schreibt. Wäre das Gehirn tatsächlich ein solches Steuerorgan "aller" Lebensvorgänge, dann müssten mit dem Tod des Gehirns "alle" Lebensvorgänge zum Erliegen kommen. Der Mensch wäre dann zweifellos tot.

In Wahrheit existieren jedoch in einem "hirntoten" Patienten sehr viele Lebensvorgänge: das Herz schlägt (ohne Impulsgebung durch das Gehirn), das Blut zirkuliert in den Adern und erreicht fast alle Körperteile, die Sauerstoffanreicherung des Bluts in den Lungenbläschen funktioniert, Nahrung wird im Verdauungstrakt verwertet und die Nährstoffe werden aufgenommen, das Blut wird gereinigt, Abfallstoffe werden über Nieren und Darm ausgeschieden, das Immunsystem bekämpft eingedrungene Fremdkörper, das Rückenmark produziert neue Blutkörperchen und vermittelt verschiedene Muskelreflexe auf äußere Reize, Haare und Nägel wachsen, Wunden heilen. Wenn man es genau nimmt, bleibt trotz Ausfall der gesamten Gehirnfunktion der menschliche Körpers als Ganzes lebendig - abzüglich des Gehirns.

Die von den Hirntod-Befürwortern für äußerst sicher gehaltenen Kriterien zur Bestimmung des "Hirntodes" weisen deshalb - wie der Name schon sagt nicht einfach "den Tod des Menschen" nach, sondern lediglich den Tod eines Organs, nämlich des Gehirns. Da es aber bei der Hirntod-Debatte um die Frage nach dem Tod des Menschen geht, muss der Nachweis geführt werden, dass der Tod eines Organs des Menschen gleichzeitig auch als Tod dieses Menschen interpretiert werden kann. Von daher ist es völlig irrelevant, ob Fehler bei der Hirntod-Diagnose sicher ausgeschlossen werden können (vgl. Patt, LF 91, S. 27). Selbst wenn es eine 100-prozentige Sicherheit gäbe, wäre dies nur ein Beweis für die Validität der Diagnostik, nicht jedoch für die Validität der Gleichsetzung von "Hirntod" und Tod des Menschen.

An dieser Stelle ist davor zu warnen, einzelne Fehldiagnosen als "Beweis" für die Unrichtigkeit des Hirntod-Konzepts anzuführen, wie dies manche Hirntod-Gegner tun. Denn die theoretische Grundlage der Hirntod-Konzeption, die den irreversiblen Funktionsausfall der gesamten Gehirnfunktion als Tod des Menschen deutet, kann niemals durch die Genesung eines "Hirntoten" widerlegt werden. Eine solche Genesung kann allenfalls zeigen, dass ein irreversibler Funktionsausfall gerade nicht vorgelegen hat und damit die Voraussetzungen für die Hirntod-gleich-Tod-These in diesem Fall nicht gegeben waren. Man kann auf diese Weise Mängel der diagnostischen Maßnahmen aufzeigen, aber nicht das dahinter stehende Konzept ad absurdum führen.

"Der 'Hirntod' ist der 'Organtod' des menschlichen Gehirns."

Wenig überzeugend sind aber auch "Argumente" von Hirntod-Befürwortern, in denen äquivoke Begriffe mehr Verwirrung stiften als Klarheit. So verweist Patt auf eine Stellungnahme "namhafter Neurologen und Theologen" der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, die "auf ein medizinisch wesentliches, unter Nichtmedizinern aber wenig bekanntes Faktum hingewiesen" hätten, nämlich dass beim Hirntod eine Gehirnschwellung "die vollständige Blockade der Gehirndurchblutung" bewirke, "welche zum Absterben des Gehirns führt. Der Hirntod ist somit zeitlich am Ende des Sterbeprozesses und nicht mittendrin anzusiedeln" (vgl. Patt, LF 91, S. 27). Dass es beim "Hirntod" irgendwie zum Absterben des Gehirns kommt, dürfte auch dem Laien klar sein. Die Schlussfolgerung, die der Autor zieht, dürfte dagegen auch dem Fachmann rätselhaft bleiben, weil das mitgeteilte Faktum allenfalls etwas über das Ende des Sterbeprozesses des Gehirns aussagen kann, nichts aber über den Sterbeprozess des Menschen. Denn ob der Sterbeprozess des Menschen mit dem Eintritt des "Hirntodes" beendet ist, ist ja gerade die Frage und ergibt sich nicht einfach so ("somit") aus der Mitteilung, dass das Gehirn abgestorben sei.

Da es um den Tod des Menschen geht, ist zunächst die Frage zu beantworten: Was ist der Mensch? Dieser Artikel bietet nicht genügend Raum, eine umfassende philosophische Anthropologie zu entfalten. Es muss hier der Hinweis genügen, dass es unter den Vertretern der Hirntod-These viele Verfechter eines biologisch-materialistischen Menschenbildes gibt, das die menschliche Existenz auf seine naturwissenschaftlich erfassbaren Phänomene reduziert und zum Beispiel das Denken oder Fühlen mit den biochemischen Vorgängen im Gehirn gleichsetzt. Aus einer solchen Perspektive heraus könnte man das Erlöschen der im Gehirn angesiedelten Fähigkeiten des Menschen durch den Funktionsverlust des Gehirns durchaus als "Tod" dieses Menschen ansehen. Allerdings stellt sich dann ganz grundsätzlich die Frage, warum ausgerechnet die im Gehirn ablaufenden biochemischen Vorgänge wichtiger sein sollten als andere biochemische Vorgänge im menschlichen Körper und weshalb dem noch nicht "hirntoten" Menschen überhaupt eine besondere Achtung gebühren sollte, wenn es doch eigentlich nur um "Biomasse" geht.

Anders sieht es aus, wenn man den Menschen als ein Lebewesen betrachtet, das in seiner Verfasstheit über das rein Biologisch-materielle hinaus auch eine nicht-materielle, "geistige" Ebene aufweist, die im christlich-abendländischen Kulturkreis traditionell als "Seele" bezeichnet wird. Auf diese wird auch von einigen Befürwortern des Hirntod-Konzepts abgestellt, wenn es zum Beispiel heißt, dass mit Feststellung des "Hirntodes" der betroffene Mensch aufgehört habe, "ein Lebewesen in körperlich-geistiger oder in leiblich-seelischer Einheit zu sein" (Erklärung Wissenschaftlicher Fachgesellschaften zum Hirntod, 1994).

Auch Patt spricht vom Tod als Verlust der "ganzheitlichen, übergeordneten Leib-Seele-Einheit" (vgl. Patt, LF 91, S. 28). Weshalb der "Hirntod" den "Verlust der Leib-Seele-Einheit" beweisen soll, wird aber nicht so recht klar. Zwar sei "das Geistige im Menschen vom Gehirn abhängig", damit werde jedoch "weder das Lebensprinzip Seele noch der Geist mit dem Gehirn gleichgesetzt" - so Patt. Wenn die Seele aber mit dem Gehirn nicht gleichgesetzt wird, dann fragt sich, wie man vom Ausfall bzw. Absterben dieses einzelnen Organs auf die Trennung der Seele vom Leib des Menschen insgesamt schließen kann. Dies wäre vielleicht plausibel, wenn man behaupten könnte, dass die Seele des Menschen räumlich im Gehirn anzusiedeln ist. Dafür gibt es aber keinerlei überzeugende Belege. In der abendländisch-christlichen Philosophie versteht man die Seele als das belebende Prinzip des Leibes: anima forma corporis. Die Seele durchdringt also den gesamten Leib des Menschen - und nicht etwa nur das Gehirn.

Der "Tod des Gehirns" hat zwar gravierende Auswirkungen für den weiteren Bestand und die Aktivitäten der Geist-Seele-Einheit, er ist aber nicht einfach mit dem "Tod des Menschen" identisch. Wenn das Gehirn als körperliche Grundlage für bestimmte Auswirkungen der "Beseelung" des Menschen nicht mehr funktionsfähig ist, kann sich das geistigseelische Element zweifellos nicht mehr in der üblichen Weise zeigen, da ungünstige materielle Voraussetzungen dies verhindern. Die Unmöglichkeit, sich auswirken zu können, muss aber nicht zwingend darauf beruhen, dass eine geistige Ebene überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Ein in anderem Zusammenhang verwendetes Beispiel des Philosophen Robert Spaemann hilft diesen Zusammenhang zu illustrieren. Wenn jemand sagt: "Ich kann Klavier spielen", und er wird aufgefordert, zu spielen, obwohl gar kein Klavier vorhanden ist, dann ist die Fähigkeit des Klavier-spielen-Könnens auch dann vorhanden, wenn sie mangels Klavier zu keiner wahrnehmbaren Auswirkung führen kann.

Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass mit den in der Medizin angewandten naturwissenschaftlichen Methoden ein direkter Nachweis über das Vorhandensein oder Fehlen der geistigen Ebene/Seele bei einem "Hirntoten" nicht geführt werden kann. Die Tests der Hirntod-Diagnostik mögen das Fehlen elektrischer Reize in der Hirnrinde (Null-Linien-EEG) oder das Fehlen von Reflexen des Hirnstamms beweisen. Ein "Seelen"-Test ist jedoch prinzipiell ausgeschlossen, da immaterielle Substanzen ihrem Wesen nach durch naturwissenschaftliche Methoden nicht erfasst werden können. Das Gleiche gilt für jedes nicht biologisch-materielle und damit letztlich metaphysische Merkmal, das Menschen mit Begriffen wie "Personalität" oder ähnlichem zugeschrieben wird.

Soweit sich Patt in Zusammenhang mit der Leib-Seele-Problematik auf eine Äußerung von Thomas von Aquin beruft, nimmt er diese nur zur Hälfte ernst. Patt schreibt: "Thomas von Aquin sagt: 'Die Seele vereint sich mit dem Körper als Form ohne Mittleres, aber als Beweger durch ein Mittleres' - wobei das Mittlere - der Vermittler - das Gehirn ist." (vgl. Pan, LF 91, S. 28) Das besagt hinsichtlich der Vermittlungsfunktion des Gehirns genau das, was oben bereits ausgeführt wurde: ohne ein funktionsfähiges Gehirn kann der Mensch seine "geistige Seite" nicht zeigen. Aber als "Form" vereint sich die Seele gemäß Thomas von Aquin mit dein Körper "ohne Mittleres" - also ohne Gehirn. Unter Form wird in der scholastischen Philosophie das innere Wesensprinzip einer Sache bezeichnet, bei Lebewesen dessen Lebensprinzip. Somit kann Thomas von Aquin gerade nicht für die Hirntod-These in Anspruch genommen werden.

"Der Mensch ist keine 'Biomasse', sondern 'Leib-Seele-Einheit'."

Wenn der Mensch eine Leib-Seele-Einheit ist, liegt der Tod des Menschen im Zerbrechen dieser Einheit. Da aber das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein der Seele einem direkten Nachweis mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht zugänglich ist, kann man sich dem Problem der sicheren Todesfeststellung nur indirekt nähern. So wie sich das Bestehen der Leib-Seele-Einheit in "Lebenszeichen" äußert, kann umgekehrt der Tod, die Trennung von Leib und Seele, indirekt am Verlöschen der Lebenszeichen erkannt werden. Der Tod ist so banal es klingt - das Ende des Lebens.

Als "sichere Todeszeichen" werden üblicherweise Leichenstarre, Leichenflecken und Verwesung genannt. Diese Zustände sind von weitestgehendem Fehlen jeglicher Lebenszeichen gekennzeichnet. Zumindest alle inneren Organe sind völlig funktionsunfähig geworden. Nur noch einige Zellen des Skeletts oder die Hornhaut können zu den Zeitpunkten, an denen "sichere Todeszeichen" auftreten, ihre "Lebendigkeit" im Sinne der Funktionsfähigkeit erhalten haben. Diese "Inseln" einzelner noch funktionstüchtiger Gewebeteile oder Zellen bilden ersichtlich keinen in sich zusammenhängenden, "ganzheitlichen" Organismus mehr. Wer auf der sicheren Seite bleiben möchte, wird daher das Auftreten der "sicheren Todeszeichen" abwarten.

Das Hirntod-Konzept setzt dagegen zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt an, nämlich dann, wenn noch viele Lebenszeichen vorhanden sind. Es geht schließlich darum, besonders "frische" Organe für Transplantationszwecke zu gewinnen. Seine Verfechter müssen deshalb die schwierige Aufgabe bewältigen, ihre Behauptung vom bereits eingetretenen Tod des Menschen und das Vorliegen offensichtlicher Lebenszeichen auf einen Nenner zu bringen. Das Hirntod-Konzept ist aus diesem Grund mindestens als "kontraintuitiv" zu bezeichnen. Das räumen Hirntod-Befürworter ohne Weiteres ein, versichern jedoch im gleichen Atemzug und in wohlgesetzten, hochwissenschaftlich anmutenden Worten, dass die zahlreichen Lebensäußerungen einen falschen Eindruck erweckten. Der äußere Schein des schlafähnlichen Zustandes "hirntoter" Patienten sei letztlich eine Täuschung. Ein Organismus sei - so der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer in einer Erklärung von 1993 - bereits als tot anzusehen, "wenn die Einzelfunktionen seiner Organe und Systeme sowie ihre Wechselbeziehungen unwiderruflich nicht mehr zur übergeordneten Einheit des Lebewesens in seiner funktionellen Ganzheit zusammengefasst und unwiderruflich nicht mehr von ihr gesteuert werden".

Ob dieses Todeskriterium - Verlust der Integration zur körperlichen Ganzheit - (Patt spricht ebenfalls mehrfach von "Integration" und von "Integrationsorgan Gehirn", vgl. Patt, LF 91, S. 27) in jedem Detail überzeugend ist, soll hier dahinstehen. Es beschreibt jedenfalls nicht den "Hirntod", zu dessen Rechtfertigung es formuliert ist. Denn bei konkreter und unvoreingenommener Betrachtung kann keine Rede davon sein, dass das Gehirn das alleinige und entscheidende Integrationsorgan des menschlichen Körpers ist, welches die Organe des Körpers "zur übergeordneten Einheit des Lebens in seiner funktionellen Ganzheit" zusammenfasst und steuert.

Zunächst sind die höheren Hirnfunktionen des Bewusstseins, Denkens etc. (angesiedelt im Großhirn) für die geforderte "Einheit" und "funktionelle Ganzheit" entbehrlich, da auch Bewusstlose oder Wachkomapatienten ausdrücklich von den Vertretern der Ganzhirntod-These nicht für tot gehalten werden (so auch Patt). Entscheidend sollen vielmehr die Funktionen des Hirnstamms sein. Hier sind zum Beispiel einige Reflexe angesiedelt, wie der Husten-, Pupillen-, Blinzel- und Okulozephalreflex (die reflektorische Bewegung der Augäpfel bei plötzlicher Kopfdrehung). Liegt einer dieser Reflexe vor, ist das Hirntod-Kriterium nicht erfüllt, der Patient "lebt". Was hat dies aber mit "Integration" des menschlichen Körpers zu tun? Andere Reflexe laufen nicht über den Hirnstamm, sondern das Rückenmark, wie zum Beispiel die Erhöhung des Blutdrucks nach dem ersten Schnitt des Operateurs bei der Organentnahme, weshalb "Hirntoten" vor der Entnahme Medikamente zur Muskelentspannung gegeben werden. Auch das so genannte "Lazarus-Syndrom" (Laufbewegungen) oder die einer Umarmung ähnlichen Greifbewegungen des Patienten, wenn eine Pflegeperson seinen Kopf anhebt, um das Kissen zu richten, werden über das Rückenmark gesteuert. Sind diese Reaktionen auf Umweltreize etwa schlechtere "Lebensäußerungen" als die vom Gehirn übermittelten Reflexe?

Die wohl wichtigste Funktion des Hirnstamms ist die Steuerung der Atmung. Ein "Hirntoter" atmet nicht mehr selbständig. Er kann das nur mit medizinisch-apparativer Unterstützung. Durch ein Beatmungsgerät muss Luft in die Lungen geblasen werden, weil das vom Hirnstamm normalerweise bereitgestellte Signal für die Muskeln des Brustkorbs fehlt, über die Erzeugung von Unterdruck Luft in die Lungen zu ziehen. Das wird man durchaus als eine "Integrationsleistung" ansehen können. Das Fehlen des Atemimpulses kann jedoch durch Einsatz eines Beatmungsgerätes ausgeglichen werden. Menschen, die beispielsweise auf einen Herzschrittmacher, einen Dialyseapparat oder gar ein künstliches Herz angewiesen sind, werden aber auch nicht für tot erklärt, nur weil ihr Körper eine bestimmte Integrationsleistung nicht mehr erbringen kann und auf medizinisch-apparative Hilfe angewiesen ist.

Die Hirntod-Befürworter gehen dennoch davon aus, dass es sich beim Gehirn um das alles entscheidende "Ober-Organ" handelt, das den Menschen wesentlich ausmacht. In gewisser Weise wird "Hirnlehen" mit "Menschenleben" gleichgesetzt. Das kann allenfalls auf den ersten Blick überzeugen, vor allem, wenn man primär an die höheren Hirnleistungen denkt, die jedoch für die Annahme der "Lebendigkeit" im Hirntod-Konzept gerade nicht erforderlich sind. Auf biologisch-physiologischer Ebene hat das Gehirn jedoch keine absolut übergeordnete Stellung im menschlichen Körper. Das Gehirn erhält den Menschen nicht allein lebendig, sondern kann dies nur in Interaktion mit den anderen lebenswichtigen Organen - Herz, Lunge, Nieren etc. Dem Kreislaufsystem kommt hierbei eine besonders wichtige Integrationsfunktion zu, da es die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung des gesamten Körpers sicherstellt.

Das ist auch schon in der Embryonalentwicklung so. Noch bevor nennenswerte Hirnstrukturen entstehen, pulsiert das Herz und ist wesentlicher "Motor" der körperlichen Entwicklung. Nun wird man nicht behaupten können, Embryonen seien tot. Im Gegenteil, Embryonen sind so lebendig, dass sie sogar in der Lage sind, ein menschliches Gehirn zur Entstehung zu bringen. Es muss hier also das "Lebensprinzip" (Seele) bereits wirksam sein. Die Behauptung Patts, die "organische Einheit" des Menschen könne durch die Seele "auf zwei Arten vermittelt werden, entweder direkt ohne Vermittlung des Gehirns (etwa beim Embryo, der noch kein Gehirn hat) oder unter Vermittlung des Gehirns (beim ausgereiften menschlichen Organismus)" (vgl. Patt, LF 91, S. 28), übersieht die nahe liegende dritte Alternative: wiederum direkt und ohne Vermittlung des Gehirns bei "hirntoten" Patienten, die im funktionalen Sinn - wie der Embryo - kein Gehirn (mehr) haben. Die Embryonalentwicklung zeigt, dass weder das Funktionieren noch überhaupt das Vorhandensein eines Gehirns eine notwendige Voraussetzung für das Leben eines Menschen sind. Warum sollte dann ein Patient, dessen messbare Hirnfunktionen gerade erloschen sind, der aber noch zahlreiche Lebenszeichen aufweist, nicht auch die körperliche Basis einer Leib-Seele-Einheit sein können?

Ganz allgemein ist es ein wesentliches Kennzeichnen für "lebende" Systeme, einen geordneten Zustand aufrecht zu erhalten bzw. einen solchen bei Störungen wieder anzustreben. Der Tod führt dagegen zu einem Zerfall des Organismus, zur Auflösung in seine biologischen und physikalischen Bestandteile. Bei einem "Hirntoten" unter maschineller Beatmung ist aber gerade keine zunehmende Desintegration, kein Zerfall der Organe, Gewebe und Zellen zu beobachten. Es ist vielmehr in erheblichem Umfang Ordnung und Integration zu erkennen: das Rückenmark nimmt weiterhin seine Funktionen wahr, der Blutkreislauf, das Stoffwechsel- und das Immunsystem bestehen fort, der für die Beatmung unerlässliche Gasaustausch in der Lunge funktioniert etc. Am eindrucksvollsten ist jedoch, dass "hirntote" schwangere Frauen sogar in der Lage sind, über Wochen und Monate ein Kind auszutragen. Gerade Letzteres zeigt, dass hier sehr komplexe Interaktionen zwischen verschiedenen Organen von Mutter und Kind stattfinden, was zweifellos ohne die Fähigkeit zur Integration unmöglich wäre.

Der Umstand, dass viele Patienten, bei denen alle Hirnfunktionen ausgefallen sind, nur Stunden oder Tage "am Leben erhalten" werden können, besagt nichts über ihren Status. Auch wenn medizinische Maßnahmen nur kurzfristige Wirkungen zeigen, kann man sie nicht einfach ignorieren. Soweit in dieser kurzen Zeitspanne deutliche Lebenszeichen vorhanden sind, gehören diese Stunden oder Tage eben zum Leben dazu. Die "Irreversibilität" des Hirnfunktionsausfalls ist ebenfalls nicht zur Stützung des Hirntod-Konzepts geeignet, denn sonst müsste man auch andere Patienten, deren Sterben nicht mehr aufgehalten werden kann, kurzerhand für tot erklären. Mangels realistischer Therapien kann man über "Hirntote" durchaus sagen, dass sie sich "im Sterben" befinden. Doch der Sterbeprozess gehört zum Leben.

"Das Gehirn ist nicht das alleinige und entscheidende Integrationsorgan."

Der Vergleich eines "hirntoten" mit einem wirklich toten Menschen, also einer Leiche, zeigt den nicht zu leugnenden Wesensunterschied: Würde man eine Leiche an eine Beatmungsmaschine anschließen und ihr Medikamente zuführen, bliebe dies ohne jeden Effekt. Sie würde sich nicht erwärmen, die Lungenflügel würden nur aufgeblasen, statt Sauerstoff aufzunehmen, und der Zerfall des Körpers würde sich ohne Anzeichen von Leben fortsetzen. Bei einem "hirntoten" Patienten sieht es ganz anders aus: Der Luftsauerstoff wird aufgenommen, im Körper verteilt, und alle Organe und Gewebe "leben" weiter. Beide Zustände auf eine Stufe zu stellen, ist nicht angemessen.

Leider wird die Frage nach dem Tod des Menschen heutzutage fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt erörtert, wie man die Zahl der für Transplantationszwecke geeigneten Organe erhöhen kann. Der gerade in der gesellschaftspolitischen Diskussion immer wieder betonte "Bedarf" an Organen für die Transplantationsmedizin muss aber bei der Suche nach einem sicheren Todeskriterium außer Betracht bleiben. Der Nutzen, der von Organen verstorbener Patienten ausgehen könnte, hat mit der Sachfrage einer zutreffenden Todesfeststellung nichts zu tun. Trotzdem wird Hirntod-Kritikern häufig vorgeworfen, sie würden schwer kranken Patienten, die auf Organtransplantationen angewiesen sind, nicht das Weiterleben gönnen und der Organspendebereitschaft schaden. Es ist eher umgekehrt: Der Versuch, mit unstimmigen und kontraintuitiven Argumentationen den Menschen einreden zu wollen, ihre bewusstlosen, beatmeten Kinder, Geschwister oder Ehegatten seien tot, obwohl sie mit Pulsschlag, Körperwärme und zahlreichen Lebenszeichen im Klinikbett liegen, erzeugt vielfach Misstrauen und Ablehnung. Die Bereitschaft zur Organspende wird sich gerade so nicht heben lassen.

Fazit: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Hirntod-Konzept auf keiner schlüssigen anthropologischen oder philosophischen Grundlage basiert. Der so genannte "Hirntod" ist lediglich der Organtod des Gehirns und kann nicht mit dem Tod des Menschen, der in der Trennung von Leib und Seele besteht, gleichgesetzt werden. Dieser Trennungsvorgang kann prinzipiell durch medizinisch-naturwissenschaftliche Tests und daher auch durch die Hirntod-Diagnostik nicht unmittelbar festgestellt werden. Indirekt lassen aber die vorhanden Lebenszeichen und Integrationsleistungen einen Rückschluss auf das Fortbestehen der Leib-Seele-Einheit zu. Die Darstellung des Gehirns als alleiniges und maßgebliches Integrationsorgan ist nicht gerechtfertigt. Hirntod-Befürworter ignorieren die zahlreichen klinischen Lebenszeichen bei Patienten mit Ausfall der Hirnfunktionen. Auch der Körper eines "hirntoten" Patienten weist in hohem Maß "Integration" auf.

Der biologische Organismus ist beim "Hirntoten" fast vollständig erhalten. Die einzelnen Organsysteme bleiben verbunden und "lebendig" - so, wie sie von der Transplantationsmedizin gewünscht werden. Desintegration, Zerfall, fortschreitende Zersetzung und Verwesung werden gerade durch ärztliches Eingreifen verhindert. Die Phase des endgültigen Zerfalls und der Zustand des "Hirntodes" sind unterscheidbar und offensichtlich von unterschiedlicher Qualität. Nach dem Organtod des Gehirns ist das Leben des Menschen dem Tod zwar sehr nahe. Der Tod des Menschen ist aber noch nicht - und keinesfalls "sicher" - eingetreten. Das Gehirn ist das Organ, das Menschen am stärksten fasziniert. Ist es aber auch das entscheidende?


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Das Gehirn ist das Organ, das Menschen am stärksten fasziniert. Ist es aber auch das entscheidende?

Vielleicht gelingt Experten die exakte Vermessung des Gehirns ja tatsächlich. Aber wie vermisst man die Seele?


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 93, 1. Quartal 2010, S. 26 - 29
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2010