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ETHIK/863: Gleichheit und Menschenrechte (medico international)


medico international - rundschreiben 03/10

Gleichheit und Menschenrechte

Von Dr. Armando de Negri, Sao Paulo


Zunächst ist es wichtig, zu spezifizieren, was es bedeutet, Menschenrechte als politisches Konzept und gleichzeitig auch als politisches Werkzeug zu definieren. Denn für die meisten Menschen heißt über Menschenrechte zu sprechen, über eine rein theoretische Angelegenheit zu reden. Über etwas, das nicht greifbar ist. Und viele Menschen in Ländern der Dritten Welt fragen daher zu Recht: "Was ist der Nutzen von Menschenrechten, die sowieso niemand respektiert?" Erst wenn wir uns darauf einigen, dass Menschenrechte für alle Menschen gelten, haben wir eine Grundlage geschaffen. Dann muss als nächstes gefragt werden: "Wie erreiche ich alle Menschen?"

Außerdem ist es wichtig, nicht nur alle zu erreichen, sondern auch für alle Menschen Lösungen entsprechend ihrer Bedürfnisse zu finden. Dies ist der zweite Aspekt des Menschenrechtsansatzes. Wir brauchen ein umfassendes Verständnis dafür, dass alle menschlichen Grundbedürfnisse, die als Rechte anerkannt sind, erfüllt werden müssen. Dann werden - das ist sehr wichtig - Bedürfnisse zu Rechten. Und wenn wir den universellen mit dem umfassenden Aspekt verbinden, dann kommen wir zum dritten fundamentalen Aspekt der Menschenrechte als Werkzeug: nämlich der Gleichheit als einem Hauptkriterium für Rechte. Das heißt, wenn ich die gleichen Bedürfnisse wie ein anderer Mensch habe, dann haben wir beide auch das Recht auf die gleichen Antworten.

Moralischer Imperativ bedeutet hier, dass Menschen das Recht auf die gleiche Erfüllung gleicher Bedürfnisse haben. Dieses politische Argument, das das Fundament für Gerechtigkeit darstellt, ist essenziell um die globale Debatte vorzubereiten. Wenn wir diesen moralischen Imperativ konstatieren, dann werden wir nicht mehr akzeptieren können, dass für Länder der Dritten Welt lediglich ein "Basispaket" an Gesundheitsversorgung angeboten wird, während die kapitalistischen Länder der "ersten Welt" das komplette Paket bekommen sollen. Dies wäre moralisch nicht mehr vertretbar. Und dieser moralische Imperativ wird einen zweiten Imperativ schaffen, den ethischen Imperativ. Die Frage wird sich stellen, wie wir es schaffen können, den moralischen Imperativ zu befolgen.

Wir können keine unterschiedlichen Lösungen in dem Bewusstsein vorschlagen, dass auch die Ergebnisse unterschiedlich sein werden. Wenn ich eine unzureichende Lösung vorschlage, eine Lösung, die keine Todesfälle verhindert, die Krankheiten nicht eindämmt, dann ist das eine bewusste Verweigerung von Hilfe. Und diese Verweigerung erzeugt einen ethischen Konflikt, denn ich habe die Mittel zu helfen, aber ich nutze sie nicht in der Form, in der sie tatsächlich Lösungen brächten. In dieser Hinsicht werden wir gezwungen sein unser Konzept der politischen Ökonomie von Hilfe zu überdenken. Es geht darum, nicht nur über Länder und "Opferländer" nachzudenken, sondern ein globales Verständnis zu entwickeln, gerecht zu sein, im Sinne einer Gerechtigkeit, die tatsächlich Lösungen für die Probleme der Menschen findet. In diesem Sinne ist Gleichheit als Konzept fundamental mit den Menschenrechten verbunden.

Und der dritte und letzte Imperativ ist der politische Imperativ. Dieser fordert von uns den politischen Zeitpunkt der Hilfe zu respektieren. Wir können den Ländern der Dritten Welt nicht erklären, dass sie noch ein wenig warten müssen - womöglich 100 oder 200 Jahre - bis sie die gleichen Standards wie die Industrieländer haben. Unsere Agenda besteht nicht in der Bekämpfung von Armut, sondern in der Umverteilung von Reichtum. Wir brauchen keine Politik für die Armen, wir brauchen eine Politik der Umverteilung von Reichtum. Das ist etwas völlig anderes und entspricht auch viel mehr den Menschenrechten.

Der Punkt ist nämlich, dass wir niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte soviel Reichtum hatten, aber auch noch nie so eine Konzentration von Reichtum. Die Debatte um Menschenrechte und das Menschenrecht auf Gesundheit schafft eine außergewöhnliche Möglichkeit eine effektive Umverteilung vorzunehmen. Denn das Recht auf Leben, verbunden mit dem Recht auf Gesundheit, ist ein sehr starkes Argument dafür.

Aber wir müssen einen weiteren sehr wichtigen Faktor beachten. Wir müssen die Existenz von öffentlichen Räumen, im Sinne der politischen Definition von öffentlichen Räumen, bewahren. Denn sie wurden eliminiert. Nach Hannah Arendt ist das erste was in einer Diktatur verschwindet der öffentliche Raum. Wir können viel debattieren, aber es wird für die Realität keine Konsequenzen haben. Wir müssen zurückkommen zu einer politischen Debatte über wirklich wichtige Themen wie Gerechtigkeit. Und wir müssen uns klar machen, dass wir reden müssen um zu handeln. Nicht nur debattieren um unseren Intellekt zu befriedigen. Wir müssen darüber nachdenken, was uns für die nachfolgende Aktion nützt.


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Quelle:
medico international - rundschreiben 03/10, Seite 35-36
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010