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GESCHICHTE/510: Janusz Korczak - Arzt, Pädagoge, Philosoph, Dichter und Humanist (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2009

Vortrag im John-Rittmeister-Institut
Janusz Korczak: Arzt, Pädagoge, Philosoph, Dichter und Humanist

Von Dr. Mechthild Klingenburg-Vogel


Der polnische Mediziner begleitete 1942 jüdische Kinder in die Gaskammer. Das John-Rittmeister-Institut erinnerte an sein Leben.


Dr. Jutta Kahl-Popp, Mitbegründerin des Ausbildungsgangs für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten am John-Rittmeister-Institut (JRI) für Psychoanalyse, Kiel, widmete ihren Vortrag in der Reihe zum 20-jährigen Bestehen des JRI der Persönlichkeit und dem Werk des polnischen Arztes, Pädagogen und Philosophen Janusz Korczak, der vielen Menschen als radikaler Humanist bekannt ist, weil er 1942 "freiwillig" die jüdischen Kinder seiner Waisenhäuser aus dem Warschauer Ghetto in die Gaskammer begleitete. Janusz Korczak, als Henryk Goldzmit 1878 oder 79 als einziger Sohn assimilierter polnischer Juden geboren, bewältigte seine belastenden Kindheitserfahrungen mit einem ihn entwertenden, spielsüchtigen, schwer depressiven, körperlich durch Syphillis zerfallenen und früh verstorbenen Vater und einer wohl wenig einfühlsamen, ihn parentifizierenden Mutter seit seinem 13. Lebensjahr durch Schreiben, worin er die beste Art der Selbsterziehung und Selbstreflexion erkannte. Inzwischen liegt sein eindrucksvolles 15-bändiges literarisches, sozialmedizinisches, erziehungsphilosophisches und pädagogisches Gesamtwerk auch in der deutschen Übersetzung ophisches und pädagogisches Gesamtwerk auch in der deutschen Übersetzung vor. Korczak, dem "das Recht des Kindes auf Achtung" zum Credo wurde, bezeichnete sich selbst als "eigenbrötlerisches, einsames Kind, von dem man nicht merkte, dass ein Kind im Hause war", auf das der Vater wohl seine eigenen Schuld- und Schamgefühle projizierte; er beschimpfte seinen Sohn als Dummkopf und Tropf, und auch die Schule, in der mittels drakonischer Strafen absolute Unterwerfung unter die russischen Besatzer gefordert wurde, war dem Jungen verhasst. Diese traumatisierenden Erfahrungen konnte Korczak in seinem Leben äußerst konstruktiv wenden, indem er zum Vater seiner vielen verwaisten Zöglinge wurde und mit großer Hingabe daran arbeitete, theoretisch und praktisch ideale Väterlichkeit zu verwirklichen. "Das eigene Leid umschmelzen in eigenes Wissen und Freude für andere, aufgehen in den eigenen Lebenszielen. Misserfolge sind dann zwar schmerzlich, aber sie demoralisieren nicht", schrieb er bereits als Zwanzigjähriger. Unter dem Pseudonym "Janusz Korczak" gewann der 19-Jährige einen Literaturwettbewerb.

Nach dem Medizinstudium nahm er als Lazarettarzt am russisch-japanischen Krieg teil und arbeitete bis 1912 als angesehener Kinderarzt in Warschau. 1912 eröffnete er als Janusz Korczak ein jüdisches Waisenhaus in Warschau und gab seine ärztliche Praxis auf. Diese Entscheidung empfand er bis zu seinem Lebensende konflikthaft und mit Schuldgefühlen gegenüber dem kranken Kind. Sein Wunsch, "Bildhauer der kindlichen Seele" zu werden, sei Ausdruck eines falschen Ehrgeizes, für den er mit dem Leben bestraft worden sei. Darin äußert sich seine selbstkritische Hinterfragung, die er als grundlegend für Erzieher forderte. Korczak kämpfte sein Leben lang für eine bessere soziale Welt und bessere Lebens-, Erziehungs- und Bildungsbedingungen für Kinder, vermittelte eine große Einfühlungsfähigkeit in die Bedürfnisse und Interessen der Kinder und verfolgte in seinem pädagogischen Ansatz das Ziel, die Ungleichwertigkeit zwischen Kindern und Erwachsenen aufzuheben. So gab es in den Waisenhäusern ein Kinderparlament, das Gesetze erließ, und einen Gerichtshof, vor dem Kinder und Betreuer sich gleichermaßen verantworten mussten, bei dem es aber weniger um Strafe als um Übernahme von Verantwortung als Voraussetzung zur Vergebung ging.

Korczaks Werk stellt ihn sowohl an die Seite der großen Reformpädagogen wie Maria Montessori als auch der Vertreter der psychoanalytischen Pädagogik wie August Aichhorn, Anna Freud und Donald Winnicott sowie der modernen Säuglingsforscher Daniel Stern und Martin Dornes. Seine Auffassung, dass ohne eine "heitere und vollwertige" Kindheit das ganze spätere Leben eines Menschen verkümmere, führte 70 Jahre vor der UN-Kinderrechts-Konvention zur Formulierung von Grundrechten des Kindes, darin zentral das "Recht des Kindes auf Achtung" - im Sinne gegenseitigen Respektierens. Das "Recht des Kindes, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an den Überlegungen und Urteilen der Erwachsenen über seine Person zu nehmen", findet erst ganz allmählich Eingang z. B. in den schulischen Alltag. Das "Recht des Kindes auf Gleichwertigkeit und den Schutz seiner Geheimnisse" kritisiert auch heute noch die gängige Praxis von Fachleuten und Institutionen, sich über die seelische und körperliche Intimität von Heranwachsenden auszutauschen, ohne, wie bei Erwachsenen, vorher deren Einwilligung zu erfragen. Das "Recht des Kindes auf seinen Tod" erschreckt in seiner Radikalität, aber es wendet sich gegen überfürsorgliche, vereinnahmende Eltern, die ihren Kindern Spielräume der Selbstbestimmung, Selbstentdeckung, Selbsterfahrung verweigern und ihnen nicht das Recht zugestehen, eigene Erfahrungen zu machen, Fehler und Misserfolge zu erleben und die Risiken des Lebens kennen zu lernen. Das "Recht des Kindes auf den heutigen Tag" sowie "das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist", betont die Bedeutung der Kindheit sowie der Eigenheit und Individualität des Kindes.

Korczak machte die Achtung, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung jedes Menschen unabhängig von seinem Alter zur Grundlage der Organisation des sozialen Lebens mit Kindern und dessen, was ihnen "für die schwere Arbeit des Wachsens" zusteht und was die Gesellschaft ihnen dafür bieten sollte. Während Sigmund Freud uns damit konfrontierte, dass wir nicht "Herr in der eigenen Persönlichkeit" sind, forderte Korczak, dass wir nicht "Herr in der Persönlichkeit eines anderen Menschen sein sollen". Lange vor Horst-Eberhard Richter, der das Konzept der unbewussten Rollendelegation von einer Generation zur nächsten beschrieb, kannte Korczak die Gefahr, dass die Verletzungen, die wir als Kind erlitten haben, uns als Erwachsene dazu verführen können, Kinder "kompensatorisch" zu gebrauchen, unbewältigte Konflikte und Traumatisierungen an sie weiterzugeben. Statt sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen, "haben wir auf den Kampf mit uns selbst verzichtet und beschweren mit seiner Last unsere Kinder". Korczak war aus eigener Erfahrung besonders sensibel dafür, das Kind nicht für die Stabilisierung der eigenen Persönlichkeit und narzisstischen Balance zu verwenden. Sein Vermächtnis fordert die Selbsterziehung des Erziehers, der durch die Reaktionen des Kindes auf die eigene Mitwirkung am Zustandekommen z. B. von Verhaltensauffälligkeiten oder anderen Symptomen aufmerksam werden sollte. Erst die körperliche, soziale oder geistige Antwort des Kindes auf die Worte und Handlungen des Erziehers bestätigten ihm, ob er "richtig" am Kind gehandelt habe oder nicht. Mut zur Anerkennung eigener Fehler und deren Verständnis als Quelle bedeutsamer Lernprozesse verhindern den Kreislauf gegenseitiger Schuldzuweisungen sowie die Idealisierung des eigenen Tuns, der eigenen Überzeugungen und der die Kinder in bestimmte Schemata zwingenden Erwartungen. "Habe den Mut zu Dir selbst und suche Deinen eigenen Weg" - "Erkenne Dich selbst, bevor Du Kinder zu erkennen trachtest." Erziehung ist so ein gegenseitiger Prozess.

Da beim Erzieher oft unbewusste Erinnerungen an eigene leidvolle Erfahrungen als Kind mobilisiert werden, die in druckvollen Situationen oft blind reproduziert werden, können Selbsterfahrung und Selbsterziehung helfen, derartige maligne Wiederholungen zu unterbrechen und alternative Handlungsweisen zu entwickeln, so wie es Janusz Korczak in seinem eigenen Leben vorgelebt hat.

Als er die Kinder in seinen Waisenhäusern im jüdischen Ghetto nicht länger schützen konnte, ging Korczak dem Zug der festlich wie zu einem Ausflug aufbrechenden Kinder mit ihrer grünen Fahne voran in den Deportationszug nach Treblinka und in die Gaskammer, obwohl er vielfach, zuletzt noch an der Rampe, die Möglichkeit gehabt hätte, sich selbst zu retten.

Diese Würde und Demut, die sich die Freiheit zugesteht, auch auf Freiheiten zu verzichten, erfüllt mit großer Achtung vor diesem bedeutsamen Humanisten, dessen Leben u. a. in einem eindrucksvollen Film von Andrzej Wajda verfilmt wurde und uns immer wieder in unseren eigenen Haltungen hinterfragt und zu Aufrichtigkeit uns selbst und anderen gegenüber herausfordert.

Dr. Mechthild Klingenburg-Vogel, Kiel


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der vollständige Vortrag kann bei der Verfasserin Dr. Jutta Kahl-Popp, die gern bereit ist, auch an anderer Stelle zu diesem Thema vorzutragen oder ein Seminar anzubieten, angefordert werden.

Dr. Jutta Kahl-Popp
Lütjohannstr. 22
24159 Kiel
E-Mail: Jutta.Kahl-Popp@t-online.de


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200911/h091104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2009
62. Jahrgang, Seite 50 - 51
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2009