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PERSONALIEN/067: Portrait - "Hausarzt der Seeleute" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2015

Portrait
Mit dem Kopf unter dem Arm

Von Dirk Schnack


Er ist der "Hausarzt der Seeleute": Dr. Jan-Gerd Hagelstein behandelt Matrosen, die in Hamburg einen Arzt brauchen - oft ist es dringend.


Seine Patienten kommen aus der ganzen Welt und haben oft wochenlang keinen Arzt gesehen. Wenn sie schließlich bei Allgemeinmediziner Dr. Jan-Gerd Hagelstein landen, drängen sie zum Teil auf schnelle Linderung - krankschreiben lassen wollen sich aber viele von ihnen nicht.

Hagelsteins Patienten sind Seeleute, deren Schiff gerade im Hamburger Hafen festgemacht hat. Seit rund 20 Jahren ist Hagelstein so etwas wie der "Hausarzt der Seeleute" in der Hansestadt. Seine "Hausbesuche" finden auf ganz großen Pötten im Hamburger Hafen statt. Inzwischen hat der Allgemeinmediziner seine Kassenzulassung abgegeben und ist nach einer Übergangsphase in einem MVZ nun als Leiter der neu etablierten Seemannsambulanz im Wilhelmsburger Krankenhauses Groß-Sand, rund fünf Kilometer vom Hamburger Hafen entfernt, tätig. Seemänner sind dort weiterhin seine größte und wichtigste Patientengruppe.

Seeleute haben in einigen ausgewählten Häfen rund um die Welt ihre festen Adressen, zu denen sie mit gesundheitlichen Problemen gehen. In Hamburg ist dies Hagelstein, der zumindest von keinem zweiten Arzt in der Stadt weiß, der so viele Seeleute wie er behandelt. Im Untergeschoss des Wilhelmsburger Krankenhauses finden sich seine drei Behandlungsräume, die Anmeldung und das mit maritimen Souvenirs gefüllte Wartezimmer. Groß-Sand hat sich nach eigenen Angaben eine verbesserte medizinische Versorgung von Seeleuten im Hamburger Hafen auf die Fahnen geschrieben und sieht mit der Verpflichtung Hagelsteins Chancen, in die Lücke zu stoßen, die das in den 90er Jahren geschlossene Hafenkrankenhaus in Hamburg hinterlassen hat.

Zur Erinnerung: Die 1900 auf St. Pauli eröffnete Klinik wurde nach mehreren gescheiterten Versuchen in den 90er Jahren endgültig geschlossen. Kritiker besetzten damals die Immobilie und warfen dem Senat vor, dass man sich das Haus ausgesucht habe, aus dem am wenigsten Widerstand zu erwarten sei, denn das Hafenkrankenhaus war in erster Linie Anlaufstelle für die vielen sozial schwachen Menschen in dem Bezirk. Seinen Namen hatte das Krankenhaus zwar aufgrund der Nähe zum Hafen zu Recht, spezialisiert auf die Behandlung der Matrosen aber war die Klinik schon damals nicht mehr, wie Hagelstein sich erinnert.

Nach der Schließung zogen mehrere Praxen in das Hafenkrankenhaus ein, Hagelstein war nicht darunter. Der heute 57-Jährige hatte sich damals schon seinen Ruf als Hausarzt für die Seeleute erarbeitet und seine Praxis zur festen Anlaufstelle in der Szene machen können. Als eine Kombination aus Zufällen und Affinität zum Wasser beschreibt Hagelstein selbst die Entwicklung zum Hausarzt für Seeleute. "Ich habe vor dem Medizinstudium eine Ausbildung zum Schifffahrtskaufmann gemacht. Aus dieser Zeit stammen die ersten Verbindungen", erzählt Hagelstein. Weiterer Berührungspunkt war seine Zeit bei der Marine. Seine AiP-Zeit leistete er in einer Praxis, in die auch Seemänner kamen. Als er sich schließlich selbstständig machte, hatte er die Seeleute als Patienten schon im Blick. Das sprach sich schnell herum und Hagelstein hatte seinen Ruf als Hausarzt der Seeleute weg. "Zeit, eine große Kassenpraxis aufzubauen, hatte ich eigentlich nie", sagt er rückblickend. Denn die Behandlung von Seeleuten unterliegt nicht dem GKV-System, Hagelstein rechnet nach GOÄ mit den Reedereien ab. Eine auf Kassenpatienten ausgerichtete Praxis war von Beginn an nicht sein Ziel.

Dafür ist die Behandlung aber oft komplizierter und, wie Hagelstein es empfindet, auch abwechslungsreicher. "Es gibt keine Gesetzmäßigkeiten und keine Routine. Ich weiß nie, was heute noch passiert. Das hängt immer davon ab, was in den Hafen einläuft", sagt Hagelstein. "Einige Patienten kommen mit dem Kopf unter dem Arm durch die Tür. Deshalb ist es ganz gut, dass ich vor einigen Jahren meine Praxis an den Klinikstandort verlegt habe. Hier habe ich alle internistischen und chirurgischen Möglichkeiten in der Hinterhand", berichtet er.

"Es gibt keine Gesetzmäßigkeiten und keine Routine. Ich weiß nie, was heute noch passiert."

Seine Patientenklientel ist oft exotisch. Mit ausländischen Seeleuten versucht er sich auf Englisch oder Spanisch zu unterhalten, auch die Mitarbeiter aus unterschiedlichen Herkunftsländern in der Klinik helfen bei Bedarf. Und wenn alle Stricke reißen, scheut Hagelstein auch nicht davor zurück, den Besitzer des Chinarestaurants um die Ecke um Dolmetscherdienste zu bitten. Viele seiner Patienten haben ihre Beschwerden schon seit Wochen und haben sich mit Medikamenten aus der Bordapotheke über Wasser gehalten. Generell entscheidet der Kapitän, ob und wo der Seemann einen Arzt aufsuchen darf. Dabei hat der Kapitän abzuwägen, welchen Standort er wählt; banale Erkrankungen oder Heimweh rechtfertigen nicht das kostenträchtige Anlaufen eines außerplanmäßigen Hafens.

Bei Krankschreibungen kommt es zu Reaktionen, die Ärzte bei herkömmlich angestellten GKV-Patienten selten erleben. "Viele wehren sich extrem stark gegen Krankschreibungen, weil die Angst vor dem Jobverlust hoch ist", berichtet Hagelstein. Mit Seefahrerromantik haben die Verhältnisse, unter denen viele seiner Patienten arbeiten, nichts zu tun. Für die harte und oft eintönige Arbeit verdienen sie für deutsche Verhältnisse wenig, ernähren mit ihrer Heuer aber oft große Familien. Ein Ausfall oder gar ein Abheuern kommt für sie auch bei Erkrankungen nicht infrage. Zum Auskurieren bleibt ihnen wenig Zeit. Zum Teil ist der Landgang für die Seeleute schon nach acht bis zehn Stunden wieder beendet. Auch die medizinische Behandlung muss dann unter Hochdruck erfolgen. Für Hagelstein heißt es dann, die Weichen für eine Anschlussbehandlung zu stellen und zum Beispiel abzuklären, was ein Kollege im nächsten Hafen wie etwa Rotterdam bei der Übernahme unternehmen könnte. "Ich habe mir dafür ein kleines Netzwerk aufgebaut, damit der Patient im nächsten Hafen nicht wieder von vorn anfangen muss", sagt Hagelstein. Im Gegenzug erlebt er eine extrem dankbare Patientenklientel mit geringer Anspruchshaltung. "Bei den Seeleuten gilt der weiße Kittel noch etwas. Sie tun, was ich ihnen rate", sagt Hagelstein, der zum Dank für seine Behandlungen meist zu Weihnachten Post aus der ganzen Welt erhält. Selbst zur See gefahren ist der Arzt aber nie, und auch die Tätigkeit als Schiffsarzt hat ihn persönlich nicht gereizt. Dafür ist er aber gern in der Fortbildung für Kollegen tätig, die diese Tätigkeit ausüben. Und seinen Urlaub verbringt auch Hagelstein gerne auf Kreuzfahrten, die allerdings gar nichts mit dem zu tun haben, was seine Patienten auf ihren Touren über die Weltmeere erleben.


Einige Daten

20 Jahre lang ist Dr. Jan-Gerd Hagelstein in Hamburg als Arzt für Seeleute aus der ganzen Welt tätig.
18 Jahre ist es her, dass das Hafenkrankenhaus besetzt wurde - was an der Schließung aber nichts mehr änderte. Es entstand ein Gesundheitszentrum.
5 Jahre lang behandelt Hagelstein in Räumen des Wilhelmsburger Krankenhauses Groß-Sand, das ihn inzwischen angestellt hat.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201504/h15044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, April 2015, Seite 28 - 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2015

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