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UMWELT/622: Das gesundheitliche Erbe von Tschernobyl (IPPNW)


IPPNW aktuell Nr. 24 - März 2011
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Das gesundheitliche Erbe von Tschernobyl


Am 26. April 1986 explodierte Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl. Die Welt wurde Zeuge der bislang größten Katastrophe in einem Atomkraftwerk. Bis heute und auch in Zukunft leiden ungezählte Menschen unter den Folgen. Und noch immer ringen WissenschaftlerInnen darum, das Ausmaß des Leids zu erfassen.

Von der Katastrophe in Tschernobyl waren und sind etwa neun Millionen Menschen betroffen. Circa 162.000 km² wurden kontaminiert, und schätzungsweise 400.000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Nach Auffassung von UN-Organisationen wie der IAEA und den Regierungen in Russland, Weißrussland und der Ukraine kann das Thema Tschernobyl zu den Akten gelegt werden: Armut, ungesunde Lebensweise und psychische Krankheiten stellen angeblich ein viel größeres Problem dar als die Verstrahlung. Die gesperrten Gebiete sollen zügig wieder in den Wirtschaftkreislauf eingegliedert werden, sogar von einem Touristikprogramm für die Sperrzone ist die Rede. In Weißrussland ist ein neues Atomkraftwerk in Planung - da spricht die Regierung ungern über die Risiken der Atomenergie für die Gesundheit.

Tatsächlich ist eine umfassende und objektive Abschätzung der Gesundheitsauswirkungen auch nahezu unmöglich, vor allem, weil in den ersten Jahren Geheimhaltungsvorschriften die Forschung behinderten. Eine weitere Unsicherheit besteht über die tatsächlich freigesetzte Menge an radioaktiver Strahlung. Nach der offiziellen sowjetischen Version wurde eine Strahlenmenge von 50 Millionen Curie freigesetzt. Andere ExpertInnen gehen aber von fünf Milliarden Curie aus. Zudem ist unklar, welche Strahlenmengen die Menschen abbekommen haben. An jedem einzelnen Tag nach der Katastrophe war die Zusammensetzung der radioaktiven Wolke verschieden. Einige Regionen haben viel Strahlung abbekommen, andere wenig. Hinzu kommt die Unterschiedlichkeit der Radionuklide: Jod 131, das als Auslöser des Schilddrüsenkrebs gilt, bleibt nur wenige Wochen aktiv, Plutonium dagegen über Zehntausende von Jahren. In der ersten Woche nach der Explosion war die "kombinierte" Strahlenbelastung tausend mal höher als in den Monaten danach.

"Trotz dieser Unsicherheitsfaktoren haben unabhängige Experten die Gesamtzahl der Toten auf 900.000 bis 1,8 Millionen Menschen weltweit beziffert. Diese Zahl bezieht auch zukünftige Tote mit ein, weil die Tschernobyl-Nuklide weiter in der Biosphäre bleiben", erklärt Alexej Jablokow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die IAEA bezifferte die Opfer des Super-GAUs auf weniger als 50 Tote. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Tschernobyl-GAU werden die Folgen dieser Katastrophe verdrängt, vertuscht, verharmlost und bagatellisiert.


Gesundheitliche Schäden durch radioaktive Strahlung

In den drei am meisten von der Tschernobylkatastrophe betroffenen Ländern Weißrussland, Ukraine und Russland entstanden nach 1986 medizinische Forschungszentren, die bis heute einen großen Teil der strahlenexponierten Bevölkerung regelmäßig untersuchen: die Liquidatoren (Aufräumarbeiter), die in hochbelasteten Gebieten lebende Bevölkerung und die Evakuierten sowie jeweils die Kinder der strahlenexponierten Personen. Prof. Jablokow hat in einem 2009 erschienen Buch zahlreiche Daten und Untersuchungsergebnisse über die gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Tschernobylkatastrophe zusammen getragen. 49 internationale WissenschaftlerInnen waren an der Überarbeitung seines ersten Buches aus dem Jahr 2006 beteiligt.

Die WissenschaftlerInnen beobachteten sehr beunruhigende Trends, so z.B. was den Gesundheitszustand der Liquidatoren und der Evakuierten angeht, aber auch bei den Kindern strahlenbelasteter Eltern. Amtliche Untersuchungen belegen einen lawinenartig ansteigenden Anteil nahezu aller Krankheitsgruppen in den ersten zehn Jahren nach der Katastrophe. So kam es zu einem rasanten Anstieg von somatischen Erkrankungen von vielen Körpersystemen und Organen wie Schwächung des Immunsystems, schwere Herz-/Kreislauferkrankungen mit Todesfolge schon in relativ jungem Alter (Herzinfarkt, Hirnblutungen), chronische Magenerkrankungen, chronische Erkrankungen der Schilddrüse und der Bauchspeicheldrüse sowie neurologischpsychiatrischen Erkrankungen als direkter somatischer Effekt von Niedrigstrahlung. Ähnliche Effekte sind in den letzten Jahren auch aus der Hiroshima-Forschung bekannt geworden.


Folgen für ganz Europa

In Europa wurden zwischen dem 26. April und dem 5. Mai 1986 200.000 km² stark radioaktiv belastet. Wechselnde Luftströmungen trieben die Wolken mit dem radioaktiven Fallout von Tschernobyl zunächst nach Skandinavien, dann über Polen, Tschechien, Österreich, Süddeutschland und Norditalien. Eine dritte Wolke erreichte zuletzt den Balkan, Griechenland und die Türkei. In Europa kam es zu einer Zunahme der Perinatalsterblichkeit, Totgeburten (5.000 zusätzliche Todesfälle bei Säuglingen), Fehlbildungen (alleine 10.000 in Europa) und der Krebserkrankungen sowie weniger Geburten und geschlechtsspezifische Effekte.

Der Strahlenphysiker Dr. Mikhail Malkow aus Minsk rechnet allein für Europa mit 90.000 Krebsfällen durch Tschernobyl. Neben den besonders auffälligen Schilddrüsen-Krebsfällen traten viele Leukämien, viele Fälle von Brustkrebs sowie erheblich vermehrt Hirntumore bei Kindern in jeweils signifikanten Erhöhungen auf. Von Schilddrüsenkrebs waren zunächst nur Kinder betroffen, weil deren Schilddrüse besonders aufnahmebereit ist. Aber nach 1990 hat der Schilddrüsenkrebs auch bei Erwachsenen auffällig zugenommen, weil der Krebs nicht nur durch radioaktives Jod, sondern auch durch Tellurium, Caesium und andere Nuklide verursacht wird.

Die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkennen zwar die Zunahme von Schilddrüsenkrebs an, ignorieren aber weiterhin, dass auch Erwachsene in Russland, Weißrussland und der Ukraine sowie in den besonders vom Tschernobyl-Fallout betroffenen ost- und nordeuropäischen Ländern von dieser Krankheit betroffen sind. Der Tschernobyl-Fallout in diesen Ländern wird von der IAEA völlig unterschlagen.

Zudem bestreiten die Organisationen den Zusammenhang zwischen radioaktiver Strahlung und Fehlbildungen nach wie vor. Nach einem 1959 geschlossenen Abkommen zwischen der IAEA und der WHO ist die Weltgesundheitsorganisation auf dem Gebiet der Radioaktivität an die Atomagentur gebunden.

Während die IAEA keinen wissenschaftlichen Hinweis auf Anstiege der Inzidenz oder Mortalität an Krebs oder an nicht bösartigen Gesundheitsstörungen in Folge der Strahlenbelastung sieht, verweist Jablokow auf die drastisch davon abweichenden Angaben der Liquidatoren-Vereinigungen. Allein bei den Liquidatoren gebe es bisher 112.000 - 125.000 Tote bei insgesamt 830.000 Helfern. Die durchschnittliche Lebenserwartung der inzwischen Verstorbenen liege bei rund 43 Jahren. 94 % der Aufräumarbeiter seien heute erkrankt, vorwiegend an Nicht-Krebs-Erkrankungen.


Genetische Schäden

Über Nicht-Krebs-Erkrankungen erfährt die Öffentlichkeit wenig, genauso wenig wie über genetische Auswirkungen der Strahlenbelastung durch Tschernobyl. Die Zahl der betroffenen Menschen ist hoch und PolitikerInnen möchten vermeiden, dass Gesundheitsschäden dieser Art womöglich auch in ganz anderen Zusammenhängen als strahlenbedingte Berufskrankheiten anerkannt werden müssen. Von den genetischen Schäden weiß man, dass lediglich 10 % der insgesamt zu erwartenden Schäden in der ersten Generation auftreten. Das heißt, 90 % der genetischen Probleme kommen erst noch auf uns zu. Warum ist das so?

Seit den 1970er Jahren ist bekannt, dass ionisierende Strahlung nicht nur Krebs verursacht, sondern auch zu genetischen Schäden führt. Diese Schäden können schon durch niedrigste Dosen ausgelöst werden. In den letzten Jahren gab es wesentliche neue Forschungsergebnisse - "non target effects", "genomische Instabilität" und den "Bystander-Effekt". Diese Effekte verändern die bisherigen Vorstellungen über die Mechanismen der Strahlenschädigungen grundlegend, auch wenn davon noch nicht alles bis in das letzte Detail geklärt ist.

Genomische Instabilität wird nicht nur mit dem Erbgut weiter gegeben, sondern potenziert sich auch mit jeder Generation. Ein Phänomen, das WissenschaftlerInnen bereits aufgrund der Leukämiefälle in Sellafield bekannt ist und das sich auch durch Chromosomen-Aberrationen bei Kindern von Liquidatoren und nicht strahlenbelasteten Müttern in den Forschungszentren aller von der Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Länder zeigt.

Für die Strahlenrisikoabschätzung werden von der Strahlenschutzkommisson (ICRP) nahezu ausschließlich die Daten aus Hiroshima und Nagasaki verwendet, also das Modell einer kurzfristigen äußeren Strahleneinwirkung. Die Tschernobylforschung untersucht jedoch die Folgen von chronischer Strahlenbelastung nach Inkorporation von Radionukliden und einer chronischen Strahlenbelastung.


Andere neue Erkenntnisse

In ihrer Studie aus dem Jahr 2006 legen Wladimir Bebeschko und Konstantin Loganowsky dar, dass die ionisierende Strahlung auch den Alterungsprozess beschleunigt. Dabei handelt es sich um Krankheiten wie z.B. eine beschleunigte Alterung der Blutgefäße besonders im Gehirn, Arteriosklerose der Blutgefäße des Augenhintergrunds, grauen Star, Verlust der höheren intellektuellen kognitiven Funktionen infolge von Schädigung des zentralen Nervensystems oder den Verlust der Stabilität des antioxidanten Systems. "Sowohl die Liquidatoren als auch andere stärker belastete Menschen sehen fünf bis sieben Jahre älter aus, als sie nach ihrem Pass wirklich sind", erklärt Jablokow.

Die bisherige offizielle wissenschaftliche Tschernobyl-Diskussion verläuft wenig produktiv. Internationale Gremien wie die IAEA und die WHO verharmlosen die Folgen von Tschernobyl. Sie ignorieren oder unterschlagen einen wesentlichen Teil der Forschungsarbeiten, die von erfahrenen Fachleuten, von ÄrztInnen, die täglich mit strahlengeschädigten Kindern und Erwachsenen konfrontiert sind, in den drei hauptsächlich betroffenen Ländern Russland, Weißrussland und Ukraine durchgeführt wurden. Dringend nötig ist eine viel intensivere Zusammenarbeit zwischen WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen aus Ost und West. Dabei ist materieller und ideeller Einsatz beim Überwinden der Sprachbarriere ein ebenso simpler wie notwendiger Punkt.

Ohne genaue Ergebnisse in der Hand zu haben sind die Wiedereingliederungs- und Touristik-Pläne für die Region unverantwortlich. In der Sperrzone findet sich zum Beispiel Plutonium 241. Es zerfällt mit einer Halbwertzeit von 14 Jahren zu Americium 241, das eine Halbwertzeit von 432 Jahren hat und noch gefährlicher ist als Plutonium. Auch wenn die Touristen nur in weniger stark kontaminierte Gebiete gelassen werden, kann niemand seriös abschätzen, wie hoch die radioaktive Belastung bei Wind oder Waldbränden sein wird.


Tschernobyl in Deutschland?

Nach Tschernobyl gab es in Deutschland verschiedene Überlegungen, welche Auswirkungen ein Super-GAU eines deutschen Atomkraftwerks hätte. Dabei wurden die 7-10fach höhere Bevölkerungsdichte und die schlimmstenfalls deutlich höheren radioaktiven Niederschläge im Umkreis von einigen hundert Kilometern berücksichtigt. Die Zahl der zu erwartenden Toten würde zwischen 1,2 und 12 Millionen liegen. In der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke wurden Unfallabläufe als möglich analysiert, in denen es zu höheren Strahlenbelastungen in der Umgebung kommen würde, als sie nach Tschernobyl berichtet wurden. Vor dem "Restrisiko" eines atomaren Gaus schützt tatsächlich nur der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie und der 100%ige Umstieg auf Erneuerbare Energien.


Weitere Informationen: www.ippnw.de


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Quelle:
IPPNW aktuell Nr. 24 - März 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2011