Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

VORSORGE/482: Sind Mutter-Kind-Kuren noch zeitgemäß? (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2010

Neuorientierung für Familien
Sind Mutter-Kind-Kuren noch zeitgemäß?

Von Dr. Thomas Grubba


Belastungen bleiben nicht ohne Auswirkungen auf den Nachwuchs. Mutter-Kind-Kuren sind unverzichtbar, meint Kinder- und Jugendarzt Dr. Thomas Grubba.


Wir spüren die Folgen des demografischen Wandels, der Migration und der Globalisierung in den Arzt- und besonders in den Kinderarztpraxen. Die Zahl der traditionellen Familien geht zurück: 1/5 aller Familien sind Kinder mit alleinerziehenden Vätern oder Müttern, fünf Prozent sind Lebensgemeinschaften mit Kindern. 1/4 aller Kinder wächst ohne Geschwister auf. 1/3 aller Kinder hat einen Migrationshintergrund. Jede zweite heute geschlossene Ehe wird innerhalb der nächsten sieben Jahre scheitern. Dies bedingt Stress. 2008 hat eine Studie der Techniker Krankenkasse belegt, dass berufstätige Eltern besonders an ihre psychische Belastungsgrenze stoßen. Nicht Topmanager, sondern 95 Prozent der Hausfrauen und neun von zehn Schülern beklagen Stress. Dieser bestimmt zunehmend den Alltag, Folgen der gesundheitlichen Dauerbelastung sind Herz-Kreislauferkrankungen und Burnout-Syndrom. Ein besonderes Problem sind Arbeitslosigkeit insbesondere alleinerziehender Mütter und prekäre Arbeitsverhältnisse.

Lange Geschäftsöffnungszeiten sind eine hohe Belastung für das Familienleben der Servicekräfte, wenn es denn überhaupt zustande kommt. Kinderarmut ist eine weitere Folge. 20 Prozent aller Kita-Kinder sind in ihrer Entwicklung verzögert, 13 Prozent der Hauptschüler und 29 Prozent der Berufsschüler verlassen die Lehranstalten ohne Abschluss. Das Ideal der Chancengleichheit, wie noch in den 70er Jahren gefordert, ist in weite Ferne gerückt. Ein übermäßiger Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen sowie Tabak- und Drogenkonsum sind auch Ausdruck dieser Entwicklung. Jedes fünfte Kind einer Schulklasse ist verhaltensauffällig, jedes zehnte Kind soll psychiatrische Behandlung benötigen. Den Kindern und Jugendlichen und gestressten Familien steht ein in Fachdisziplinen gegliedertes Gesundheitssystem gegenüber, der Haus- und Kinderarzt kann in den Ballungsgebieten seiner ehemaligen Funktion als Lotse in diesem System gar nicht mehr gerecht werden. Die Paragrafen 24 und 41 im Sozialgesetzbuch V definieren stationäre Vorsorge und Rehaleistungen für Mutter/Vater und Kind. Hier finden keine organbezogenen Rehabilitationen statt, sondern bei drohender Gesundheitsgefährdung oder eingetretenem Teilhabeverlust wird neben der medizinischen Behandlung eine Neuorientierung der Familie angestrebt.

Eine stationäre Mutter/Vater-Kind Vorsorgeleistung muss bei der Krankenkasse der Mutter oder des Vaters beantragt werden. Diese stationären Leistungen dauern in der Regel drei Wochen. Kliniken, die diese Leistungen erbringen, stehen unter fachärztlicher (internistischer/allgemeinärztlicher) Leitung. Während in der Kinderrehabilitation die Erkrankung des Kindes im Mittelpunkt steht, führen doch viele kindliche Erkrankungen und Entwicklungsstörungen, wie z. B. Erziehungsschwierigkeiten, ADHS, Adipositas, Asthma und Neurodermitis, zu einer erheblichen Belastung der gesamten Familie. So sind Eltern von chronisch erkrankten Kindern häufig erschöpft und klagen über eigene gesundheitliche Probleme. Die Gelegenheit, diese Probleme in einer geschützten Umgebung ohne Alltagsbelastungen in einem interdisziplinären Team zu bearbeiten, stellt die besondere Chance einer solchen Maßnahme dar. Besondere Bedeutung kommt daher gesundheitsbildenden Seminaren wie z. B. zum Thema Asthma und Neurodermitis zu. Diese Seminare entsprechen den ambulant angebotenen Seminaren z. B. der AG Asthma oder der AGNES. Jedoch zeigt die Erfahrung, dass insbesondere in den am meisten belasteten Familien eine Teilnahme erst im Rahmen der Mutter-Kind-Kur möglich ist. Hier ist es möglich, Sorgen der Eltern aufzugreifen, die von ihnen im Praxisalltag oft nicht geäußert werden. Durch Stärkung der Eigenkompetenz kann eine Entlastung erreicht werden, die über die Dauer der Vorsorgemaßnahme hinausgeht. Darüber hinaus ist eine individuelle Betreuung der Familie in Einzelberatung in einem zeitlichen Ausmaß möglich, von dem man als niedergelassener Kinder- und Jugendarzt oft nur träumen kann.

Dr. Thomas Grubba, AOK-Nordseeklinik, Amrum


*


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201001/h100104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


*


Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Januar 2010
63. Jahrgang, Seite 52
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de

Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2010