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ARTIKEL/1334: Bedeutung verdrängt, Vorzüge vergessen - Problemfall Öffentlicher Gesundheitsdienst (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2014

Öffentlicher Gesundheitsdienst
Bedeutung verdrängt, Vorzüge vergessen: Problemfall ÖGD

Von Dirk Schnack


Viele Kreisgesundheitsämter in Bund und Land stehen vor immensen Problemen. Ihre Arbeit ist wichtig, aber Geld und Personal sind knapp - und die Lobby fehlt.


"Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist neben der ambulanten und stationären Versorgung die dritte tragende Säule des Gesundheitswesens. Er nimmt bevölkerungsmedizinische Aufgaben wahr und ist sozialkompensatorisch tätig." So bedeutend wird der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) in Deutschland eingestuft, immerhin von der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) der Länder, die sich im vergangenen Jahr mit diesem Thema auseinandersetzte.

Doch die politische Einschätzung spiegelt sich in vielen Gesundheitsämtern nicht in der personellen Ausstattung wider. Und wenn es um die Berufswahl geht, gilt der ÖGD auch unter Ärzten nicht als gleichwertige Adresse zu den beiden ersten Säulen. Folge ist aus Sicht des Landesverbandes der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst ein gravierender Nachwuchsmangel bei den Gesundheitsämtern, der die Funktionsfähigkeit des ÖGD zunehmend infrage stellt. Dies gilt für viele Bundesländer. Die GMK stellte im vergangenen Jahr fest, dass die Gewinnung von Ärzten für den ÖGD eine zunehmende Herausforderung darstellt. "Der ÖGD muss für Ärztinnen und Ärzte attraktiver werden", stand für die Ministerrunde fest. Um das zu erreichen, forderten sie:

  1. Eine angemessene Bezahlung in Anlehnung an den Tarifvertrag Ärzte sowohl für angestellte als auch für beamtete Ärzte.
  2. Fachliche Inhalte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes frühzeitig und angemessen in die ärztliche Ausbildung zu integrieren.
  3. Alle Möglichkeiten zu nutzen, um die Stärken und Kompetenzen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes herauszustellen.

Der Landesverband Schleswig-Holstein wie auch der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes halten diese Forderungen für gerechtfertigt. "Seit Jahren weist unser Verband in der Öffentlichkeit darauf hin, dass der ÖGD kaum noch Nachwuchs findet. Freie Stellen sind lange offen und können nicht mehr nachbesetzt werden. Der ÖGD kann seine vielfältigen Aufgaben nicht mehr erfüllen, weil ihm der ärztliche Nachwuchs fehlt", sagt Dr. Sylvia Hakimpour-Zern. Sie ist Leiterin des Gesundheitsamts im Kreis Segeberg und 2. Vorsitzende des Landesverbandes in Schleswig-Holstein.

Im Vergleich zu anderen ärztlichen Verbänden ist dieser als eingetragener Verein organisierte Verband klein. Ganze 49 Mitglieder umfasst er, darunter sind 14 Pensionäre. Auch die Zahl der Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst insgesamt ist in unserem Bundesland gering. 137 Ärzte arbeiten in den 15 Gesundheitsämtern des Landes, davon 60 in Vollzeit und 77 in Teilzeit. 20 weitere Stellen gibt es, die aber derzeit unbesetzt sind. Auch bundesweit spielen die Ärzte im ÖGD zahlenmäßig kaum eine Rolle. Nach Zahlen der Bundesärztekammer waren im gesamten Bundesgebiet im Jahr 2012 nur 2.370 Ärzte in den Gesundheitsämtern tätig - dies sind 0,7 Prozent aller berufstätigen deutschen Mediziner. Während die Zahl der insgesamt berufstätigen Ärzte sich von 1995 bis Ende 2012 von rund 274.000 auf rund 349.000 (plus 27 Prozent) erhöht hat, ist die Zahl der berufstätigen Ärzte in den Gesundheitsämtern im gleichen Zeitraum von rund 3.800 auf 2.370 und somit um rund 37 Prozent zurückgegangen. "Diese Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Bereits heute ist angesichts der Altersstruktur und der demografischen Entwicklung zu erkennen, dass ein großer Teil der in den Gesundheitsämtern tätigen Fachärzte für öffentliches Gesundheitswesen in den Ruhestand treten wird, während lediglich 13 Fachärzte unter 40 Jahren in der Ärztestatistik registriert wurden", berichtet Hakimpour-Zern im Gespräch mit dem SchleswigHolsteinischen Ärzteblatt.

In der seit Jahren geführten Diskussion zum Ärztemangel in Deutschland spielte die Situation im Öffentlichen Gesundheitsdienst bis vor Kurzem kaum eine Rolle, obwohl die Zahlen in diesem Bereich einen eklatanten Nachwuchsmangel erwarten lassen. "Die Folgen der personellen Ausdünnung des ÖGD rächen sich jetzt. Es brennt an allen Ecken und Enden", sagt Hakimpour-Zern. So haben nach ihren Angaben derzeit in Schleswig-Holstein sieben Gesundheitsämter keine Psychiater angestellt, obwohl deren Arbeit extrem wichtig ist. Und die Ämter kämpfen mit hohen Abwesenheitszeiten: Die dünne Personaldecke führt zu Überlastungen, was zu mehr Krankmeldungen bis hin zum Burnout führt. Die Arbeit von Kollegen, die sich weiterbilden, bleibt liegen. Ausgeschriebene Stellen bleiben zum Teil bis zu zwei Jahre lang unbesetzt.

Die Schieflage hat auch den Marburger Bund (MB) auf den Plan gerufen. Der berichtete kürzlich, dass die Amtsärzte in Berlin ihren Pflichtaufgaben kaum noch nachkommen können, weil dort 400 Stellen unbesetzt sein sollen. Berlin ist dennoch Musterknabe - in der Transparenz. Denn dort wurde ein Mustergesundheitsamt entwickelt, mit dem die Personal- und Sachausstattung der bezirklichen Gesundheitsämter festgelegt wurde. Eine solche Transparenz lassen die meisten Bundesländer beim ÖGD vermissen - weil damit die zu dünne Personaldecke sichtbar wird? Leidtragende sind diejenigen, denen die Leistungen nicht zur Verfügung stehen. Dies gilt schon für die Regelversorgung. Wenn Infektionswellen hinzukommen, stehen viele Ämter vor der Aufgabe, diese mit einer ohnehin zu dünnen Personaldecke zusätzlich bewältigen zu müssen. Der MB sieht einen Grund für die Probleme darin, dass der ÖGD trotz seiner wichtigen Aufgaben von der Öffentlichkeit und als Folge davon auch von der Politik kaum wahrgenommen wird, was zu einer chronischen Unterfinanzierung des gesamten Bereichs führt. Dies hat in manchen Ämtern Auswirkungen auf die Honorierung der Ärzte, die in anderen Tätigkeiten mehr verdienen können. MB-Hauptgeschäftsführer Armin Ehl forderte deshalb eine Bezahlung nach MB-Tarif für die Amtsärzte.

"Die politisch Verantwortlichen sind in der Pflicht, im Sinne der Daseinsfürsorge für Bürger bundesweit die Gesundheitsämter ausreichend finanziell und personell auszustatten", fordert auch Hakimpour-Zern. "Angesichts der EHEC-Krise und der Diskussion über Hygienemängel in stationären und ambulanten medizinischen Einrichtungen ist erneut deutlich geworden, wie wichtig ein funktionierender ÖGD für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung ist. Gleiches gilt für die Frage der Verbesserungen im Bereich der Prävention, bei der vor allem die Umsetzung des Präventionsgedankens in Lebenswelten entscheidend von der Einbindung der Gesundheitsämter vor Ort abhängt", sagt sie zu der angespannten Situation auch in vielen schleswig-holsteinischen Kreisen.

In der Lobbyarbeit sind die Grenzen für ihren kleinen Verband schnell erreicht. Sie selbst hat sich als Delegierte für die Kammerversammlung aufstellen lassen und hofft, über diesen Weg innerärztlich etwas erreichen zu können. Eine Kollegin aus dem Landesverband ist im Marburger Bund auf Landesebene aktiv. Sie haben viel Arbeit vor sich, denn selbst vielen Kollegen ist nach ihren Erfahrungen nicht klar, warum die Arbeit im ÖGD so wichtig und wie prekär die Personalsituation ist.

Dabei braucht der ÖGD nicht nur junge Ärzte, sondern auch viel Erfahrung. Wer im ÖGD arbeitet, muss nicht nur impfen und beurteilen können, wer fahr- oder schultauglich ist. Er muss unter Umständen auch in die Lebenswelt psychisch Kranker eintauchen - die Arbeit von Amtsärzten hat ein so breites Spektrum, dass sie für frisch approbierte Kollegen zu einer Herausforderung werden kann. Gerne werden deshalb Kollegen mit doppelter Facharztbezeichnung genommen, die schon an mehreren Stellen ärztlich gearbeitet haben.

Hakimpour-Zern hat das breite Spektrum als Famulantin am Kieler Gesundheitsamt kennengelernt. Von der Aidshilfe über Drogenberatung bis zur Beurteilung der Schultauglichkeit reichte das Betätigungsfeld. Und an keinem Gesundheitsamt ist das Aufgabenspektrum so wie am nächsten. Die Zuschnitte sind je nach Ausstattung, Struktur und Tradition unterschiedlich. Das bestätigt auch Klaus Petzold aus dem Gesundheitsamt des Kreises Ostholstein in Eutin. Der Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes beobachtet einen steigenden Bedarf an Hilfe, auch weil Menschen im Gesundheitssystem überfordert sind. "Das liegt auch daran, dass das System immer stärker bürokratisiert und kommerzialisiert wird", lautet seine Einschätzung. Er ist deshalb froh, unabhängig von finanziellem Erfolgsdruck arbeiten zu können. Und nicht nur das: "Wir können gestalten, vielseitig und an der Sache orientiert arbeiten", beschreibt Petzold die Vorzüge seines beruflichen Alltags (siehe Kasten weiter unten). Er sagt auch: "Wir haben kein einheitliches Selbstverständnis im sozialpsychiatrischen Dienst und bundesweit ein sehr heterogenes Bild."

Das gilt aber auch für den ÖGD insgesamt. Zu den wesentlichen Aufgaben des ÖGD der Kreise und kreisfreien Städte gehören:

  • Beratung und Aufklärung über Gesundheitsrisiken, gesundheitsfördernde Maßnahmen und gesundheitsbewusstes Verhalten,
  • Schutz und Förderung der Kinder- und Jugendgesundheit,
  • Beratung und Unterstützung psychisch kranker Menschen einschließlich freiheitsentziehender Maßnahmen gemäß PsychKG,
  • Gewährung von Gesundheitshilfen durch Beratung und Betreuung,
  • Wahrnehmung von Aufgaben des umweltbezogenen Gesundheitsschutzes und Beratung bei umweltmedizinischen Fragen,
  • Überwachung der Trinkwasserhygiene,
  • Überwachung der Schwimmbecken- und der Badebeckenwasserhygiene,
  • Überwachung der Badegewässer,
  • Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten einschließlich Impfungen,
  • Infektionshygienische Überwachung von Gemeinschaftseinrichtungen und medizinischen Einrichtungen,
  • Ausstellung von amtlichen Gutachten, Zeugnissen und Bescheinigungen, soweit gesetzlich vorgeschrieben.

Diese Aufgaben können von Amt zu Amt variieren, einige - wie etwa das Gesundheitsamt im Kreis Nordfriesland - übernehmen zusätzliche Aufgaben, andere müssen Aufgaben wegen einer dünnen Personaldecke zumindest für eine Übergangszeit abgeben oder die Intervalle, in denen diese Aufgaben erfüllt werden, verlängern.

Auch vielen Ärzten dürfte die Liste der Aufgaben nicht bekannt sein. "Nur die wenigsten wissen, wie vielseitig unser Arbeitsalltag ist", lautet die Erfahrung von Hakimpour-Zern aus Gesprächen mit ärztlichen Kolleginnen und Kollegen. Das könnte der Grund sein, warum viele Ärzte, die nicht in die direkte Patientenversorgung gehen, in der Krankenhaushygiene oder im MDK landen oder sich von Headhuntern in Reha-Einrichtungen lotsen lassen - sich aber nur in den seltensten Fällen im Öffentlichen Gesundheitsdienst bewerben.

Dabei gibt es jede Menge Gestaltungsmöglichkeiten, wenn denn das Budget dafür vorhanden ist. Als Beispiel verweist Hakimpour-Zern auf das in Schleswig-Holstein vom ÖGD initiierte MRE-Netzwerk. Aber auch einige Rahmenbedingungen bieten Vorteile: keine Anwesenheitsdienste, gute Teilzeitmöglichkeiten, familienfreundliche Arbeitszeiten. Das aber ist vielen Kollegen unbekannt. Der Verband setzt sich deshalb inzwischen dafür ein, dass Famulaturen und das Praktische Jahr im Gesundheitsamt geleistet werden können. "Viele Studenten würden sich für unser Berufsbild interessieren, wenn sie wüssten, was wir tun", sagt Hakimpour-Zern. Einen Lichtblick gibt es: In den Gesundheitsämtern werden wieder mehr Chefpositionen als früher mit Ärzten besetzt. Und es gibt auch Gesundheitsämter im Land, die mit ihrer personellen Situation zufrieden sind. Ein solches Beispiel ist das Gesundheitsamt in Husum, wo Leiterin Dr. Antje Petersen auf ein Team von 30 Mitarbeitern zurückgreifen kann. Schon deren Berufe verraten die Interdisziplinarität: Neben vier Amts- und drei Kinder- und Jugendärzten sind auch eine Zahnärztin, Gesundheitsingenieur, Gesundheitsaufseher, Sozialpädagogen, Demenzberater, Krankenschwester, Psychiatriekrankenpfleger, Zahnarzthelferin und MFA sowie Schreibkräfte im Einsatz für den Öffentlichen Gesundheitsdienst im Kreis Nordfriesland. "Wenn alle da sind, sind wir gut ausgestattet", sagt Petersen. Trotzdem gibt es auch in ihrem Amt noch Lücken, die sie gerne geschlossen sähe. Wegen des zunehmenden Bedarfs würde sie gerne einen weiteren Mitarbeiter für den am Gesundheitsamt angesiedelten Pflegestützpunkt für die aufsuchende Beratung einstellen. Sorge bereitet ihr, dass immer mehr Aufgaben von oben nach unten durchgereicht werden. So können Entscheidungen auf EU-Ebene zu großen Belastungen in den Gesundheitsämtern führen, weil die daraus resultierenden Mehraufgaben bis zur angestrebten Personalaufstockung in der Zwischenzeit vom vorhandenen Personalstamm geleistet werden müssen, was oft zu Überlastungen führt. Und: Neubesetzungen, wenn sie überhaupt möglich sind, dauern. "Das wird in Verwaltungen viel komplizierter gehandhabt als in der freien Wirtschaft. Bis es zur Entscheidung kommt, haben sich die Bewerber oft schon etwas anderes gesucht", sagt Petersen.

Dabei könnte sich das Warten lohnen. Denn die Arbeit im ÖGD verspricht Abwechslung und manchmal auch Alleinstellungsmerkmale. In Husum ist dies die Prüfung für Heilpraktiker, die dort landesweit zentralisiert ist. Über 500 angehende Heilpraktiker müssen jedes Jahr ihr kernmedizinisches Wissen vor Petersen und ihren Kollegen unter Beweis stellen. Ein anderer Vorteil: Die Ärzte im ÖGD können Menschen über einen langen Zeitraum begleiten und lernen ihre Lebensumstände kennen. "Wir fahren raus zu den Menschen und sehen, wie sie leben. So etwas sieht kein Klinikarzt", sagt Petersen. Eine starke Zunahme verzeichnen in Husum die Verkehrsgutachten. Fast täglich haben Petersen und ihre Mitarbeiter zu beurteilen, ob ein mit Drogen auffällig gewordener Autofahrer regelmäßiger Konsument ist.

Auch die Verdienstmöglichkeit - oft genannter Grund für die vermeintlich fehlende Attraktivität des ÖGD - ist nach Erfahrungen Petersens kein Grund, sich nicht im ÖGD zu bewerben. "Bei uns können Ärzte eine Zulage beantragen, die die Differenz zum Verdienst in der Klinik ausgleicht", sagt Petersen. Ob diese Zulage gezahlt wird, ist aber von Amt zu Amt unterschiedlich.

Trotzdem sind Stellenbesetzungen für das nordfriesische Gesundheitsamt alles andere als Selbstgänger. Da die Bewerber meist über einige Jahre Berufserfahrung verfügen, haben sie sich in aller Regel schon familiär und an eine bestimmte Region gebunden: "Da wird der Wechsel schwerer." Besonders schwierig ist es nach ihren Erfahrungen derzeit, Psychiater zu finden. "Der Markt ist leergefegt." Hinzu kommt das auch nach ihrer Ansicht verbesserungsfähige Image: "Unser Arbeitsplatz wird in der Öffentlichkeit irgendwie verstaubt wahrgenommen." Um das zu ändern, wünscht sie sich eine positive Auseinandersetzung mit ihrem Beruf an den Universitäten. Hier müsste nach ihrem Wunsch schon vermittelt werden, wie vielseitig und aufsuchend die Arbeit an den Gesundheitsämtern sein kann. Petersen: "Die einzige, die bei uns viel am Schreibtisch sitzt, bin ich."

Häufiger am Schreibtisch wäre dagegen gerne Dr. Gabriele Zenkl. Die beim Kreis Segeberg angestellte Ärztin absolviert jede zweite Schuleingangsuntersuchung nicht an ihrem Arbeitsplatz im Segeberger Gesundheitsamt, sondern an einer Schule im Kreis. "Das kostet Fahrtzeit, die ich gerne für die Untersuchungen hätte. Aber viele Schulen und Eltern erwarten, dass wir vor Ort sind, obwohl wir in Bad Segeberg bessere Arbeitsbedingungen haben. So werden die Schuleingangsuntersuchungen zu einer organisatorischen Herausforderung", sagt Zenkl. Froh wäre sie über angemessene Arbeitsbedingungen vor Ort. Die kann aber nicht jede Schule bieten. Die Räume, in denen sie die Kinder untersucht, sind mal zu eng, mal schlecht beheizt und manchmal muss Zenkl den Raum sogar gegen andere Begehrlichkeiten von Nutzern verteidigen. Und wenn vor Ort doch alles vernünftig organisiert ist, erscheinen manche Eltern mit ihrem Kind nicht und die Ärztin kann die Wartezeit nur unzureichend mit anderer Arbeit überbrücken, weil sie sich nicht an ihrem Arbeitsplatz befindet.

Trotz aller Probleme macht Zenkl ihre Arbeit gern. Die Mutter von zwei Kindern war viereinhalb Jahre an einer Uniklinik beschäftigt, war zwölf Jahre lang Dozentin für Pädiatrie, hat in einer Praxis und als selbstständige Konsiliarärztin gearbeitet. Auch ihre neue Kollegin Dr. Caroline Krüger macht Schuleingangsuntersuchungen. Anfangs wusste sie kaum etwas über das Tätigkeitsspektrum der Amtsärzte und bewarb sich beim Kreisgesundheitsamt, um Arbeit und Familie gut miteinander kombinieren zu können. Inzwischen kann sie sich vorstellen, dass sie als Amtsärztin auch dann noch arbeitet, wenn sie ihre Arbeitszeit unabhängiger von der Kinderbetreuung einteilen kann (siehe Interview weiter unten).

2,9 Stellen hält der Kreis Segeberg vor, um u. a. rund 2.400 jährliche Schuleingangsuntersuchungen leisten zu können. Vielen Eltern erscheint dies wie eine lästige Pflichtübung, weil ihre Kinder unauffällig sind und regelmäßig beim Kinderarzt untersucht werden. Das aber machen längst nicht alle Eltern. Tatsächlich stoßen Ärzte wie Zenkl und Krüger bei den Einschulungsuntersuchungen immer wieder auf Kinder, die bislang kaum oder gar keinen Arztkontakt hatten und die hohen Förderbedarf haben. Die Schultauglichkeit zu untersuchen ist aber nur eine ihrer Aufgaben. Sie schreiben auch viele Gutachten, mit denen etwa der Frühförderbedarf bei Kindern beurteilt wird, beschäftigen sich mit Beihilfeanträgen und beurteilen, ob für ein Kind eine Schulbegleitung erforderlich ist.

Zenkl wünscht sich mehr Kollegen wie Krüger, um mehr Zeit für die einzelnen Aufgaben zu haben und damit intensiver auf die Kinder eingehen zu können, denen zu Hause nicht die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt wird. Denn für jedes zehnte Kind liegt zur Schuleingangsuntersuchung eine Akte vor, und bei den meisten von ihnen reicht die sonst übliche Viertelstunde, nachdem schon Voruntersuchungen abgeschlossen sind, für die ärztliche Beurteilung nicht aus. "In anderen Kreisen gibt es umfangreichere Entwicklungstests, dafür reicht bei uns die Zeit nicht", sagt Zenkl. Sie ist nicht etwa frustriert von ihrer Arbeit, glaubt aber: "Mit besseren Rahmenbedingungen könnte man mehr bewirken."

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KÄSTEN

Sozialpsychiatrie: schnelle Hilfe

Ein Mieter verhält sich auffällig und seine Nachbarn alarmieren die Polizei. Als die sich der Wohnung nähert, droht der Mann mit Suizid. Die Ordnungshüter wenden sich an die Rufbereitschaft des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Kreises. In Ostholstein wird in solch einem Fall Klaus Petzold oder einer seiner Kollegen angerufen. Rund um die Uhr stehen sie abwechselnd bereit. Organisiert wird der Dienst vom Kreisgesundheitsamt aus. Einige der rufbereiten Ärzte sind an Kliniken angestellt und üben die Bereitschaft in Nebentätigkeit aus, andere, wie Petzold, sind Angestellte im Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes. Alle sind psychiatrieerfahrene Ärzte.

Diese Krisenintervention ist nur eine Facette aus dem Arbeitsalltag von Petzold. Der Facharzt für Psychiatrie deckt im Sozialpsychiatrischen Dienst des Kreisgesundheitsamtes in Eutin ein breites Spektrum ab. Es umfasst auch Begutachtungen, Beratung und Begleitung, Beschwerdemanagement, Fachaufsicht und Koordination. Zusammen mit Petzold und einer ärztlichen Kollegin arbeiten auch neun Sozialpädagogen im Team des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Besonders wichtig ist Petzold die aufsuchende Hilfe. "Die hat einen enormen Qualitätsvorteil, weil wir innerhalb weniger Minuten die Lebenssituation der Betroffenen einschätzen können. Das ersetzt mehrere Besuche der Betroffenen im Amt", sagt Petzold. Viele seiner Klienten, wie die Betroffenen im Amtsdeutsch heißen, sind nicht wartezimmerfähig und haben keine Einsicht in ihre Erkrankung. Petzold begleitet manche von ihnen seit Jahren. Etwa den früheren Studenten, der unter einer paranoiden Psychose leidet und zu Petzold kommt, wenn er Gesprächsbedarf hat. Heute schildert er ausgiebig einen harmlosen Vorfall, der 35 Jahre zurückliegt, ihm aber das Gefühl gibt, unter Beobachtung zu stehen. Ausgiebig schildert der Mann, was ihn bewegt. Petzold nimmt ihn ernst, macht ihm aber zugleich klar, dass dieser Vorfall sich auch anders interpretieren lässt. Nach kurzer Absprache mit dem Hausarzt entscheidet Petzold, dass die Medikamentendosis erhöht werden muss. Der Patient stimmt dem zu, nicht ohne seine Bedenken zu den Nebenwirkungen zu schildern. Auch hierfür nimmt sich Petzold Zeit. Insgesamt beschäftigt er sich an diesem Tag rund eine halbe Stunde mit ihm. "Das wäre in einer Praxis kaum möglich. Diese Zeit ist aber wichtig für den Patienten, weil sich sonst einiges anstaut. Langfristig vermeiden wir damit eine Klinikeinweisung", sagt Petzold.

Eigentlich wollte er Hausarzt auf dem Land werden. Dann arbeitete er eine Zeit lang in der Forschung, bevor er in die Psychiatrie wechselte - und seine Lebensaufgabe fand. "Es ist das Faszinierendste, was ich in meinem Leben kennengelernt habe", sagt Petzold. Nur eines störte ihn in der Klinik: Nach der Entlassung wurden viele Patienten wieder krank. Petzold wollte dort ansetzen, wo die Menschen leben, und wechselte in den Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes. "Anfangs fiel es mir schwer, in einer Behörde zurechtzukommen. Inzwischen möchte ich mit keinem Kollegen mehr tauschen", sagt der Arzt nach 16 Jahren Berufserfahrung im ÖGD. Das könnte daran liegen, dass sein Kreis den Sozialpsychiatrischen Dienst qualifiziert ausgestattet hat und damit nach Überzeugung Petzolds langfristig viele Folgekosten vermeidet.

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Schultauglich: oft überraschend

Grundschule Seth, es hat gerade zur ersten Stunde geklingelt. Dr. Gabriele Zenkl stellt die Heizung im Musikraum an und Tische und Stühle so um, dass sie sich mit jeweils einem Kind und den Eltern unterhalten kann. Sie breitet ihre Unterlagen aus, legt ein Sprungseil auf den Fußboden und wäscht sich noch einmal die Hände. Auf rund zehn Kinder wartet heute die Schultauglichkeitsuntersuchung, die vom kinderärztlichen Dienst des Kreisgesundheitsamtes Segeberg zu leisten ist. Nach sieben Dienstjahren mit jeweils rund 500 Untersuchungen Routine für die erfahrene Ärztin? "Ja und nein", sagt Zenkl. Natürlich verfügt sie über viel Erfahrung und ist damit in der Lage, zügig zu beurteilen, ob ein Kind schultauglich ist oder nicht. Auf der anderen Seite hat sie gelernt, sich nicht auf Vorbefunde und Akten zu verlassen, sondern jedes Kind für sich neu wahrzunehmen und daraus eigene Schlüsse zu ziehen, was in den vergangenen Jahren zu einigen überraschenden, für die Kinder hilfreichen Diagnosen geführt hat. Zum Beispiel bei dem Jungen einer Asylbewerberfamilie, bei dem sie eine spinale Muskelatrophie feststellte; er kam auf ihre Intervention hin erstmals in ärztliche Behandlung und wurde mit Hilfsmitteln versorgt. Auch eine zuvor nicht entdeckte Schilddrüsenunterfunktion oder Autismus hat sie bei Schuleingangsuntersuchungen schon festgestellt und für ärztliche Behandlung der Kinder gesorgt. "Das ist nicht die Regel. Man muss aber immer wieder auf Überraschungen gefasst sein. Das Spektrum der Kinder, die wir sehen, reicht von unauffällig bis extrem entwicklungsverzögert", sagt Zenkl. Und diese Kinder bekommen auf ihre Intervention hin therapeutische Unterstützung. Ihr erstes Kind an diesem Morgen ist Paul. Der Sechsjährige war zuvor bei Zenkls Mitarbeiterin Birgit Hansen, die das Kind schon vermessen und gewogen, Augen und Ohren getestet hat. Paul zeichnet und spricht, wie es von einem Kind, das eingeschult werden soll, erwartet wird. Er beantwortet jede Frage, kann Figuren erkennen und Bildergeschichten von einer falschen in die richtige Reihenfolge bringen. Auch das Gehen auf dem ausgebreiteten Springseil, das Hüpfen und das Stehen auf einem Bein bereitet ihm keine Probleme. Die Durchsicht des Vorsorgeheftes zeigt, dass seine Eltern die Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt gewissenhaft wahrgenommen haben. Zenkl bespricht mit der Mutter, welche Impfung möglichst in den nächsten Wochen noch nachgeholt werden sollte, dann bekommt Paul als erstes Kind an diesem Vormittag einen Stempel mit dem Hasen Felix als Zeichen seiner Schultauglichkeit. Nach einer Viertelstunde kann Paul mit seiner Mutter den Musikraum wieder verlassen. So rund läuft es aber nicht bei jedem Kind. Einer seiner künftigen Mitschüler hat erkennbar zu viele Pfunde auf den Rippen. Er ist ohne Zweifel schultauglich - auf die Hinweise Zenkls, dass das Kind über der Gewichtskurve liegt, reagiert die übergewichtige Mutter aber wenig aufgeschlossen. Schuld sei die Ernährung bei den Großeltern, zu Hause esse er "ganz normal". Zenkl lässt sich auf keine Diskussion ein, weist die Mutter nur auf die Konsequenzen weiteren Übergewichts für das Kind hin. "Es hat keinen Sinn, wenn die Eltern abblocken und das Kind dies spürt", lautet ihre Erfahrung; ähnliche Situationen kennt sie mit Impfgegnern. Schon in solchen Situationen kommt sie mit der vorgegebenen Viertelstunde nicht mehr aus. Mehr Zeit aber hat sie wegen der dünnen Personaldecke nicht.

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"Schauen, was dahinter steckt"

Dr. Caroline Krüger (39) hat sich vor einem halben Jahr für die Tätigkeit im Segeberger Kreisgesundheitsamt entschieden. Anfangs wusste die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin kaum etwas über das Tätigkeitsspektrum, das sie erwartet. Heute ist sie voller Respekt für die Arbeit ihrer Kollegen und mit den Arbeitsbedingungen zufrieden. Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt sprach mit ihr über den Start in den ÖGD.

Frau Krüger, als Ärztin haben Sie freie Auswahl auf dem Stellenmarkt. Wie sind Sie ausgerechnet auf das Kreisgesundheitsamt gekommen?

Krüger: Nach der Geburt meiner Kinder war klar, dass die Arbeit an der Uniklinik mit dem momentanen Familienalltag schwer zu vereinbaren sein würde. Feste Arbeitszeiten sind dort nicht garantiert. Zuhause bleiben kam für mich aber nicht infrage. In dieser Situation habe ich eine Annonce des Kreisgesundheitsamtes gelesen und dort angerufen. Ich wusste so gut wie nichts über die Aufgaben und habe dann für einen Tag Probe gearbeitet. Das hat mir gefallen, außerdem ist die gute Vereinbarkeit dieser Tätigkeit mit dem Familienleben überzeugend. Ich bin froh, dass ich mich dafür entschieden habe.

Fehlt Ihnen nicht die Akutmedizin?

Krüger: Ich habe sehr gerne an der Uniklinik gearbeitet. Aber es ist schön, jetzt ohne den teilweise sehr stressigen Klinikalltag arbeiten zu können. Um die Akutmedizin jedoch nicht ganz zu vernachlässigen, arbeite ich nebenbei auf Honorarbasis in einer Kinderarztpraxis in Ahrensburg.

Was ist an der Tätigkeit im Kreisgesundheitsamt reizvoll?

Krüger: Wir können uns hier wirklich Zeit nehmen für die Patienten und begleiten sie über einen längeren Zeitraum. Es ist interessant herauszufinden, ob vielleicht hinter einer Entwicklungsverzögerung oder z. B. bei einer sonderpädagogischen Überprüfung, doch eine relevante Diagnose stecken könnte, und diese Kinder dann entsprechend weiterzuleiten. Außerdem ist es spannend, sich ein neues Feld zu erschließen, von dem man bis vor Kurzem kaum etwas wusste. Hinzu kommen die guten Arbeitsbedingungen: Zeit statt Stress, weil wir Ärzte Verwaltungsaufgaben abgeben können. Und die Möglichkeit, sich auf eine Arbeit zu konzentrieren, weil man im Gegensatz zur Klinik ein eigenes Büro hat.

Was sagen Ihre früheren Kollegen zu Ihrer neuen Tätigkeit?

Krüger: Die fragen mit großem Interesse nach, weil sie alle wenig über die Arbeit der Gesundheitsämter wissen. Viele glauben, hier sitzen nur ältere Herrschaften ihre Zeit bis zur Rente ab - das ist falsch. Stattdessen habe ich hochqualifizierte und engagierte Kollegen angetroffen, die etwas bewegen wollen. Damit mehr jüngere Kollegen wissen, was wir tun, wäre ein verpflichtender Weiterbildungsabschnitt im Gesundheitsamt sinnvoll. Ich selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, mich hier zu bewerben, wenn ich nicht nach familienfreundlichen Bedingungen gesucht hätte. Inzwischen würde ich nicht ausschließen, die Tätigkeit auch dann noch auszuüben, wenn ich wieder unabhängiger von den Kindern arbeiten kann.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2014 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2014/201404/h14044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen
Ärzteblatts:

www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Auch an versäumte Impftermine erinnern Ärzte des ÖGD bei den Schuleingangsuntersuchungen.
- Dr. Sylvia Hakimpour-Zern
- Dr. Antje Petersen
- Klaus Petzold, Facharzt für Psychiatrie im Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes in Eutin.
- Dr. Gabriele Zenkl untersucht rund 500 Kinder im Jahr auf ihre Schultauglichkeit. Für viele reicht die vorgegebene Viertelstunde dabei nicht aus.
- Dr. Caroline Krüger ist erst seit einem halben Jahr Amtsärztin - und froh, dass sie sich für diese Tätigkeit entschieden hat.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt April 2014
67. Jahrgang, Seite 12 - 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz-Joseph Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
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www.aeksh.de
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www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2014

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