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SOZIALES/027: "Weil Du arm bist, musst Du früher sterben" (Wir Frauen)


WIR FRAUEN - Das feministische Blatt 2/2016

Dieses System schadet Ihrer Gesundheit

Von Ingrid Jost


"Weil Du arm bist, musst Du früher sterben", denn sozio-ökonomische Bedingungen haben Auswirkungen auf die Gesundheit. Diese Erkenntnis ist schon seit vielen Jahrzehnten bekannt und wird durch weitere Studien immer wieder bestätigt. Doch in Zeiten, in denen die Profitrate oberste Priorität hat, spielen die Lebensqualität oder die Lebenserwartung von ärmeren Menschen eine untergeordnete Rolle. Zu diesen Bedingungen gehören u.a. materieller Wohlstand, Wohnverhältnisse, Bildung, berufliche Stellung und Prestige. Seit dem 20. Jhd. leben Frauen länger als Männer, in Deutschland beträgt die Differenz ca. 5 Jahre. Die Differenz in Deutschland wird u.a. durch erhöhten Tabak- und Alkoholkonsum sowie die erhöhte Neigung zu Gefäßerkrankungen bei Männern und durch ernährungsbedingte und biologische Faktoren erklärt.
Armut ist nach wie vor weiblich, unter anderem aufgrund der seit Jahren andauernden Lohndiskriminierung von Frauen, ihres hohen Anteils im Niedriglohnbereich, der Minijobs, der Sorgearbeit für Kinder und der zu pflegenden Familienangehörigen, die überwiegend von Frauen verrichtet wird.

In deutschen Krankenhäusern infizieren sich nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) jährlich rund eine Million Patient_innen mit Keimen. Für ca. 40.000 Menschen enden die Infektionen laut DGKH tödlich, als Folge mangelnder Hygiene in Kliniken.
Kein Wunder: Kostensparen, Outsourcing, Verdichtung und Prekarisierung schlagen sich insbesondere auf die Arbeit der Reinigungskräfte nieder, deren lebenswichtige Arbeit gesellschaftlich noch immer unterschätzt, zu gering entlohnt und unter hohem Zeitdruck ausgeführt wird. Bei dem lukrativen Geschäft mit der Gesundheit bleiben diejenigen auf der Strecke, die von diesem Geschäft abhängig sind, die armen jungen und alten Kranken. Wenn zunehmend privatisierte Kliniken vor allem profitabel wirtschaften, wird dies für die einen zur Unterversorgung, für die anderen zur Überversorgung führen, z.B. mit fragwürdigen, lukrativen Behandlungen und "Gerätemedizin". Auf der Strecke bleiben aber auch die Mitarbeiter_innen dieser Branche, deren Arbeit sich immer mehr verdichtet und kaum Zeit lässt für zwischenmenschliche Begegnung.

Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Frauen sind häufig auf Gewalt in engen sozialen Beziehungen zurückzuführen. Einer EU-weiten Erhebung zufolge geben 35% der in Deutschland befragten Frauen an, körperliche bzw. sexuelle Gewalterfahrung seit dem 15. Lebensjahr erlitten zu haben und ca. 20% der Frauen machten Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen. Häusliche Gewalt gegenüber Frauen bezeichnet die WHO (2013) als eine der häufigsten Menschenrechts-Verletzungen. Trotz gravierender physischer oder psychischer Folgen der Gewalt ist die Versorgungslage völlig unzureichend. Es gibt Frauen, die ihre Gewalterfahrungen verschweigen und deshalb falsch behandelt werden. Aber auch diejenigen, die das Trauma thematisieren, haben es schwer, einen angemessenen Therapieplatz zu bekommen. Die Wartezeiten können mehrere Monate dauern. Man muss sich zeitig um einen Therapieplatz bemühen und sich auf Wartelisten setzen lassen.
Die Folgen der erlittenen Gewalt sind vielfältig, dazu gehören u.a. Angst- und Panikattacken, Aggression, Depression, der Verlust der Selbstachtung, Selbstbeschuldigung, Verzweiflung sowie verschiedene Stresssymptome, Schlafstörungen, Albträume, Intrusionen und zahlreiche körperliche Folgen wie z.B. irreversible Verletzung an den Gelenken, Schmerzen und chronische Schmerzen.

Die Fluchterlebnisse der ca. 30% weiblichen Flüchtlinge, die in der BRD Schutz suchen, haben nicht selten eine bittere Fortsetzung in den Flüchtlingsunterkünften. Hier besteht ebenfalls dringender Handlungsbedarf, der erschwert wird durch Sprachbarrieren. Deshalb sind Geschlechts- und kultursensible psychosoziale und medizinische Beratung und Versorgung notwendig, um den vielfältigen Problemlagen gerecht zu werden. Die meisten durch Gewalt traumatisierten Flüchtlingsfrauen kennen weder die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen noch das Gewaltschutzgesetz und brauchen u. a. auch Informationen über Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser.

Die elektronische Gesundheitskarte im Rahmen des Asylbewerber-Leistungsgesetzes ist eine Initiative zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Asylbewerber_innen. Nach Bremen und Hamburg hat NRW als erstes Flächenland den Versuch unternommen, sie im Rahmen eines Modellprojektes am 1.1.2016 einzuführen, allerdings auf freiwilliger Basis. Deshalb haben viele Kommunen nicht zugestimmt, mit dem Argument, die eGK sei zu teuer. In Hamburg jedoch können seit der Einführung der eGK ca. 1,6 Mio EUR jährlich eingespart werden. Eine Studie des Universitätsklinikums Heidelberg und der Universität Bielefeld kommt zu dem Ergebnis, dass der Bund im Laufe von 20 Jahren 1,5 Mrd EUR hätte sparen können, wenn sie die eGK eingeführt hätten. Dr. K. Bozorgmehr, Autor der Publikation vom Universitätsklinikum Heidelberg, und Ko-Autor Prof. Dr. O. Razum, Dekan der Universität Bielefeld, werteten die Daten des Statistischen Bundesamtes aus, mit dem Ergebnis, dass die jährlichen Pro-Kopf Ausgaben für medizinische Versorgung bei Asylsuchenden mit nur eingeschränktem Zugang zur medizinischen Versorgung in den letzten 20 Jahren (1994-2013) um circa 40% und damit 376 EUR höher sind als bei Asylsuchenden, die bereits Anspruch auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung haben.

Viele Menschen aus Südosteuropa leben in Deutschland ohne Anspruch auf Krankenversicherung, es sei denn, sie sind abhängig erwerbstätig. In über 30 Städten in Deutschland gibt es bereits sogenannte Medibüros für Menschen, die keinen Zugang zum Gesundheitswesen haben. Ehrenamtliche vermitteln die Patient_innen an Arztpraxen, Psychotherapeut_innen, Hebammen und Physiotherapeut_innen, bei Bedarf auch an Kliniken. Allein in Duisburg waren 2015 ca. 10.000 Menschen überwiegend aus Südosteuropa ohne Krankenversicherung.
Deren einzige Hoffnung auf Versorgung ist die kostenlose Sprechstunde im Pfarrhaus am Petershof in Marxloh. Trotz zahlreicher Gespräche mit dem NRW-Gesundheitsministerium hat sich die Problemlage weiter verschärft. Mittlerweile ist die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung in Duisburg auf 12.000 angestiegen, von denen ca. 120 in die wöchentliche Sprechstunde kommen, die von ehrenamtlich arbeitenden Menschen mit großem Engagement aufrecht erhalten wird.
Zahlreiche junge Schwangere hatten während ihrer Schwangerschaft bis zum Besuch dieser Sprechstunde noch nie einen Arzt gesehen. Die Gefahr von Risiko-Schwangerschaften und Fehlgeburten ist sehr hoch. Der Zahnstatus der Menschen ist nicht zuletzt aufgrund von Mangelernährung katastrophal, einen Zahnarztbesuch können sich die Frauen nicht leisten. Frauen ab 40 kommen häufig mit einer posttraumatischen Belastungsstörung in die Sprechstunde.
Eigentlich ist es das erklärte Ziel der Helferinnen, endlich überflüssig zu werden. Es braucht eine bundesweit angemessene Versorgung - eine geplante Clearingstelle allein, die die Versicherungsverhältnisse der betroffenen Menschen klärt, wird das Problem nicht lösen.

Im Bundeshaushalt von 2016 sind für die Verteidigung 34.288 Milliarden EUR eingestellt, für Gesundheit 14.573 Milliarden EUR. Statt in den Krieg sollten wir in ein solidarisches Gesundheitssystem investieren, in das alle einzahlen, mit einer Gesundheitskarte für alle, unabhängig von Herkunft und Status.
Gesundheit ist ein Menschenrecht, das es zu verteidigen gilt, und wenn die Mittel dafür nicht ausreichen, so sollte das ein wichtiger "Verteidigungsfall" der gesamten Gesellschaft werden.


Ingrid Jost ist Diplompädagogin, Vorsitzende von Erwerbslose helfen Erwerbslosen e.V. (Ehe) und im Landesvorstand der LINKEN NRW mit den Schwerpunkten Arbeits- und Sozialpolitik, Bildungs- und Gleichstellungspolitik aktiv.

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Quelle:
Wir Frauen, 35. Jahrgang, Sommer 2/2016, Seite 10-11
Herausgeberin: Wir Frauen - Verein zur Förderung von Frauenpublizistik e.V.
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E-Mail: info@wirfrauen.de
Internet: www.wirfrauen.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2016

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